aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Aus der Arbeit der Ortskrankenkasse

Christel Gewitzsch

Als am 1.Dezember 1884 das Krankenversicherungsgesetz als erstes der Bismarck‘schen Sozialgesetze in Kraft trat, waren die Vorbereitungen für die Umsetzung dieses Gesetzes im Amt Bork abgeschlossen. Die Ortskrankenkasse bestand, eine Vorstand und der Vorsitzende waren gewählt und die Bevölkerung war informiert worden, so dass die Arbeit pünktlich beginnen konnte.

Das erste Jahr

Zuerst ging es nur darum, die Anmeldungen der Versicherungspflichtigen[1] und freiwillig Versicherten entgegenzunehmen. Das geschah auf der gemeinsamen Meldestelle für die angeschlossen Gemeinden Bork, Selm, Altünen, Olfen Stadt und Landgemeinde[2] beim Vorsitzenden Franz Steinbusch in Bork. Aber ganz unproblematisch lief das nicht an. Die erste Beschwerde dazu reichte Steinbusch schon Anfang Dezember 1884 beim Landrat ein, denn aus dem gesamten Amt Olfen waren bis dahin nur fünf Arbeiter angemeldet worden. Der Landrat verwies gleich auf den Rechtsweg und schärfte in einer weiteren öffentlichen Bekanntmachung den Arbeitgebern ihre Verpflichtung zur Anmeldung ein.

Spätestens am dritten Tag der Anstellung eines Arbeiters musste dessen Arbeitgeber diesen als Mitglied der Kasse anmelden, ebenso bis zum dritten Tag nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses dort abmelden. Der Versicherungsschutz galt vom ersten Tag der Beschäftigung an. Für die beitrittsberechtigten Mitglieder begann der Versicherungsschutz mit der Anmeldung und erlosch durch eine Austrittserklärung.

Bis in die 90er Jahre entdeckte Steinbusch bei weiteren 14 Arbeitgebern Versäumnisse bei der Anmeldung. Oft ging es dabei gleich um mehrere Arbeiter. Erschwert wurden die Untersuchungen durch die häufig nur kurzen Arbeitsverhältnisse, schnellen  Entlassungen und Wiedereinstellungen. Einmal lag nur ein Missverständnis vor und vereinzelt berief sich ein Arbeitgeber auf Unkenntnis. Viermal wurden wegen unterlassener Anmeldung Geldstrafen von 5 bis 20 Mark verhängt. Ein Beschuldigter war erfolgreich gegen eine Bestrafung angegangen, bei einem weiteren steht in der Akte nur etwas von der Nachzahlung der Arbeitgeberbeiträge. Die Strafzahlungen flossen in den ersten Jahren in die Gemeindekassen, ab 1893 gingen sie auf Grund eines Beschlusses der Amtsversammlung an die Krankenkasse.

Im April 1886 erhielt Amtmann Döpper vom Landrat den Auftrag, Fragebögen zu den Orts- und Betriebskrankenkassen auszufüllen und einzureichen. Dabei ging es um eine Übersicht über die Mitgliedszahlen, Krankheits- und Sterbefälle und den Rechnungsabschluss für das Jahr 1885. Am Anfang des Jahres zählte die Ortskrankenkasse 248 männliche und vier weibliche Mitglieder. 262 Männer kamen im Laufe des Jahres hinzu, allerdings schieden auch 274 aus, davon waren zwei verstorben. Ab der sechsten Spalte geraten Döpper die Mitgliederzahlen durcheinander; es verbleiben am Ende des Jahres nicht 276 Mitglieder, sondern 240.

Von den 83 Erkrankungsfällen, die der Kasse gemeldet wurden, beruhten 21 auf Betriebsunfällen. Insgesamt kamen die Mitglieder auf 1.822 Krankheitstage, durch Unfälle verursacht wurden davon 544. Der Rechnungsabschluss für das Jahr 1885 ergab einen Schuldenstand von 296,83 Mark.

Schon im September 1885 hatte das Ministerium für Handel und Gewerbe aufgeschreckt reagiert, als in den Zeitungen verbreitet wurde, daß zahlreiche Ortskrankenkassen schon jetzt mit einem Defizit zu kämpfen hätten.[3] Und für Anfang 1886 wurde eine noch ungünstigere Lage vorausgesagt, weil vermutet wurde, viele Arbeiter würden von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machen, um zu einer dem Gesetze genügenden Hilfskasse überzutreten. In den Städten lag das etwas anders, dort warb die Sozialdemokratie sehr für die Ortskrankenkassen. Durch die Zweidrittelmehrheit in den Vorständen hoffte sie, an Einfluss gewinnen zu können. Dies wird im Amt Bork, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle gespielt haben, aber vielleicht der Druck, den gewerbliche Handwerksmeister ausübten, ... um dem Beitragsanteil bei den Zwangskassen zu entgehen.[4] Viele von ihnen stellten nur noch Gesellen ein, die bei den freien Hilfskassen versichert waren. 

Mangelnde Akzeptanz

Die Errichtung der Krankenversicherung für Arbeiter fiel bei den Betroffenen keineswegs auf einhellige Zustimmung. Abzüge vom eh geringen Lohn hinnehmen zu müssen, machte viele unwillig. Schon zu Beginn der Mitgliedschaft wurde für die meisten ein sogenanntes Eintrittsgeld in Höhe von 50 Pfennig fällig; die fortlaufend zu zahlenden Beiträge betrugen für die 1. Klasse 30 Pfennig, für die 2. 24 und für die 3. 18 Pfennig.

Jeden Montag erschien ein Kassenbote bei dem Arbeitgeber der Pflichtversicherten und holte die Beiträge für die Woche ab. Der Arbeitgeber konnte bei der nächsten Lohnzahlung zwei Drittel des Beitrags einbehalten. Die freiwillig Versicherten mussten selbst den gesamten Betrag zum Fälligkeitstermin einzahlen.

Einen Weg, das Geld zu sparen, eröffnete der Paragraf 3 des Statuts. Wenn ein Arbeiter im Krankheitsfall für mindestens 13 Wochen – das ist der Zeitraum, für den von der Kasse eine Krankenunterstützung gewährt wurde – auf Verpflegung in der Familie ihres Arbeitgebers oder auf Fortzahlung des Lohnes Anspruch[5] hatte, konnte er einen Antrag auf Befreiung stellen. Davon machte K. Böcker aus Bork 1886 Gebrauch. Er schrieb: Hierdurch verpflichte ich mich, für meinen bei mir arbeitenden Sohn August für den Falle einer Krankheit für Alles aufzukommen, so daß der hiesigen Ortskrankenkasse in obigem Falle keinerlei Verbindlichkeiten erwachsen sollen.[6]

Nach einem Urteil der Strafkammer in Münster vom Ende des Jahres hätte es in diesem Falle eines Antrages wahrscheinlich nicht bedurft, da das Gesetz ausdrücklich den Bezug von Gehalt oder Lohn seitens der beschäftigten Personen voraussetzt. Falls der Sohn von den  Eltern nur seinen Unterhalt bezog, unterlag er nicht der Versicherungspflicht.

Waren die o.g. 13 Wochen vorüber und der Arbeitnehmer noch nicht wieder arbeitsfähig, lag die Verantwortung für ihn entweder bei den Familienangehörigen, oder, wenn diese nicht dazu in der Lage waren, bei der Armenfürsorge der zuständigen Kommune. Dies musste im Fall des Schustergesellen Theodor Fischer geklärt werden. Fischer arbeitete bei dem Schustermeister Hageneier in Cappenberg und lag seit 12 Wochen im Krankenhaus. Er war an der Schwindsucht erkrankt und konnte noch nicht entlassen werden. Beheimatet war er in Werne, weshalb Döpper dort anfragte, wie es mit dem jungen Mann weitergehen sollte. Der Werner Amtmann erkannte an, dass Fischer dort heimatberechtigt war, doch lag in diesem Fall die Verpflichtung erst einmal bei den Eltern. Sie wollten ihren Sohn, falls möglich, aus dem Krankenhaus abholen und zu Hause pflegen.

Manche Arbeitgeber deuteten die Regeln für die Befreiung von der Versicherungspflicht großzügig zu ihren Gunsten, wenn sie Lehrlinge gegen Kost und Logis aufnahmen. Diese blieben versicherungspflichtig, auch wenn sie keinerlei Lohn und Bargeld erhielten. Bei Arbeitsverhältnissen mit einer vertraglich zugesicherten 13-wöchigen Versorgung warnte Landrat Wedel vor zu schnellen Genehmigungen. Der Krankenkassenvorstand sollte sich in jedem Fall davon überzeugen, ob der Arbeitgeber auch nach seinen Vermögens-Verhältnissen dazu im Stande war, den Vertrag zu erfüllen.  

Leistungen der Krankenkasse

Den Versicherten gewährte die Kasse freie ärztliche Behandlung und Arzneien. Brillen, Bruchbänder und ähnliche Vorrichtungen oder Heilmitteln, welche zur Heilung der Erkrankten oder zur Herstellung und Erhaltung der Erwerbsfähigkeit nach beendigtem Heilverfahren erforderlich[7] waren, gehörten ebenfalls zum Leistungsumfang.

Falls das Mitglied erwerbsunfähig war, erhielt es vom dritten Tag der Erkrankung an ein Krankengeld (nach den drei Klassen des durchschnittlichen Tageslohns: 90, 75 und 50 Pfennig pro Tag). Doch wenn es sich eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte Betheiligung an Schlägereien oder Raufhändeln, durch Trunkenheit oder geschlechtliche Ausschweifungen zugezogen[8] hatte, wurde das Krankengeld auf 30 Pfennig gekürzt. Schon Anfang 1885 beschloss die Generalversammlung der Borker Kasse eine Statutenänderung. Mit Rücksicht auf die Fälle, welche auf der Brauerei Cappenberg vorgekommen sind, und welche der Kasse viel Geld gekostet haben[9] (ein Brauer hatte wegen einer Geschlechtskrankheit wochenlang im Krankenhaus gelegen), beantragte die Versammlung, für solche Fälle überhaupt kein Krankengeld mehr zahlen zu müssen. Die Statutenänderung wurde genehmigt.

Sieben Jahre später erreichte das Ministerium in Berlin die Information, dass Geschlechtskranke, die auf Kosten der Krankenkassen behandelt worden seien, zügig geheilt wurden.[10] Deshalb wollte es von den Regierungen wissen, wie das in ihrem Bezirk gehandhabt wurde. Döpper teilte die Nichtverpflichtung der Kasse mit, erklärte aber auch: Solche Krankheiten kommen hier äußerst selten vor.

Anstelle des Krankengeldes und der ärztlichen Behandlung konnte der Vorstand auch die Einweisung in ein Krankenhaus verfügen, wobei die Familie gehört und u.U. auch ein Teil des Krankengeldes weiter gezahlt werden musste.

Im Fall der Anna Schlierkamp aus Netteberge kam es in diesem Zusammenhang im Januar 1894 zu einer Beschwerde des Kassenvorstandes bei dem seit neun Jahren an Stelle des Landrats als Aufsichtsbehörde eingesetzten Amtmann Döpper. Der Kassenvorsitzende Steinbusch forderte die Arztkosten zurück, die entstanden waren, nachdem sich die Frau geweigert hatte, nach Altlünen ins Krankenhaus zu gehen. Sie hatte sich weiter bei Dr. Wessel in Olfen behandeln lassen. Steinbusch war der Ansicht, damit habe sie sich aller Ansprüche entledigt. Döpper hatte die Statuten besser gelesen und belehrte den Vorsitzenden darüber, dass die Erkrankte unter den vorliegenden Verhältnissen nicht zur Behandlung im Krankenhaus verpflichtet war. Polizeidiener Fleige händigte zwei Monate nach der Beschwerde das ablehnende Resolut des Amtmanns an die Ehefrau Steinbusch aus.  

Die Kasse zahlte neben den o.g. Unterstützungen auch ein Sterbegeld. Die Hinterbliebenen bekamen 16 Mark (bei Mitgliedern unter 16 Jahren), 24 Mark bei weiblichen erwachsenen Mitgliedern und 30 Mark bei den Männern.

Nach einer Entbindung stand den weiblichen Mitgliedern drei Wochen lang Krankengeld zu. Erkrankungen, die sich im Wochenbett einstellten, wurden wie andere Erkrankungen behandelt. Gebaren die Ehefrauen von Mitgliedern ein Kind, bekamen die Männer für drei Wochen nach der Entbindung eine Unterstützung von 50 Pfennig täglich.

Starb die Ehefrau eines Mitglieds oder eines seiner Kinder unter 14 Jahren, zahlte die Kasse einmalig 15 bzw. 10 Mark, sofern die Angehörigen im Haushalt des Mitglieds gelebt hatten. Von weiblichen Mitgliedern und deren Familienangehörigen ist nichts zu lesen.

Bei Joseph Dreier, einem Ziegeleiarbeiter aus Netteberge, der bei dem Kolon und Ziegeleibesitzer May in Selm arbeitete, wurden die 15 Mark statutengemäß beim Tod seiner Frau ausgezahlt. Das Gesuch des Arbeiters Heinrich Marschall auf Auszahlung eines Sterbegeldes wurde aber abgelehnt. Bei Marschall war das uneheliche Kind der Tochter verstorben. Tochter und Enkelkind wohnten im elterlichen Hause und wurden dort versorgt, weil vom Vater des Kindes keine Unterstützung geleistet werden konnte. Im ablehnenden Bescheid der Krankenkasse drückte sich der Vorsitzende etwas unpassend aus, indem er schrieb, die Tochter gehöre nicht zur Familie.[11] Das wollte Marschall so nicht hinnehmen und beschwerte sich beim Landrat. Zuständigkeitshalber antwortete Döpper. Die Ablehnung konnte er nur bestätigten, erklärte aber genauer, dass es um die im Statut bezeichnete Definition der Familienangehörigen gehe. Da dort in Bezug auf das Sterbegeld nur von den Mitgliedern, den Frauen und Kindern unter 14 Jahren die Rede war, stand der Familie Marschall für das Enkelkind kein Sterbegeld zu.

Drückeberger

An die Ortskrankenkassenvorstände ging 1888 eine Verfügung des Regierungspräsidenten betreffend Maßregeln gegen die so häufig sich zeigenden Krankheitssimulationen. Landrat Wedel wandte sich mit der Empfehlung an Döpper, sich mit dem Inhalt dieser Verfügung vertraut zu machen, um bei Streitigkeiten, welche wegen einer Entziehung der Kassenleistungen zwischen dem Simulanten und der Kasse entstehen, die Kassenorgane in Bekämpfung der Simulation kräftig zu unterstützen.

Einem Trick, sich der Versicherung zu entziehen, machte der Vorsitzende 1891 den Garaus. Es war wohl häufiger vorgekommen, dass Arbeitnehmer nur behauptet hatten, bei einer Innungskrankenkasse o.ä. versichert zu sein und es sich erst später herausstellte, daß dieselben sich an der Versicherungspflicht vorbei gedrückt hatten. Den Landrat bat Steinbusch, von der Möglichkeit, die das Gesetz gab, Gebrauch zu machen und alle Krankenkassen des Bezirks zu verpflichten, Austritte und wenn möglich Eintritte von Mitgliedern bei der Ortskrankenkasse zu melden. Nur so, meinte Steinbusch, in etwa eine Controlle ausüben zu können. Döpper befürwortete diese Maßregel. Er gab bekannt, daß die Krankenkassen des hies. Bezirks, deren Mitgliedschaft von der Verpflichtung, des für das hies. Amt errichteten Ortskrankenkasse anzugehören, befreit, jeden Austritt eines Mitglieds binnen einer Woche bei der hierselbst errichteten Meldestelle zur Anzeige zu bringen haben. Diese Verfügung ging direkt an den Vorstand der Betriebskrankenkasse der Westfalia mit dem Zusatz, ein namentliches Verzeichnis aller Mitglieder bei der Ortskrankenkasse einzureichen. Bei unzulänglicher Information drohte ein Bußgeld bis zu 20 Mark.  

Mitgliederentwicklung

Neben der ersten Übersicht über die Mitgliedszahlen und Kostenentwicklung von 1885 (s. o.) finden sich in der Akte[12] noch für zwei weitere Jahre Zahlen zu den Mitgliedern. Zu Beginn des Jahres 1886 waren 276 Arbeiter bei der Ortskrankenkasse versichert, davon vier Frauen. Während des Jahres gabt es 279 Eintritte, aber auch 246 Austritte, so dass ein leichter Anstieg der  Mitgliederzahlen zu verzeichnen war. Es kam insgesamt zu knapp 60 Erkrankungsfällen, wovon sieben in Folge von Betriebsunfällen entstanden waren.

Ein Jahr später listete Steinbusch am Anfang 244 Mitglieder auf, 290 traten in den folgenden Monaten ein und 238 aus, so dass am Ende des Jahres 296 Mitglieder in den Büchern standen. Von 80 Erkrankungsfällen waren fünf durch Unfälle verursacht.

Ab dem 1. April 1889 werden sich die Zahlen deutlicher verändert haben, da mit diesem Datum Olfen Stadt und Olfen Kirchspiel aus dem Ortskrankenkassen-Verband austraten. Dieser Beschluss der Generalversammlung war Seitens des Bezirksausschusses genehmigt worden. Die Betroffenen aus Olfen wurden mit demselben Datum Mitglieder der Gemeindeversicherung zu Olfen.
Juni 2019
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[1] siehe Text: Eine Krankenversicherung für die Arbeiter - 1883
[2] Olfen trat 1889 aus der Krankenkasse Bork aus.
[3] StA Selm, AB-1 – 637.
[4] und folgendes Zitat: Ernst Engelberg, Bismarck: das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990, S. 393.
[5] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen Nr. 425: Statut der Ortskrankenkasse für die Gemeinden Bork, Selm, Altlünen, Olfen Stadt und Olfen Ksp., §. 3.
[6] und folgende: StA Selm, AB-1 – 637.
[7] Statut, §.13.
[8] Statut, §.17.
[9] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen Nr. 425.
[10] und folgende Zitate, falls nicht anders erwähnt: StA Selm, AB-1 – 637.
[11] StA Selm, AB-1 – 640.
[12] Wegen starker Schäden ist nur ein Teil der Akte zu bearbeiten.

 
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