aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Acta Secreta - 1896-1911 

Christel Gewitzsch

Eigenhändig! – Vertraulich! – Geheim! [1] Eine oder mehrere dieser Anmerkungen finden sich auf den meisten Schriftstücken der Acta Secreta des Selmer Stadtarchiv. Vereinzelt tauchen Briefe mit diesem Zusatz auch in anderen Akten auf, aber um 1896 scheinen sich diese gehäuft zu haben und es wurde eine eigene Akte angelegt. Bei den meisten dieser Briefe begnügte sich Amtmann Busch in Bork mit einem Eingangsvermerk und dem Hinweis „Zu den Akten“.  

Wenn der landwirtschaftliche und wissenschaftliche Attaché der US-Botschaft Dr. Charles Wardell Stiles unterwegs war, um im amerikanischen Interesse Material über Trichinen zu sammeln; wenn ein medizinisches Privatinstitut in Paris mit einer neuen Methode Nervenkranke heilen wollte; wenn japanische Offiziere, Militäringenieure und -ärzte sich angeblich zu Studienzwecken im Staatsgebiet umsahen – immer dann hatten Berlin und Münster das Interesse, diese Aktivitäten unter Kontrolle zu halten, aber der Amtsbezirk Bork fühlte sich nicht im Fokus dieser Umherreisenden.  

Geheimnisse bei den Aushebungsgeschäften

Manchmal waren allerdings auch die Ortsbehörden in der Provinz betroffen. Eine ausführliche Anleitung, wie die bevorstehenden Aushebungsgeschäfte für die künftigen Soldaten zu organisieren seien, musste auch fern ab von den Zentren befolgt werden.  

Warum dieses Schreiben als geheimes Schriftstück zu behandeln war, wird zum Schluss erklärt. Erstens sollte wohl nicht publik werden, dass dem Vorsitzenden vor Beginn der Prozedur in zweifacher Ausfertigung ein Verzeichnis der örtlichen Sozialdemokraten übergeben werden musste. Vermerke in den Listen – soweit sie nicht in leicht zu beseitigenden, für den Uneingeweihten unverfänglichen Bleistiftstrichen bestehen, sind als unstatthaft zu vermeiden.

Und zweitens ordnete man an, polnischen Männern, falls sie sich nicht der Deutschen Geschäftssprache bedienen und in ihr verständigen wollen, in geeigneter Weise zu bedeuten, daß sie dann wegen der erforderlich werdenden Zuziehung eines Dollmetschers an den einzelnen Tagen erst zu Schluß des Geschäfts vorgenommen werden könnten. 

Geheimnisse beim Nachspüren des Mädchenhandels

Auch das Problem des internationalen Mädchenhandels kam über den Dienstweg vom Minister des Innern auf den Schreibtisch des Amtmanns. Die eigentlich ins Auge gefassten Empfänger waren allerdings die Beamten der Grenzkreise. Dort, so hatte es sich in der letzten Zeit erwiesen, beteiligten sich in erheblichem Maße die Eingesessenen an diesem Handel. Gefährdet waren besonders Frauen und Mädchen, die sich als Kellnerinnen für Animierkneipen anwerben ließen.  

Auch in diesem Fall sollten die Erkundigungen ganz vorsichtig angegangen werden. Das Ministerium schrieb an den Regierungspräsidenten: Ich ersuche Sie, die Verhältnisse Ihres Bezirks nach den vorbezeichneten Richtungen  in einer nach außen nicht hervortretenden Weise einer näheren Prüfung zu unterziehen, und mir sodann – binnen sechs Wochen – Bericht zu erstatten, auch hierbei eventuelle Vorschläge zur Bekämpfung der beregten Mißstände zu machen.

Amtmann Busch in Bork, zur Berichterstattung verpflichtet, konnte zwar nichts zum eigentlichen Thema beitragen, wollte aber seine Meinung dazu loswerden und bezeichnete schlechte Schriften u. schlechtes Theater als Grundübel für diese Entwicklung.  

Geheimnisse um Anwerbungen

Der Drang, Preußen zu verlassen und weit weg von der Heimat ein neues Leben zu beginnen, hatte sich vor 1900 schon deutlich abgeschwächt. Trotzdem beobachteten die Behörden weiterhin alle Aktivitäten mit großer Aufmerksamkeit, die von sogenannten Einwanderungsagenten im Staatsgebiet entfaltet wurden.  

Aufgrund des Gesetzes über das Auswanderungswesen von 1897[2] benötigten Unternehmer für die Beförderung von Auswanderer nach außerdeutschen Ländern eine Erlaubnis. Ausländischen Personen oder Gesellschaften wurde diese nur unter bestimmten Bedingungen erteilt. Die von ihnen angestellten Agenten mussten allerdings Angehörige des Deutschen Reichs sein, ebenfalls eine Erlaubnis beantragen und eine Sicherheit von mindestens 1.500 Mark hinterlegen.  

Mit Auswanderungswilligen durften Verträge zur Beförderung nur geschlossen werden, wenn sie nicht mehr der Wehrpflicht unterlagen, wenn ihnen keine Festnahme von einer Gerichts- oder Polizeibehörde bevorstanden und wenn sie nicht von fremden Regierungen oder von Kolonisationsgesellschaften Bezahlungen oder Vorschüsse empfangen hatten.  

Die in der Acta Secreta angeführten Versuche, Werbung für die Auswanderung zu machen, entsprachen diesen Vorschriften nicht. Um die illegalen Agenten zu überführen, empfahl das Ministerium für Handel und Gewerbe ein geheimes Vorgehen, damit Beweise gesichert werden konnten.  

1898 erhielten die Ämter die Mitteilung, daß ein in den westlichen Staaten von Nord-Amerika wirkender Einwanderungs-Agent im Begriffe ist, in nächster Zeit einen Agenten nach Danzig und dessen Umgebung abzusenden, um daselbst die landwirthschaftliche Bevölkerung zur Auswanderung aufzufordern.
Um einer unerlaubten Propaganda für die Auswanderung nach Nord-Amerika vorzubeugen, wird es sich empfehlen, falls sich eine Persönlichkeit in dem dortigen Bezirke bemerkbar machen sollte, sie in ganz unauffälliger Weise beobachten zu lassen. Von einer Warnung vor dem Unternehmen in der Presse ist ganz abzusehen, ebenso ist Vorsorge zu treffen, daß nach Außen hin die Quelle dieser Mittheilung nicht bekannt wird.

1901 versuchte die chilenische Regierung mit Hilfe des von ihr beauftragten Agenten Ramon N. de la Fuente im Laufe der nächsten acht Jahre 1000 Colonistenfamilien nach Chile zu bringen. Die eine Hälfte derselben soll auf Feuerland und den in der Nähe derselben befindlichen Inseln, die andere Hälfte in Patagonien, möglichst nahe an Punta Arena, angesiedelt werden. Fuentes Auftrag lautete, in ganz Nordeuropa ausreisewillige Familien zu suchen. Die Bezahlung für seine Bemühungen konnte sich sehen lassen. Für jede ins Land gebrachte Familie wurde ihm das Eigenthum von 150 ha in der Ebene oder 300 ha in bergigem Terrain zugesichert.  

Im selben Jahr warnte der Vertreter des kaiserlich deutschen Konsulats im brasilianischen Bundesstaat Sᾶo Paulo vor eine[r] gesteigerte[n] Agitation, denn ein neues Gesetz von 1899 gestattete dort allen Schifffahrts-Gesellschaften, deren Schiffe den von der Regierung gestellten Anforderungen in Bezug auf Schnelligkeit und sanitäre Beschaffenheit entsprechen, die Einführung von Einwanderern gegen staatliche Subvention. Wegen eines großen Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft waren für dieses Jahr Mittel für 50.000 Einwanderer im Etat vorgesehen. Die Subventionen fielen für die angeworbenen Nationalitäten verschieden aus, aber jedes Familienmitglied ab dem 3. Lebensjahr erhielt einen nach Alter gestaffelten Betrag.  

Obwohl in den früheren Jahrzehnten auch aus dem Amt Bork viele Leute ausgewandert waren, fielen dem Amtmann in dieser Zeit weder die Agenten noch eine gestiegene Zahl von Auswanderern auf. Zwar warnte der Oberpräsident vor einer Ueberfüllung des Arbeitsmarktes ... durch den Rückgang der industriellen Thätigkeit und gab an, daß eine Vermehrung der Arbeitsgelegenheiten in nächster Zeit nicht zu erwarten sei, doch brauchte die Landwirtschaft hier weiterhin zahlreiche Arbeitskräfte. Den Kreis- und Stadtvertretungen legte der Oberpräsident außerdem nahe, die Vergebung von Wege-, Pflasterungs- und Erdarbeiten an Unternehmer an die Bedingung zu knüpfen, daß von diesen nur inländische Arbeiter verwendet werden. Es steht zu erwarten, daß dahingehenden Anregungen bereitwillig Folge gegeben werden wird, weil gerade die Kommunalverwaltungen insofern ein besonderes Interesse daran haben, der bestehenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, als eine erhebliche Steigerung der Armenlasten in nächster Zeit zu befürchten ist, wenn nicht der vielfach bestehenden Neigung der Unternehmen, ausländische Arbeiter den einheimischen gegenüber zu begünstigen, wirksam entgegen getreten wird.

Geheimnisse bezüglich der Hoheiten

Immer, wenn kaiserliche und königliche Hoheiten betroffen waren, lag es im Interesse der Behörden, die Angelegenheit nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Als in Minden 1901 ein Standbild des Großen Kurfürsten in Gegenwart des Kronprinzen enthüllt werden sollte, informierte der dortige Regierungspräsident seine Kollegen in der Provinz und forderte sie auf, die im dortigen Bezirke wohnenden Anarchisten in der nächsten Zeit einer besonders strengen Ueberwachung unterwerfen zu lassen.

Um eine verschärfte, unauffällige Überwachung der sich in dortigem Bezirke aufhaltenden Ausländer, der etwa vorhandenen Anarchisten, sowie solcher Personen, die der Spionage verdächtig sind, ging es auch 1909, als Seine Majestät der Kaiser und König und voraussichtlich auch Ihre Majestät die Kaiserin und Königin planten, der Jubelfeier der 300 jährigen Zugehörigkeit der Grafschaft Mark zu Brandenburg-Preußen auf der Hohensyburg im Kreise Hörde beizuwohnen.

Falls irgendwo beobachtet wurde, daß der eine oder Andere von ihnen sich nach auswärts – möglicherweise nach Hohensyburg oder Umgebung – begeben wollte, musste sofort ein geeigneter Polizeibeamter in Zivilkleidung – tunlichst ein Kriminalbeamter – zur ständigen Überwachung nachgesandt werden. Der Verdächtige durfte nicht aus dem Auge gelassen werden. Der Beamten hatte ihm in unauffälliger Weise überall hin zu folgen und wenn es nötig erschien, ihn zu verhaften. Die Amtmänner bekamen den Auftrag, jede Verdacht erregende Wahrnehmung, die mit dem bevorstehenden Besuchs Ihrer Majestäten in Verbindung gebracht werden könnte, sofort telegraphisch zu melden.  

Der kaiserliche Besuch auf der Hohensyburg verlief dann ohne besondere Vorkommnisse. In der Presse war über diese Feier zu lesen: ‚Zu Füßen der Heldengestalt Wilhelms des Großen, des Wiederherstellers der Macht und Einigkeit Deutschlands‘, konnte der kaiserliche Enkel gemeinsam mit seiner Gemahlin die Huldigung der 5000 Ehrengäste aus der ehemaligen Grafschaft Mark entgegennehmen: ‚Fest wie ihre Eichen im Sturmgebraus / stehen die Märker zum Zollernhaus‘.[3]
März 2019
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[1]  alle Zitate aus: StA Selm, AB-1 – 567.
[2] https://de.wikisource.org/wiki/Gesetz_über_das_Auswanderungswesen.
[3] zitiert nach: Luntowski, Högl, Schilp, Reimann, Geschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1994, S. 341.

 
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