aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Arbeitsvorschriften für jugendliche Arbeiter

Christel Gewitzsch

Mal wieder musste das Landratsamt in Lüdinghausen im März 1856 eine zweite Erinnerung an den Borker Bürgermeister Foecker schicken. Foecker hatte es versäumt, über die Kontrolle des Einsatzes von jugendlichen Arbeitern in den Fabriken zu berichten. Erstaunlicherweise konnte er schon einen Tag später ein „Nicht vorhanden“ melden. Aber erst drei Monate danach wandte er sich an die Eisenhütte Westfalia in Altlünen, um Auskunft über die dort beschäftigten Jugendlichen zu bekommen.

Anfrage bei der Eisenhütte Westfalia

Foecker schrieb die sieben Rubriken auf, die von der Eisenhütte ausgefüllt werden sollten. Außerdem forderte er eine Bestätigung darüber, daß die Vorschriften des Gesetzes vom 16. Mai 1853 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken zur Ausführung gelangt sind, event. ist anzugeben, weshalb, beziehungsweise in wie weit dies noch nicht geschehen ist.[1] Westfalia beschäftigte am 1. Juli 1856 fünf jugendlichen Arbeiter über 14 Jahren. Unter 14 Jahren gab es niemanden. Die Frage, wie viele Arbeiter am 1. Juli 1853 unter 16 Jahren beschäftigt worden waren, wurde folgendermaßen beantwortet:
Wir beschäftigen in der Regel nur Arbeiter über 16 Jahren; allein in diesem Jahre haben wir uns in Folge der Theuerung veranlaßt gesehen, zur Erleichterung bedürftiger Eltern auch einige Arbeiter anzunehmen, die noch nicht das 16te Lebensjahr vollständig erreicht haben.
Die Bestimmungen des Gesetzes vom 16. Mai 1853 hinsichtlich der Arbeitszeit und der Feierstunden haben wir schon längst zur Geltung gebracht. Die Vorschrift des § 3 in betreff der Arbeitsbücher ist jedoch noch nicht zur Ausführung gelangt, da, wo viel wir wissen, in den Bürgermeistereien Lünen, Bork und Camen, wo unsere Arbeiter wohnen, noch keine Einleitungen dazu getroffen sind.

Anwendung des Gesetzes

Diese letzte Anmerkung veranlasste den Landratsamtsverwalter Rospatt in Lüdinghausen vom Amtmann zu fordern, sich um die Anschaffung der Arbeitsbücher bei der Westfalia zu kümmern. In dem Gesetz über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken von 1853, das auf dem Regulativ vom 9. März 1839 basierte, steht im Paragrafen 2: Vom 1. October 1853 ab dürfen junge Leute unter sechszehn Jahren bei den im §. 1. des Regulativs gedachten Anstalten [Fabrik, Berg-, Hütten- und Pochwerke*] nicht weiter beschäftigt werden, wenn ihr Vater oder Vormund dem Arbeitgeber nicht das im §. 3. erwähnte Arbeitsbuch einhändigt.

Das Arbeitsbuch musste vom Vater oder Vormund des Jugendlichen bei der Ortspolizeibehörde beantragt werden. Es enthielt Name, Geburtsjahr und –tag, Religion des Arbeiters; Name, Stand und Wohnort des Vaters; ein im Paragrafen 2 des Regulativs erwähntes Schulzeugnis;[2] Rubriken für die bestehenden Schulverhältnisse, Anfang und Beendigung des Arbeitsverhältnisses und für Revisionen. Vorweg war eine Zusammenstellung aller Bestimmungen für die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern abgedruckt. Der Arbeitergeber musste dieses Buch aufbewahren und es den Behörden jederzeit vorlegen können. Wurde das Arbeitsverhältnis beendet, ging es an den Vater zurück.

Die Bestimmungen über die Arbeitszeit und die Feierstunden, die in dem Antwortschreiben der Westfalia erwähnt werden, beziehen sich im Gesetz von 1853 nur auf Arbeiter bis zum 14. Lebensjahr. Die Regelung von 1839, dass Kinder ab dem zurückgelegten neunten Lebensjahr eingestellt werden durften, wurde aufgehoben. Ab 1853 mussten sie das zehnte, ab 1854 das elfte und ab 1855 das zwölfte Lebensjahr vollendet haben.

Für die noch nicht 16-jährigen schrieb das Regulativ eine maximale Arbeitszeit von zehn Stunden vor. Allerdings durfte die Ortspolizeibehörde eine vorübergehende Verlängerung dieser Arbeitszeit ... gestatten, wenn durch Naturereignisse oder Unglücksfälle der regelmäßige Geschäftsbetrieb in den genannten Anstalten unterbrochen und ein vermehrtes Arbeitsbedürfniß dadurch herbeigeführt worden ist.
Die Verlängerung darf täglich nur eine Stunde betragen und darf höchstens für die Dauer von vier Wochen gestattet werden.

Die Pausenregelung für diese Altersgruppe sah am Vor- und Nachmittag eine Viertelstunde und mittags eine ganze Stunde vor. Bei der Mittagspause musste es möglich sein, sich Bewegung an der frischen Luft zu verschaffen. Vor fünf Uhr morgens und nach neun Uhr abends durften die Jugendlichen nicht beschäftigt werden, ebenso wenig an Sonn- und Feiertagen.  

Die Regierung will es genauer wissen

Ein halbes Jahr nach diesen Nachbesserungen bei der Westfalia und den Ortspolizeibehörden äußerte sich die Regierung in Münster kritisch zu den eingegangenen Berichten. Sie hatte nicht den Eindruck, dass das Landratsamt, beziehungsweise die Ortsbehörden, die besagten Fabriken wirklich unter gründlicher und regelmäßiger Beobachtung hatten. Künftig wollte sie mehr wissen über die bauliche Beschaffenheit der Arbeitsstellen, die Einhaltung sittlicher Regeln, mögliche Gesundheitsbeeinträchtigungen, die Sicherstellung des Schulbesuchs und die vorschriftsmäßige Führung der Arbeitsbücher.

Hilgers, der das Landratsamt in Lüdinghausen inzwischen verwaltete, engagierte sich nicht übermäßig für diesen Wunsch der Regierung. Er informierte den Amtmann, schrieb aber nur von einer in Zukunft etwa nothwendig werdenden Berichterstattung über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter auf der Eisenhütte Westfalia. Und der Amtmann beauftragte die Eisenhütte erst einmal nur mit der halbjährlichen Anzeige der beschäftigten Arbeiter unter 16 Jahren. Von 1857 bis 1871 kamen von der Westfalia dazu nur Fehlanzeigen. Erst ab 1872 meldete das Amt Bork regelmäßig Zahlen von unter und über 14-jährigen Beschäftigten bei der Eisenhütte. Bis 1878 lag deren Zahl zwischen 10 und 20 Personen.

Wegen einer Anfrage der Regierung in Minden, die Arbeitszeiten und den Schulbesuch arbeitender Kinder in der dortigen Zigarettenfabrik betreffend, wurden auch die Ortsbehörden im Bezirk Münster zu genaueren Angaben aufgefordert. Dadurch erfahren wir, dass die Arbeitszeit auf der Eisenhütte Westfalia für jugendliche Arbeiter Anfang 1878 im Sommer von morgens 6 bis abends 6 und im Winter von 7 bis 6 ½ Uhr festgesetzt war. Am Vormittag gab es zwei 20-minütige Pausen, am Nachmittag eine. Die Mittagspause dauerte von zwölf bis ein Uhr. Die Pausenregelungen galten für alle Jahreszeiten. In der beigefügten Namensliste werden 13 Personen genannt, die aus Lünen, Oberaden, Wethmar, Horstmar und Recklinghausen kamen und als Former-, Eisenbauer-, Dreher-, Schlosser- oder Schreinerlehrling arbeiteten.

Neuregelungen

Am 1. Januar 1879 trat das Gesetz betreffend Abänderung der Gewerbeordnung. Vom 17. Juli 1878.[3] in Kraft. Amtmann Döpper fasste in einer Bekanntmachung die für ihn wichtigen Punkte zusammen und ließ in den Gemeinden an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen folgenden Text veröffentlichen:
Alle jugendlichen Arbeiter unter 21 Jahren, ohne Unterschied des Geschlechtes, bedürfen eines Arbeitsbuches.
Ob diese Arbeiter ausdrücklich als Gesellen, Gehülfen, Lehrlinge oder Fabrikarbeiter angenommen, oder thatsächlich als solche beschäftigt werden, ob sie in deren Behausung, in Werkstuben, Werkstätten oder in Fabriken arbeiten, ist unerheblich, alle müssen mit einem Arbeitsbuche auf Grund des § 107 des genannten Gesetzes versehen sein und dürfen ohne solches nicht beschäftigt werden. Bei der Annahme solcher Arbeiter hat der Arbeitgeber das Arbeitsbuch einzufordern. Er ist verpflichtet, dasselbe zu verwahren, auf amtliches Verlangen vorzulegen und nach rechtmäßiger Lösung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeiter wieder auszuhändigen.
Kinder im Alter von 12 – 14 Jahren, welche außer der Schulzeit bei gewerblichen Unternehmungen beschäftigt werden sollen, bedürfen einer Arbeitskarte. Bei Lösung des betreffenden Arbeitsverhältnisses ist diese Karte vom Arbeitgeber dem Vater oder Vormund des Kindes wieder auszuhändigen.
Arbeitsbücher und Arbeitskarten werden von der Ortspolizei-Behörde kosten- und stempelfrei ausgestellt; die Ausstellung ist jedoch von dem Vater oder Vormund persönlich zu beantragen.
Wer die Bestimmungen des Gesetzes in Betreff der Arbeitsbücher und Arbeitskarten zuwiderhandelt, wer einen Arbeiter den Bestimmungen des §§ 106 - 112 zuwider in Arbeit nimmt, oder wer vorsätzlich ein auf seinen Namen ausgestelltes Arbeitsbuch unbrauchbar macht oder vernichtet, wird mit Geldstrafe bis zu 20 Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen für jeden einzelnen Fall der Verletzung dieses Gesetzes bestraft.
Die Ausstellung der Arbeitsbücher und Arbeitskarten ist unverzüglich zu beantragen.

Die Vordrucke der Arbeitsbücher und –karten und diverse Formulare bestellte Amtmann Döpper bei der Buchdruckerei Hugo Wittneven in Coesfeld, die wegen des Andrangs in Lieferschwierigkeiten kam. Alle Papiere mussten nach Format, Papier und Druck genau den vorgelegten Mustern entsprechen. Bis Ende Januar 1879 war das Amtsbüro mit 500 Arbeitsbüchern, 100 Karten und den Formularblocks ausgestattet. Erst einmal verzichtete die Regierung auf die jährlich zu erstattenden Berichte. Zukünftig waren mit dem Formular F sämtliche Nachweisungen kreisweit gesammelt bis zum 10. Januar bei der Abteilung des Innern einzureichen. Für 1880 meldete Döpper 14 männliche Arbeiter von 14 bis 16 Jahren bei der Eisenhütte; bei einer Holzschleiferei drei. 1881 änderte sich die Zahl bei der Westfalia nicht. Bis 1891 kamen andere Firmen hinzu und die Angaben wurden vereinzelt nur summarisch angegeben. Die Westfalia meldete zwischen 13 und 32 männliche Jugendliche. Die o.g. Holzschleiferei zeigte 1881 und ’82 weibliche Jugendliche an, erst  zwei und dann eine. In der Zeit danach wird das Geschlecht nicht mehr angegeben.  

Im Frühjahr 1883 fragte das Ministerium für Handel und Gewerbe bei den Regierungen an, ob sich der Umgang mit den Arbeitsbüchern und –karten den Vorschriften gemäß eingespielt habe. Amtmann Döpper gab an das Landratsamt weiter, daß hier stets zu Arbeitsbüchern und Arbeitskarten die vorgeschriebenen Formulare verwendet und Unzuträglichkeiten nicht vorgekommen sind. Die verwendeten Formulare waren von gutem Papier und sind Fälschungen nicht bekannt geworden.
Vorgedachte Formulare habe ich in genügender Anzahl auf dem Amtsbureau vorräthig
.

Im Laufe der Jahrzehnte gab es häufig neue oder überarbeitete Gewerbeordnungen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hieß es im Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung 1891 In Bezug auf die Arbeitszeiten von Kindern und Jugendlichen:
Kinder unter dreizehn Jahren dürfen in Fabriken nicht beschäftigt werden. Kinder über dreizehn Jahre dürfen in Fabriken nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind.
Die Beschäftigung von Kindern unter vierzehn Jahren darf die Dauer von sechs Stunden täglich nicht überschreiten.
Junge Leute zwischen vierzehn und sechszehn Jahren dürfen in Fabriken nicht länger als zehn Stunden täglich beschäftigt werden.
[4]

Revisionen

Schon 1859 rügte die Regierung die nachlässige Durchführung der Betriebskontrollen. 1882 musste sie wieder daran erinnern, diese zweimal jährlich durchzuführen und zwar durch die Amtmänner persönlich. Eine Vertretung durch die Polizeidiener wurde ausdrücklich untersagt. Landrat Graf von Wedel gab die Rüge an die Ortsbehörden weiter und verlangte die Berichterstattung darüber bis zum 20. Dezember eines jeden Jahres. Ab 1883 lieferte Döpper die Anzeigen immer pünktlich ab und meldete bis 1894, hierbei Nichts zu erinnern gefunden zu haben. Von seinem Nachfolger Busch liegen regelmäßige Berichte nicht vor, sondern nur zwei Notizen über Einzelfälle. 1897 stellte er fest, dass drei Näherinnen in Bork schon seit längerer Zeit Gehilfinnen oder Lehrmädchen beschäftigten, ohne dass diese mit einem Arbeitsbuch ausgestattet waren. Die Arbeiterinnen wurden vorgeladen und mit den Büchern versehen; die Arbeitgeberinnen mussten pro Person ein Strafgeld von 1,50 Mark bezahlen. Im zweiten Fall ging es um die Beschwerde des Anstreichers Josef Funhoff aus Selm über seinen ehemaligen Arbeitgeber in Lüdinghausen. Der, so erklärte Funhoff, verweigere ihm die Rückgabe seines Arbeitsbuches, obwohl das Arbeitsverhältnis vorschriftsmäßig beendet worden war. Vor dem Lüdinghauser Bürgermeister gab Meister Beyer an, dem Funhoff das Arbeitsbuch nicht habe vorenthalten können, weil dieser persönlich nicht bei ihm vorstellig geworden war. Das Buch übergab er bei dieser Gelegenheit dem Bürgermeister.

Im Juni 1898 machte sich ein Königliche Regierungs- und Gewerberat auf den Weg und inspizierte die Ziegelei von Hugo Reygers in Bork. Dabei stellte er u.a. bei jugendlichen Arbeitern in je zwei Fällen Vergehen gegen die Arbeitszeit, bzw. das Fehlen der Arbeitsbücher fest. Die Polizeiverwaltung wurde aufgefordert, gegen den Unternehmer ein Strafverfahren einzuleiten und darüber Bericht zu erstatten.

Reygers äußerte sich dazu gegenüber dem Amtmann. Seinem Ziegelmeister sei das Fehlen der Arbeitsbücher nicht aufgefallen, inzwischen lägen sie vor. Die Arbeitszeiten seien vom Gewerbeinspektor richtig angegeben, einer der beiden Arbeiter sei aber inzwischen 16 Jahre alt geworden. Zu der im Gesetz vorgeschriebenen, auszuhängenden Tafel mit einem Auszug aus den Beschäftigungsbestimmungen schrieb er, sie sei seit April angeschlagen. Daß dieselbe vom Gewerbeinspektor nicht bemerkt wurde hat vielleicht daran gelegen, daß die betreffende Thüre an die [sie] angeheftet ist, los gestanden hat. Die Strafe für diese Vergehen wurde im August rechtskräftig.

Weil die Arbeit in Ziegeleien mit besonderen Gefahren für die Gesundheit verbunden war, unterlag die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern dort seit 1893 gesonderten Bestimmungen. Der Landrat legte den Ortsbehörden eine verstärkte Kontrolle dieser Betriebe mit der Begründung nahe: Wohl in keinem Gewerbebetriebe werden die jugendlichen Arbeiter so sehr angestrengt, wie in den Ziegeleien. Für den Amtmann in Bork bedeutete diese Aufforderung mehr Arbeit. 1899 musste er bei einem Rundschreiben sechs Ziegeleibesitzer berücksichtigen. Einen mehrseitigen Auszug aus den Bestimmungen der Gewerbeordnung heftete er in die Akte ein.

Juni 2020
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[1] und alle folgenden Zitat, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 615.
*Werk zum Zerkleinern von Erzen.
2. §. 2. Wer noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen hat, oder durch ein Zeugniß des Schulvorstandes nachweiset, daß er seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat, darf vor zurückgelegtem sechszehnten Jahre zu einer solchen Beschäftigung in den genannten Anstalten nicht angenommen werden.
Eine Ausnahme hiervon ist nur da gestattet, wo die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterricht der jungen Arbeiter sichern. Die Beurtheilung, ob eine solche Schule genüge, gebührt den Regierungen, welche in diesem Falle auch das Verhältniß zwischen Lern- und Arbeitszeit zu bestimmen haben. –www.ZeitSpurenSuche.de- und weitere Zitate aus dem Regulativ.
[3] bommi2000.de
[4] https://de.wikisource.org


 
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