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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Armenunterstützung in Selm

Christel Gewitzsch

Selm war eine arme Gemeinde. Auf Rosen gebettet lebten die meisten Eingesessenen nicht und vielen mangelte es an einem gesicherten Einkommen über längere Zeit hinweg. Wenn die Not besonders anwuchs, mussten die Leute auf die Mildtätigkeit der Bessergestellten hoffen, manche versuchten sich als Bettler oder schickten ihre Kinder zum Betteln aus, andere wiederum bedienten sich gleich selber beim Eigentum der Habenden. Doch auch wenn die Gemeinde als arm galt, hatte sie die Verpflichtung, sich um die Bedürftigen zu kümmern und ihnen in der Not beizustehen. In welchem Maße sie dieser Verpflichtung nachkam, entschied sich oft nach Kassenlage und/oder dem Leumund des Bittstellers.

Die  öffentliche Armenpflege konnte in offener oder geschlossener Form auftreten, wobei die Bedürftigen entweder in der Gemeinde blieben und Unterstützung erhielten oder in Armen-, Kranken- oder Waisenhäusern versorgt wurden. Vor Ort zeigte sich die Fürsorge für verarmte Personen in Form von Geld- oder Naturalzuwendungen.

Wo kam das Geld her?

Im ersten Etat des Armenfonds zu Selm für die Jahre 1836 bis 1840, den der Armenrendant und Küster Bohle im Sommer 1837 erstellte, listete er alle Einnahme- und Ausgabemöglichkeiten auf, die den Armenfond hätten betreffen können.[1] Von zehn Einnahmequellen sprudelten oder besser tröpfelten nur zwei. An Gebühren, die für die Genehmigung von Tanzveranstaltungen in Wirtshäusern oder anlässlich von Schützenfesten für die Musik fällig wurden, erwartete Bohle 18 Taler; als Strafen für Schulversäumnisse wurden fünf Taler eingestellt. Nichts stand dem Armenfond aus Miet-, Erbpacht-, Zeitpacht-, Grund- und Kapitalzinsen zu. Gelder aus Kollekten erhoffte der Rendant nicht, weder aus dem Klingelbeutel noch aus der Armenbüchse. Weitere Polizeistrafgelder, Zuschüsse aus anderen Kassen oder sonstige außergewöhnliche Einnahmen flossen auch nicht nach Selm.

Für die Jahre 1841 bis 1845 erwartete Pfarrer Evers, der im Namen des Armenvorstands den Bericht abgab, eine voraussichtliche Einnahme von 70 Talern. Landrat Schlebrügge verzichtete auf weitere Nachweise, da aus den oben genannten Zinsquellen nichts in den Fond floss.

Erst 1870 revidierte das Landratsamt wieder eine Armenrechnung von Selm (für 1869) und forderte eine Aufstellung des Armenetats für 1871 bis 1873 an. In dieser Aufstellung wird entschuldigend angemerkt, die Angaben seien nur muthmaßliche, weil in den vorangegangenen Jahren keine Armenetats in Selm aufgestellt worden waren. Die Jahresabrechnungen des Armenfond-Rendanten Bohle liegen von 1850 bis zu seinem Tode Anfang 1880 lückenlos vor. Für die Zeit danach wurde die Stelle nicht neu besetzt, da mit Rücksicht auf das Nichtvorhandensein von Armenfonds-Capitalien und Grundstücken pp in der Gemeinde Selm der Fortbestand einer besonderen Armenkasse nicht erforderlich erscheint.[2]

Regelmäßige und besondere Einnahmen

Auf die oben erwähnten Gelder für die Tanzmusik konnte sich die Armenkasse fast in jedem Jahr verlassen. Tanzveranstaltungen fanden regelmäßig statt, besonders häufig in der Karnevalszeit. Schützenfeste feierte man in der Regel einmal im Jahr, mehr waren nach einer Verordnung aus dem Jahr 1829 pro Gemeinde nicht erlaubt. Wobei man sich unter diesen Ereignissen nicht die Großveranstaltungen von heute vorstellen darf. 1867 beantragte zum Beispiel die Bauerschaft Beifang in der Wohnung des Colon Grube [...] ein allgemeines Schützenfest zu feiern.[3]

An zweiter Stelle bei den Einnahmen standen die Strafgelder für Schulversäumnisse. Dreimal mussten Geldstrafen für eine sogenannte „doppelte Vermietung“ gezahlt werden. Damit wurden die Leute belegt, die ihre Magd oder ihren Knecht an andere weitervermieteten. Einmal fielen auch fünf Silbergroschen für das Nichterscheinen bei einem Schiedstermin an.

1841, als Pfarrer Evers den Etat vorlegte, wurden zum ersten und letzten Mal die Gelder erwähnt, die dem Armenfond aus der Madelschen Stiftung zustanden.[4] Jährlich müsste diese Stiftung etwa sieben bis acht Taler für arme Schulkinder erbringen, meinte der Pfarrer, doch könne die Summe wegen der variirenden Pachtgelder nicht genau angegeben werden.[5]

Unverhofft erhielt Amtmann Döpper 1881 die Nachricht von dem Vermächtnis einer gewissen Bernardine Brauns aus Bottrop, die in ihrem Testament vom 30. Juni 1872 bestimmt hatte:  III. Von dem Kapital, welches ich bei der Sparkasse zu Werne stehen habe, vermache ich 50 Thr. (fünfzig Thaler) an die Armen in Selm und 50 Thr. (fünfzig Thaler) an die Pfarrkirche zu Werne mit der Bestimmung, daß hierfür [...] so bald wie möglich nach meinem Tode heilige Messen für meine Seelenruhe gelesen werden.[6] In welcher Beziehung die Dame zu Selm stand, wird nicht erwähnt, aber die Gemeindeversammlung nahm den Geldsegen gern entgegen.

Wo ging das Geld hin?

Den zehn möglichen Einnahmequellen standen laut der Auflistung für 1836 bis 1840 auch zehn Ausgabetitel gegenüber. An erster Stelle waren die Verwaltungskosten vermerkt, die pro Jahr mit zwanzig Silbergroschen zu Buche schlugen. (Laut Protokoll von 1877 standen dem Rendanten der Armenkasse als Bezahlung fünf Prozent der wirklichen Einnahmen zu.) Es folgten die Unterstützungsgelder, die Kosten für Bekleidung, Feuerungsmaterial, Medizin, Begräbnisse und Unterricht. Steuern und sonstige Ausgaben, Unterhaltung der Gebäude und außergewöhnliche Ausgaben kamen zum Schluss.

Außer den zwanzig Groschen zahlte die Kasse in jenen Jahren zwölf Taler an Unterstützungen, für Medizinalkosten waren ein Taler und zehn Silbergroschen fällig und vier Taler mussten für Begräbnisse ausgegeben werden. Dabei ging es in erster Linie um die Bezahlung der Särge, die meistens zwei Taler kosteten. Zweimal bezahlte die Armenkasse auch für das Kirchenläuten bei der Beerdigung. Außerdem wurden Gelder für Feuerholz oder Kohle bereitgestellt, die Apotheker reichten ihre Rechnungen ein und zweimal übernahm die Kasse die Impfung armer Kinder. In drei Jahren genehmigte der Armenfond die Anschaffung von Schulbüchern und Schreibmaterial. Fünf Jahren lang standen nur die Verwaltungskosten auf der Ausgabenseite.

Um wieviel Geld ging es?

Der Armenfond selber verfügte nicht über viel Geld. Unabwendbare Ausgaben wurden häufig direkt über die Gemeindekasse abgewickelt.[7] Wenn die Hospitäler in Lünen und Nordkirchen ihre Rechnungen über die Versorgung armer Einwohner des Amtes Bork an den Amtmann schickten, wies dieser die Gemeindeempfänger direkt an, die Zahlungen zu leisten.

Für 1857 waren zum Beispiel 120 Taler an Zuschüssen zur Armenpflege in den Kommunal-Etat von Selm eingestellt worden, wovon Verpflegungskosten für zwei Waisenkinder und die Unterbringung einer Bedürftigen in einer Pflegeanstalt bezahlt wurden. Und weil noch ein Rest von 38 Talern übrig blieb, sah sich der Amtmann in der Lage, die Unterbringung eines weiteren Waisenkindes zu veranlassen.  

Im Vergleich dazu die Abrechnung des Armenfonds für 1857. Sie verzeichnete als Einnahmen etwas mehr als vier Taler aus den Strafgeldern für Schulversäumnisse. Bei den Ausgaben wurden keine Leistungen notiert, es kam nur zu einer Rückzahlung eines Vorschusses von drei Talern und zwanzig Silbergroschen. Und so ergab sich zum ersten Mal seit der Etataufstellung von 1850 ein kleines Plus von fünfzehn Silbergroschen. Bis dahin war man immer wieder auf Vorschussleistungen der Gemeinde angewiesen.  

In der Folgezeit scheint die Armendeputation Wert darauf gelegt zu haben, den Geldbestand zu vergrößern. Bis 1865 wuchs er auf die Summe von 62 Talern und 25 Silbergroschen an. Das war der höchste Betrag überhaupt, danach verringerte er sich wieder. Der letzten Etat, den Wilhelm Bohle für den verstorbenen Joseph Bohle aufstellte, wies einen Bestand von 20,88 Mark auf (knapp sieben Taler). Dieses Geld wurde wegen der Auflösung des Armenfonds der Gemeindekasse übergeben.

Bitten um Unterstützung

Insgesamt befinden sich in den Akten 19 Anträge auf Unterstützung, wobei die Rechnungen von Apotheken, Krankenhäusern und anderen Gemeinden nicht mitgezählt wurden. In neun Fällen gewährte die Gemeinde Selm eine Hilfe, wenn auch oft nicht in der beantragten und benötigten Höhe.

So beklagte in den 80er Jahren ein B. Althoff die geringe Unterstützung von vier Mark, die nur die Kosten für Licht und Heizmaterial abdeckte. Es wäre in der ganzen Gemeinde bekannt, dass er keinen Pfennig mehr verdienen könne, aber er doch zum Lebensunterhalt etwas haben müsse.

Dem Tagelöhner Johann Kordel, 52 Jahre alt, half es sicher, dass Pfarrer Evers für ihn sprach. Der Pfarrer bestätigte den schon seit anderthalb Jahren bestehenden schlechten Gesundheitszustand und die daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit des Tagelöhners und bescheinigte, daß bei ihm ein anhaltender Durchfall von einem gleichanhaltenden Hunger begleitet ist, so zwar, daß er nimmer sich gesättigt fühlt, wodurch seine große Dürftigkeit um noch so viel drückender und fühlbarer wird.[8] Die Gemeindeversammlung Selm bewilligte daraufhin eine Unterstützung von einem Taler pro Monat, die halbjährlich an den Pfarrer Evers gezahlt werden sollte, denn dieser hatte sich bereit erklärt, dem Kordel die monatliche Unterstützung vorschußweise zu zahlen. Dem Pfarrer wurde mit dem Bewilligungsbescheid auch die Verpflichtung auferlegt, dem Amtmann mitzuteilen, wenn der Kordel etwa zum Ableben gekommen sein oder seine Verhältnisse sich so geändert haben sollten, daß die Unterstützung wegfallen kann.

Auch im Fall der Witwe Meier gab es einen Fürsprecher. Ihr Vermieter Joseph Wirtschorek wandte sich 1871 an den Amtmann und den Gemeindevorstand zu Selm und schilderte in einem Schreiben anschaulich seine und der Witwe vertrackte Lage. Er schrieb, daß die Frau Wittwe Meier, 70 Jahre alt, schon zeit Februar dieses Jahres, krank, und vollständig ohne allen, Lebensmitteln Verpflegung und Unterstützung wahr. Ihr Sohn Joseph; welcher sie bis dahin sehr gut unterstützt hatte, berichtete, daß er jetzt gänzlich außer Stande sei, seiner Mutter etwas zu schicken, denn er wäre durch daß zerbrechen mehrerer Rippen Arbeitsunfähig geworden, und müßte jetzt selbst darben. Mein Ersuchen um Unterstützung an die Herren Armen-Väter wurde mit Mittellosigkeit erwiedert. Mein Ersuchen an Wohlhabende Personen für die Hilfsbedürftige wurde anfangs durch einige Gaben belohnt, später aber wieder vergessen. Mein Ersuchen, auf Wunsch der Armen, an unsern Herrn Orts-Vorsteher, um Unterstützung aus Gemeindemitteln mußte erst Schriftlich bei der nächsten Gemeinde-Vorstandts-Versammlung eingereicht werden, darauf konnte die Arme aber nicht so lange warten, und es blieb mir schließlich anders nichts übrig, um sie vor Hunger und Verkommen zu retten, mich Ihrer anzunehmen, und dann an die Geehrte Gemeinde-Vertretung zu Appelieren, da ich jetzt keine andern Mittel und Wege mehr weiß, für der Armen ihr fortkommen, und meine Vermögens und Verdienstverhältniße die letzten Jahre leider sehr ungünstig wahren, und ich deshalb die besagte Person aus meinen eigenen Mitteln nicht unterstützen kann, so wollte ich die Geehrten Herren Gemeinde-Räthe ganz ergebenst bitten, doch in etwa zur Unterstützung der Bedürftigen zu sorgen helfen, denn es fehlt ihr kurz an allem was zum Lebensunterhalt gehört. [9]

Auch hier genehmigte die Gemeindevertretung eine monatliche Unterstützung von einem Taler. Zusätzlich bewilligten die Mitglieder die Übernahme der Miete (fünf Taler und zehn Silbergroschen), die in halbjährlichen Raten an den Hausherrn Wirtschorek gezahlt wurde.

Leicht fiel der Gemeinde Selm die Hilfe für die Witwe Kortendick, die zwar eine einmalige Beihülfe erbeten hatte, der man aber durch die Gewährung eines Darlehens auch aus der Klemme helfen konnte. 1887 hatte sie sich an den Amtmann Döpper gewandt und ihre Notlage geschildert. Sie und ihre ganze Familie waren am Nervenfieber (Typhus) erkrankt und mussten ins Krankenhaus. Rechnungen von über 460 Mark standen ins Haus, die sie nicht bezahlen konnte. Kein Familienmitglied konnte nach dem Krankenhausaufenthalt sofort wieder die Arbeit aufnehmen, der Sohn Heinrich war sogar rückfällig geworden. Auf ihrem Haus, was noch von ihrem verstorbenen Ehemann erworben und umgebaut worden war, lasteten mehrere hundert Mark Schulden und auch, wenn sie es verkaufen müsste, könnte sie mit dem Erlös die Schulden nicht tilgen.

Neben der Beihilfe erbat sie die Wiederanstellung ihres Sohnes Heinrich als Nachtwächter, da derselbe nunmehr wieder hergestellt ist und nach der Erklärung des Arztes ohne Gefärdung seiner Gesundheit diesen Posten wieder versehen darf.[10]

Erhellend ist ihr Schlusssatz: Mit Rücksicht darauf daß die erlittene Krankheit nicht durch eigne Schuld hervorgerufen ist, sondern eine Fügung der Vorsehung war, darf ich hoffen, daß meine Bitte geneigtes Ohr finden werde.

Sie fand es. Die Gemeindevertretung gewährte ihr ein Darlehen, mit dem die Rechnungen bezahlen werden konnten. Da der Pfarrer Ellerkamp außerdem von sich aus siebzig Mark an das Krankenhaus überwiesen hatte, brauchte die Witwe nicht das ganze Geld und gab  den Überschuss gleich wieder zurück.

November 2017
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[1] StA Selm, AB-1 – 334.
[2]
StA Selm, AB-1 – 335.
[3]
LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Nr. 757.
[4]
siehe auch auf dieser Website unter „Gesellschaft – Vikar Madel will nicht mehr“.
[5]
StA Selm, AB-1 – 334.
[6]
StA Selm, AB-1 – 333.
[7]
siehe dazu auch auf dieser Website unter Wer kümmert sich um die Armen?
[8]
StA Selm, AB-1 – 336.
[9]
StA Selm, AB-1 – 337.
[10] StA Selm, AB-1 – 333.

 
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