aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Achtung! - Anarchisten und Agitatoren!

Christel Gewitzsch

1890 hatte der Reichstag das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ – kurz: Sozialistengesetz - nicht verlängert. Innenminister und nachgeordnete Behörden betrachteten dennoch das Treiben der „vaterlandslosen Gesellen“ in der Sozialdemokratischen Partei mit Misstrauen. Partei- und Gewerkschaftsmitglieder konnten aus der Illegalität heraustreten, standen aber weiterhin unter stetiger Beobachtung.

Im Amt Bork legte Amtmann Busch Im November 1895 eine neue Akte über staatsgefährliche Bestrebungen, Sozialdemokratie, Anarchie, Spionage und dergl[eichen][1] an. Anlass dafür war ein Schreiben des Münsterschen Regierungspräsidenten Hermann Schwarzenberg, mit den Zusätzen Eigenhändig! Geheim! versehen, wie ein Großteil der Briefe in dieser Akte. In dem Schreiben des Regierungspräsidenten ging es um die Ankündigung eines Kongresses in der Zeitschrift „Der Sozialist“, auf dem den nach verschiedenen Richtungen auseinandergehenden Anhängern des Anarchismus die Nothwendigkeit einer gemeinsamen Propaganda klargemacht werden sollte. Nur hatte das Blatt weder den Ort noch die Art und Weise der Abhaltung des Kongresses mitgeteilt. Sollte irgendwo eine Anmeldung stattfinden, so Schwarzenberg, wäre diese zu versagen, da unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung vorläge. Sollte versucht werden, die Tagung heimlich abzuhalten, würde dafür Sorge zu tragen sein, daß er unmittelbar nach Zusammentritt aufgelöst wird und daß alle Theilnehmer behufs strafrechtlicher Verfolgung festgestellt werden.

Die Landräte sollten die Ortsbehörden in diesem Sinne beauftragen, ihnen aber ausdrücklich den streng geheimen Charakter dieser Verfügung nahelegen.

Zeitverhältnisse

Was waren das für gegenwärtige Zeitverhältnisse? Christopher Clark nennt sie in seinem Buch über Wilhelm II.[2]: Die nervösen Neunziger. Der ehrgeizige junge Kaiser hatte sich des dominanten Kanzlers Bismarck entledigt und war stark darauf bedacht, die Politik in die eigenen Hände zu nehmen. Die Kräfteverhältnisse im Reichstag hatten sich, auch durch den Wahlerfolg der Sozialdemokraten von 1890, so verschoben, dass bei Gesetzesvorlagen um die Zustimmung des Zentrums gebuhlt werden musste, was die Gefahr in sich barg, die Konservativen und Liberalen vor den Kopf zu stoßen. Der Kaiser, wankelmütig und ungeschickt in seiner Kommunikation mit dem Reichskanzler Leo von Caprivi und dem preußischen Ministerpräsidenten Botho von Eulenburg provozierte mehrere Rücktrittsgesuche, bis 1894 beide ihre Ämter verließen. Kurz vorher erhielt Caprivi noch den Auftrag, Gesetze vorzubereiten, die dem Staat neue Mittel für die Unterdrückung der Sozialdemokratie verschaffen würden.[3]

Der „Vorwärts“, das Zentralorgan der SPD, konnte die erste Meldung zu diesem Plan, die über die „National-Zeitung“ verbreitet worden war, nicht glauben. Man nahm an, daß bei der „Nationalen-Zeitung“ der Wunsch der Vater des Gedankens war.[4] Das war ein Irrtum. Im November stand die sogenannte Umsturzvorlage auf der Tagesordnung des Bundesrats. Veröffentlich wurde sie noch nicht, dass sollte erst bei der Übergabe an den Reichstag geschehen. Im Mai 1895 fiel die Gesetzesvorlage im Reichstag durch.

Als Ersatz plante die Regierung, sich u.a. über die Vereinsgesetzgebung Zugriffsmöglichkeiten zu verschaffen. Die Partei, deren Unterorganisationen und die Gewerkschaften standen weiterhin unter strenger Beobachtung. Gesteigerte Aufmerksamkeit wurde auch von den Ortspolizeibehörden gefordert.  

So sollten sie, z.B. anlässlich der Mobilmachungs-Vorarbeiten 1896, Verzeichnisse mit den Namen der Sozialdemokraten in zweifacher Ausführung vorlegen. Vermerke in den Aushebungslisten, soweit sie nicht in leicht zu beseitigenden, für den Uneingeweihten unverfänglichen Bleistiftstrichen bestehen,[5] waren nicht erwünscht.

Anfang 1897 warnte der Regierungspräsidenten vor einem Flugblatt der Dortmunder Sozialdemokraten, das mit den Worten Männer und Frauen des arbeitenden Volkes! begann und mit Hoch die Sozialdemokratie, hoch das Proletariat! endete. Man glaubte zu wissen, dass es tausendfach verteilt werden und der Förderung der Agitation für das westliche Westfalen dienen sollte. Beim Auftauchen des Flugblattes hatten dies die Polizeibehörden sofort zu melden und den Verteiler festzustellen, damit er unter Umständen wegen Verstoßes gegen das Pressgesetz bestraft werden konnte.

Zur gleichen Zeit wurde in Hamburg ein „Verband der Eisenbahner Deutschlands“ gegründet. Der Regierungspräsident sorgte sich wieder sehr und schrieb: Die Gründung dieses Verbandes hat sich unter Umständen vollzogen, welche erkennen lassen, daß diese Organisation ein Werk sozialdemokratischer Agitation ist, unter sozialdemokratischem Einfluß steht und der sozialdemokratischen Partei zur Förderung ihrer staats- und ordnungsfeindlichen Bestrebungen dienen soll. Die Eisenbahnverwaltung zeigte großes Interesse daran, über die Aktivitäten dieses Verbandes auf dem Laufenden zu sein. Dabei sollten die Polizeibehörden helfen und ihr jede mögliche Unterstützung gewähren [...] und besonders über die Betheiligung von Eisenbahnbediensteten vertrauliche Mittheilung machen.

Ein besonderes Jahr

Besonders nervös zeigte sich das Jahrzehnt im Jahr 1898. Der 1. Mai, seit 1890 von der Arbeiterbewegung als Kampftag für eine Verbesserung der Löhne, der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen, aber auch für politische Themen, wie die Bekämpfung des Dreiklassenwahlrechts genutzt, fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Es wurde eine starke Betheilung der Arbeiterschaft an der sozialdemokratischen Maifeier befürchtet, deshalb erinnerte die Regierung noch einmal an schon früher erlassene Vorschriften.

 

Mehr Kopfschmerzen bereiteten dem Regierungspräsidenten die Ergebnisse der Reichstagswahl von 1898[6]. Die Sozialdemokraten hatten mit 27,2 % den höchsten Stimmenanteil vor dem Zentrum mit 18,8 %, das bedeutete einen Zuwachs von 3,9 % im Vergleich zu den Wahlen 1893. Wegen der Wahlkreiseinteilung erhielt die SPD aber nur 56 Sitze, während das Zentrum mit 102 Sitzen die größte Fraktion bildete.

Die Sorgen bezogen sich darauf, daß die sozialdemokratische Agitation auch in Bezirken größere Erfolge zu erzielen vermocht hat, in welchen die Sozialdemokratie bisher entweder keine oder doch nur eine geringe Anhängerschaft zu verzeichnen gehabt hat. Auch wenn bei diesen Wahlen in allen vier Wahlkreisen des Regierungsbezirks Münster Vertreter des Zentrums gewählt worden waren, sollte die Entwicklung genauer unter die Lupe genommen werden. Der Regierungspräsident erwartete in den Halbjahresberichten Auskunft darüber, wie sich die sozialdemokratische Bewegung in den einzelnen Kreisen des Regierungs-Bezirks thatsächlich gestaltet hat, andererseits, welche besonderen Verhältnisse sozialer oder sonstiger Art etwa zum Anwachsen der Sozialdemokratie Anlaß gegeben haben. Besonders interessierte ihn das Anwachsen der Sozialdemokratie auf dem platten Lande, wo man am wenigsten mit Erfolgen gerechnet hatte.

Amtmann Busch lieferte beruhigende Nachrichten nach Münster. In Bork und Selm hätten sich keine sozialdemokratische Bewegung ... bemerkbar gemacht. In Altlünen waren vereinzelte sozialdemokratische Flugblätter ganz gewöhnlichen Schlages aufgetaucht, die aber ganz und gar unbeachtet geblieben sind, so daß es mir, obschon ich mich s. Zt. gleich aus eigenem Antriebe dahin bemüht habe, nicht einmal gelungen ist, eines Exemplares habhaft zu werden. Busch meinte, dass in dem ganzen Amtsbezirk nur ein einziger zielbewußter Genosse vorhanden sei, ein Ziseleur bei der Eisenhütte Westfalia, der aber beim nächsten Umzugstermin bereits wieder von Westfalia verziehen wird, weil es ihm dann dort an einer Wohnung fehlt.

Bei den Wahlen, so Busch, seien fünf Stimmzettel für Sozialdemokraten abgegeben worden, wobei in Selm sich einer den Scherz erlaubt hatte, für August Bebel zu stimmen und ein weiterer Witzbold dem unbeliebten Lehrer Heitjans seine Stimme gegeben hat. Markig beendete Busch sein Schreiben mit der Versicherung: Hier an der Grenze wird gut Wacht gehalten gegen den Einzug der rothen Fahne.   

Nach all den in den Augen der Regierenden bedrohlichen Meldungen kam noch eine weitere hinzu. Am 10. September 1898 war die österreichische Kaiserin Elisabeth – die populäre Sisi/Sissi auf der Promenade des Genfer Sees einem Attentat zum Opfer gefallen. Der Täter, der italienische Arbeiter Luigi Lucceni, wollte dies für die Sache des Anarchismus getan haben, womit er den in der Schweiz lebenden, hauptsächlich italienischen Anhängern dieser Bewegung keinen Gefallen tat. Sie wurden massenhaft ausgewiesen.

Im Amt Bork trafen lange Listen mit über hundert Namen der aus der Schweiz ausgewiesenen ausländischen Anarchisten mit den dazugehörenden Steckbriefen ein. Abdrücke für die Ortspolizeibehörden und die Gendarmen lagen bei, denn sie sollten ihre ganze Wachsamkeit auf die Genannten richten und mitteilen, wenn einer oder eine von ihnen irgendwo erschien.

Amtmann Busch meldete im Dezember, dass sich in seinem Bezirk keine anarchistisch gesinnten Personen aufhielten.

Erneute Aufregung

Die Akte über die staatsgefährlichen Bestrebungen wurde 1909 geschlossen. Drei Jahre vorher setzte - nach ein paar Jahren mit nur geringer Korrespondenz - noch einmal eine Phase erhöhter Aktivitäten ein. Der Erste Staatsanwalt in Münster wandte sich am 11. Januar 1906 an die Ortsbehörden. Seines Wissens plante die SPD für den 14. des Monats, oder auch an weiteren Tagen, in demonstrativer Absicht eine massenhafte Verbreitung von Flugblättern in allen Teilen des Reiches. Er war sich sicher, daß der Inhalt der Flugblätter in zahlreichen Fällen gegen Strafgesetze verstoßen werde. Die agitatorischen Zwecke dieser Kundgebung und die Maßlosigkeit der sozialdemokratischen Presse nannte er als Grund für seinen Verdacht. Deshalb forderte er eine nachdrückliche Bekämpfung strafbarer Ausschreitungen, besonders aber eine energische Durchführung der erforderlichen Beschlagnahmen. Jedes beschlagnahmte Flugblatt sollte ihm sofort – wenn möglich in mehreren Exemplaren - durch besonderen Boten zugeschickt werden. Falls er am Sonntag nicht in seinem Arbeitszimmer sei, könne man ihn jeder Zeit in seiner Privatwohnung, Hauptplatz 17, aufsuchen. Erst zum Schluss gab er zu bedenken, dass für eine Beschlagnahmung bestimmte Voraussetzungen vorliegen müssten. Mit der Mahnung: Strengste Geheimhaltung wird zur unbedingten Pflicht gemacht, beendete er sein Schreiben.

Die nächste Gefahr durch die Sozialdemokratie dräute schon ein paar Tage später, vom 20. bis zum 22. Januar. Von der sozialistischen Internationale war der 21. Januar als Gedenktag für die Opfer des "Blutsonntags" von St. Petersburg[7] vorgeschlagen worden. Dort war es ein Jahr zuvor anlässlich eines Generalstreiks zu Zusammenstößen zwischen Militär und Demonstranten gekommen. Gardetruppen schossen auf die Streikenden. Es gab mehr als tausend Tote und Verletzte. Die Sozialdemokraten stellten diesen Gedenktag in den Dienst des Protestes gegen das Dreiklassenwahlrecht.

Landrat Graf von Westphalen wollte über wichtige Ereignisse an diesen Tagen sofort telegraphisch unterrichtet werden. Einen ausführlichen schriftlichen Bericht erwartete er spätestens am Morgen des 23. Sichergestellt wurde die schnellstmögliche Information dadurch, dass die Telegrafen- und Telefonämter den ganzen Tag und wenn nötig bis in die Nacht hinein für die Polizeibehörden geöffnet blieben.

Nach diesem Wochenende rechneten die Behörden mit weiteren Demonstrationen. Die Amtmänner sollten weiterhin schnell reagieren und berichten. Für die Telegrafen- und Telefonämter wurden weitere Überstunden angesetzt. Eine Randnotiz von Amtmann Busch hieß: Nichts passirt!

Ende März erschienen dem Regierungspräsidenten Alfred Gescher die an auffälliger Stelle platzierten Hinweise des „Vorwärts“ und des „Volksblatt“ auf die Maifeier besonders verdächtig. Da war etwas im Busch, vermutete er. Die Gestaltung der Veranstaltungen schien den örtlichen Parteigliederungen überlassen zu sein, so dass unklar war, worauf man sich einzustellen hatte. Die Anweisungen lauteten, die bisherigen Anordnungen zu befolgen, die Kommunikationswege offen zu halten und öffentliche Aufzüge, Umzüge und Versammlungen zu zerstreuen, bzw. nicht zu genehmigen.

Dies wiederholte Gescher Anfang August. Der 31. August, der Todestag Ferdinand Lassalles, stand bevor und sollte als Anlass für erneute Proteste gegen das preußische Wahlrecht genutzt werden. Gescher sorgte für die weitere Verbreitung des dazu gehörenden Aufrufs: „Noch ein Monat“ – so heißt es in einer Kundgebung – „trennt uns vom Lassalletage. Wie wir den 21. Januar und den 18. März, die Tage revolutionärer Erinnerung, wie wir den 1. Mai, den volkserwählten Feiertag, zur Protestdemonstration gegen das Wahlunrecht, so müssen wir, und dahin geht unser Vorschlag, den 31. August, den Gedenktage unseres großen Vorkämpfers, zu einer Massenaktion für das Volkswahlrecht ausnutzen. Der 31. August muß die vierte Etappe auf dem Wege zum allgemeinen Wahlrecht in Preußen werden, würdig, ihrer Vorgänger vom Januar, März und Mai. Und wenn, was wahrscheinlich ist, für diese Aktion ein Sonntag besser geeignet erscheint, als der auf einen Wochentag fallende Todestag Lassalle’s nun dann nehmen wir zu unserer Demonstration den 2. September, den Tag, welcher unseren Hurrah-Patrioten dem Gedächtnis der Reichsgründung gewidmet ist. Wenn die Patent-Deutschen ihr „Deutschland über Alles“ erklingen lassen, dann erinnern wir das Proletariat daran, wie unsäglich schlecht es um seine Rechte in dem größten, dem führenden Bundesstaat des Reiches bestellt ist?“

Amtmann Busch legt das Schreiben am 3. September 1906 zu den Akten und vermerkte wieder: nichts passiert.

Später forderte man von ihm einen ausführlicheren Bericht. 1909 sollte er die im Amt Bork sich aufhaltenden Aktivisten in drei Gefahrengruppen einteilen und angeben, welcher politischen Richtung sie angehörten. Er nennt drei Gewerkschafter, bezeichnet drei Bergleute aus Nordlünen als gefährlich und zwei andere Männer stuft er als minder gefährlich ein. Später schreibt er von 41 Sozialdemokraten in seinem Bezirk und ergänzt: Gegen das Verhalten der Sozial-Demokraten läßt sich bisher nichts sagen.

Das war dem Landrat zu knapp, weil er selbst von Münster zu einer ausführlichen Darstellung aufgefordert worden war. Der Amtmann schrieb brav: Zurück mit dem Berichte, daß hier bisher sozialdemokratische Bestrebungen zur Förderung des Arbeiterbildungswesens nicht in Erscheinung getreten sind, daß ferner eine Tätigkeit des sozialdemokratischen Kreisvereins für den Wahlkreis Lüdinghausen-Beckum-Warendorf bisher nicht beobachtet worden ist und daß endlich auch von dem Streite über die gewerkschaftliche Organisationsform zwischen den christlichen Gewerkschaften M. Gladbacher Richtung und den rein konfessionellen Fachabteilungen der katholischen Arbeiter-Vereins Berliner Richtung nichts bemerkt worden ist. Fachabteilungen der vorerwähnten Art bestehen hier noch nicht.

Ein „Nichts passiert“ hätte auch genügt.

1. September 2021
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[1] Und alle folgenden Zitate, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 408.
[2] Christopher Clark, Wilhelm II., Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S. 81.
[3] Clark, S. 101.
[4] Vorwärts – Berliner Volksblatt, Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschland, 11. Jahrgang, Nr. 157, 9. Juli 1894, S. 2, http://fes.imageware.de/fes/web/
[5] Stadtarchiv Selm, AB-1 – 567.
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagwahl_1898.
[7] http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/ - Digitale Bibliothek der Friedrich-Ebert- Stiftung.


 
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