aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Arbeitskampf der Bauarbeiter

Christel Gewitzsch

Es brodelte im Baugewerbe. Regierungspräsident Alfred Gescher warnte im Februar 1906 zum ersten Mal. Verschiedene Wahrnehmungen der letzten Zeit (1) ließen ihn annehmen, dass es im Frühjahr oder Sommer zu Streitigkeiten oder sogar zu einem Streik kommen könnte. Die Landräte und über sie die Ortsbehörden ersuchte er, ihm alle Beobachtungen und Ereignisse, die darauf hindeuten konnten, schleunigst eingehend zu berichten.

Die nächste Meldung von ihm kam im Mai 1907. Darin gab er die Vermutungen der Tagespresse weiter, die 1908 mit einem ernsten Kampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer im Baugewerbe rechnete. In einem zweiten Schreiben dazu präzisierte er seine Angabe dahingehend, dass im nächsten Frühjahr, wenn die geltenden Tarifverträge ausliefen, die Kämpfe zu erwarten seien.

Amtmann Busch sah in seinem Bezirk keinerlei Anzeichen für eine anstehende Auseinandersetzung. Er meldete dem Landrat, nichts bemerkt zu haben. Die nächste Warnung legte er zu den Akten, da Friede herrsche. 1905 und 1906 waren zwar bei ihm Anmeldungen über öffentliche Versammlungen der christlichen Bauhandwerker (offizieller Name: Zentralverband christlicher Bauhandwerker und Bauhilfsarbeiter Deutschlands) eingegangen, doch Tagesordnungspunkte wie „Der Nutzen des Tarifs – Die Pflichten eines Mitglieds – Diskussion“ erschienen ihm nicht bedrohlich; ebenso wenig eine eingereichte Liste der Mitglieder und des neu gewählten Vorstandes mit zwölf Namensnennungen.

Anfang März 1908 waren die Tarifverhandlungen im rheinisch-westfälischen Baugewerbe abgebrochen worden. Dadurch, so wieder der Regierungspräsident, rückt die Möglichkeit eines Streiks oder einer Aussperrung im Baugewerbe in greifbare Nähe, falls nicht noch die für Ende März in Aussicht genommenen erneuten Verhandlungen zu einer Einigung führen. Er ordnete an, schon jetzt die etwa erforderlichen Vorkehrungen für den Fall des Streiks zu treffen. Und natürlich über alle wesentlichen Vorkommnisse sofort Bericht zu erstatten.

Streik im Amtsbezirk

Doch im Amtsbezirk Bork merkte man von alledem noch nichts. Erst ein Jahr später, am 24. Mai 1909, schrieb Amtmann Busch an den Landrat, daß seit 8 Tagen 10 Maurer u. 3 Bauhülfsarbeiter der Baufirma A. Kohl in Selm in den Ausstand getreten sind. Am 13. Juni reichten elf Maurer und zwei Arbeiter der Firma Gerhard Kortmann in Cappenberg ihre Kündigung ein und zwei Tage später folgten 42 weitere Beschäftigte aus demselben Betrieb ihren Kollegen. Der Bauunternehmer Stratmann meldete dem Amtmann dreizehn Kündigungen. Kortmann ergänzte in seiner Berichterstattung über den zweiten Kündigungsschub sein Schreiben mit dem Hinweis: Die mit x bezeichneten Maurer und Arbeiter nahmen ihre Kündigung zurück. 33 Namen waren mit diesem Kreuz versehen.

Pressemeldungen

Die in Dortmund erscheinende Zeitung „Tremonia“ griff in ihrer Ausgabe vom 22. Juni die Ereignisse in Bork und Selm auf. Sie schrieb:
Aus Arbeiterkreisen wird uns geschrieben: Der Tarifvertrag für das Bauhandwerk hatte am 1. April 09 sein Ende erreicht. Die Arbeiter haben schon im Januar den Arbeitgebern ihre Wünsche unterbreitet und in einem Begleitschreiben bemerkt, daß sie zu jeder Zeit bereit seien, zu verhandeln. Als der Vertrag abgelaufen war, hatten die Unternehmer es noch nicht für nötig gehalten, Verhandlungen anzubahnen. Erst nachdem der Unternehmer Kohl - Selm zwei Kollegen gemaßregelt hatte, die übrigen sich mit ihren Kollegen solidarisch erklärten und die Arbeit niederlegten, erst nachdem ein anderer Unternehmer mit den Vertretern der Organisation einen neuen Vertrag abgeschlossen hatte, aber schon nach 14 Tagen tarifbrüchig wurde und auch hier sämtliche Maurer und Arbeiter die Arbeit niederlegten, wurde von Seiten des Arbeitgeberbundes am 26. Mai eine Verhandlung anberaumt. Das konnte man aber nicht „verhandeln“ nennen, denn die Arbeitgeber diktierten: Der Lohn wird nicht erhöht und der Tarif endet am 31. März 1910. Die Vertreter der Arbeiter konnten das nicht annehmen.(2)

In einer anschließenden Meldung informierte dieselbe Zeitung über die Situation in Ahlen, wo die Maurer eine Lohnerhöhung von zwei Pfennig pro Stunde für 1909 und abermals für 1910 gefordert hatten. Rund 130 Bauarbeiter legten bei der Ablehnung ihrer Forderung die Arbeit nieder, rund 80 schlossen sich nicht an. Die Arbeitgeber fassten in der Situation den Beschluss, anstelle des bisherigen Tarifes für Maurer von 50 Pfennig pro Stunde nur noch 48 Pfennig zu zahlen. Die Zimmerleute in Ahlen beabsichtigten ebenfalls, in den Ausstand zu treten. Auch in Bork tauchte folgendes Einladungsschreiben an die Holzarbeiter auf:


Über den Streik in Selm und Bork berichteten auch die „Arbeiter-Zeitung“ und der „Vorwärts“. Befeuert hatte dieses Interesse an dem lokalen Ereignis eine Bekanntmachung des Amtmanns, davon später.

In der „Arbeiter-Zeitung“ stellt sich der Kampf wie folgt dar:
Bork. Hier befinden sich bekanntlich die Maurer und Bauarbeiter seit einigen Wochen in einer Lohnbewegung. Um den Erfolg dieser Bewegung zu vereiteln, hat sich nun anscheinend alles verbunden. Beim Unternehmer Kortmann, der die Arbeiten auf Zeche „Hermann“ ausführt, hatten ebenfalls die dort beschäftigten 50 Maurer gekündigt. Herr K. hat nun auf jeden Fall die Hülfe der Zechenverwaltung erfleht, denn der Betriebsführer Wiskot ließ nun die Maurer einzeln nach seinem Bureau kommen und erklärte jedem, wenn er nicht die Kündigung zurücknehme, würde er, solange er, W., auf der Zeche wäre, niemals dort wieder Beschäftigung erhalten. Leider hatte der Betriebsführer Erfolg, die Leute nahmen ihre Kündigung zurück.(3)

Der „Vorwärts“ schrieb unter anderem:
In wenigen Jahren werden im Kreis Lüdinghausen tausende Bergleute beschäftigt sein. Zur Zeit ist man an mehreren Stellen mit der Anlegung von Kohlenschächten beschäftigt. In Bork und Selm läßt die Zechenverwaltung Hermann Schächte abteufen.
Bei diesen Arbeiten sind Differenzen der Maurer, Bauhilfsarbeiter und Holzarbeiter ausgebrochen. Dem Streik haben sich auch die sonst an dem Orte beschäftigten Bauarbeiter angeschlossen. Nachdem nun das Unternehmertum und namentlich auch die Zechenverwaltung vergebens versucht haben, alle ihnen zu Gebote stehenden Gewaltmittel in dem Kampfe anzuwenden, entsteht den Unternehmern in dem natürlich ultramontanen Amtmann in Bork ein freiwilliger Helfershelfer.“
(4)

Der Amtmann wird aktiv

Als nach der ersten Kündigungswelle bei der Firma Kohl die anderen Bauunternehmer ihre Listen mit Kündigungen einreichten, wandte sich Busch erneut an den Landrat. Er wollte ab Montag, den 21. Juni, dem Tag, an dem die Wirksamkeit der Kündigungen begann, die Baustellen unter besonderen polizeilichen Schutz stellen. Da er davon ausging, dass den Unternehmern genügend Arbeitskräfte geblieben waren, um die Arbeiten fortzusetzen, bat er um die Abordnung von vier Gendarmen. Die sollten mit Unterstützung der Polizei-Sergeanten den Arbeitswilligen die Arbeitsaufnahme ermöglichen.

Damit handelte er im Sinne der Urteile von mehreren Gerichten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts mit der Zulässigkeit der Aufstellung von Streikposten befasst hatten. Nach der Gewerbeordnung von 1872 war es im Deutschen Reich Arbeitnehmern und Arbeitgebern erlaubt, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenzuschließen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu gründen. Gleichzeitig war es aber auch das gute Recht eines Jeden, diesen Zusammenschlüssen fernzubleiben. Im Paragrafen 152 waren sämtliche anders lautende Verbote aufgehoben worden. Der Paragraf 153 drohte aber all denen eine Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten an, die versuchten, durch Zwang, Drohungen, Ehrverletzungen etc. andere zur Teilnahme, bzw. Unterstützung jeglicher Art zu bewegen.

Dies würde geschehen, so die Entscheidung der Gerichte, wenn im Falle eines Arbeitskampfes Streikposten aufgestellt würden. Dabei sei es unerheblich, ob thatsächlich eine Belästigung Einzelner erfolgt ist, oder nicht. Das Postenstehen allein sei schon als grober Unfug zu verurteilen, weil die öffentliche Ordnung gestört würde; denn alle Passanten mussten damit rechnen, beobachtet, kontrolliert, angehalten und beeinflusst zu werden.

Sowohl das Justiz- wie auch das Handels- und Innenministerium sahen einen vielfältigen Missbrauch der o.g. Paragrafen und versuchten erneut (1890 war ein solcher Vorstoß im Reichstag gescheitert), eine Verschärfung der Paragrafen durchzusetzen. Mit einem umfangreichen Fragenkatalog wandten sie sich an die nachrangigen Behörden und betonten, keine allgemeinen theoretischen Erörterungen lesen zu wollen, sondern nur an konkreten, wenn möglich quantifizierten Erfahrungen interessiert zu sein.

Damit konnte Amtmann Busch damals nicht dienen, weil bis dahin in seinem Amtsbezirk keinerlei Arbeiter-Ausstände stattgefunden hatten. Aus früheren Erfahrungen bei den Streiks, so schrieb Busch weiter, gestatte ich mir aber zu bemerken, daß m. E. die bestehenden Strafbestimmungen zum Schutze der Arbeitgeber und der nicht streikenden Arbeiter sowie zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung recht wohl genügen. Persönlich stehe ich auch auf dem Standpunkte, daß ich irgend eine Aenderung der §§ 152 u. 153 der G.O. für recht bedenklich halten muß.

Öffentlichkeitsarbeit des Amtmanns

Nachdem er Gendarmen angefordert hatte, war Amtmann Busch frohgestimmt. Er hoffte, daß sich nach diesen Vorkehrungen die ganze Bewegung im Laufe der kommenden Woche legen wird, da sie nur mit großer Anstrengung im Gange erhalten [wird] durch die Deputierten Petri (christlicher Verband), Klein (Sozialdemokrat) und einen Maurer Hermann Müller in Selm, welcher von Warburg zugezogen ist. Trotzdem sprach er einen Tag später alle betroffenen Arbeiter mit einer zahlreich plakatierten Bekanntmachung an. Sie lautete:
Ich halte es für meine Pflicht, die Maurer, Bauhülfsarbeiter, Holzarbeiter u.s.w. vor unüberlegten Schritten zu warnen, da ich nach angestellten Beobachtungen, Rückfragen und Erörterungen die feste Ueberzeugung haben muß, daß die Arbeitnehmer ganz gewiß unterliegen werden und daher für manche Familie schlimme Tage ganz sicher bevorstehen, wenn mein guter Ratschlag in den Wind geschlagen wird
Ihr Arbeitnehmer von Bork und Selm!
Kein Eingesessener des Amtsbezirks wird zu behaupten wagen, daß ich es nicht immer gut mit den Arbeitern gemeint habe und so darf ich Euch nochmals bitten, laßt Euch nicht länger von Leuten, die es nicht gut meinen, sondern nur eigene Interessen verfolgen, betören. Hütete Euch besonders vor Ausschreitungen. Zum Schutze der Arbeitswilligen sind die weitgehendsten Vorkehrungen getroffen.

Mit diesem Appell geriet Busch in die regionale Presse. Sowohl die „Tremonia“, die „Arbeiter-Zeitung“ als auch der „Vorwärts“ druckten diese Bekanntmachung und kritisierten den Amtmann scharf.

Die „Tremonia“ schrieb: Hieraus kann man ersehen, daß der Herr Amtmann einseitig urteilt und nur für die Unternehmer Partei nimmt. Wenn der Herr Amtmann wirklich so arbeiterfreundlich wäre, hätte er in dem vierwöchentlichen Kampfe, der den Arbeitern aufgezwungen wurde, schon längst eine Verhandlung anbahnen können. Die Arbeiter wissen jetzt, was sie von dem Herren Amtmann zu erwarten haben.(5)

Die „Arbeiter-Zeitung“: Aus welchem Grunde es der Herr Amtmann für seine Pflicht hält, die Arbeiter zu warnen, wollen wir nicht untersuchen, Wir fragen aber: wie kommt der Herr dazu, von unüberlegten Schritten zu reden? Wo hat er seine „Beobachtungen, „Rückfragen“ und „Erörterungen“ gemacht oder dargestellt, wonach die Arbeiter „ganz gewiß unterliegen“ werden? Doch gewiß nicht bei den Arbeitern, sondern nur bei deren Gegner. Wenn es richtig ist, daß bisher keiner zu behaupten wagte, der Herr Amtmann meine es nicht gut mit den Arbeitern, so werden doch gerade diesen beim Lesen seiner Bekanntmachung jetzt Zweifel gekommen sein. Wer sind denn die die Leute, die es nicht gut mit den Arbeitern meinen, die nur eigene Interessen verfolgen? Es sind die Unternehmer. Aber diese scheint der Herr Amtmann nicht im Auge zu haben. Wir müssen deshalb schon bitten, etwas deutlicher zu werden. Besonders arbeiterfreundlich ist noch der Schlußsatz, daß zum Schutze der Arbeitswilligen die weitestgehenden Vorkehrungen getroffen sind. Dem Herrn Amtmann von Bork sind anscheinenden die Entwicklungen der letzten Jahre auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete gänzlich fremd geblieben, denn sonst müßte er doch auch wissen, daß ein Bauherr in Selm die bei ihm beschäftigten Arbeitswilligen mit Revolvern ausgerüstet hat, womit sich diese auch noch brüsteten. Einige Kugeln dieses Mordinstrumentes stehen dem Herrn Amtmann zu Diensten. Wir fragen: sind das vielleicht die „weitgehendsten Vorkehrungen“, die zum Schutze der Arbeitswilligen getroffen wurden? U.A.w.g.(6)

Auch der „Vorwärts“ erwähnt die Ausstattung der Arbeitswilligen mit Revolvern und fährt fort: Der Einfluß der modernen Arbeiterbewegung ist in den genannten Orten noch nicht sehr groß, um so mehr wird aber durch die Bekanntmachung dokumentiert, wie das Zentrum und seine Leute dort Arbeiterinteressen vertreten, wo sie zu Konzessionen an die Arbeiter durch die Verhältnisse noch nicht gezwungen sind und noch ziemlich uneingeschränkt herrschen.(7)

Das letzte Blatt der Akte enthält die Einladung zu einer Bürger- und Arbeiterversammlung.


Juni 2022
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1. Und folgende Zitate, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 620.
2. Tremonia, 34. Jahrg., Nr. 171, Dortmund, 22. Juni 1909
3. Arbeiter-Zeitung, Sozialdemokratisches Organ, Dortmund, 18. Jahrg., 23. Juni; Ausschnitt in StA Selm, AB-1 – 620.
4. Vorwärts, 24. Juni 1909, zitiert nach: Rita Weißenberg, Uns wurde nichts geschenkt, Selm 1985, S. 51.
5. Tremonia, ebenda.
6. Fettdruck im Original; Arbeiter-Zeitung, ebenda.
7. Vorwärts, ebenda. Ebenso über weitere Streiks auf der Selmer Zeche.



 
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