aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Betrifft: Armenunterstützung - Antrag abgelehnt!

Christel Gewitzsch

Als die gesamte Familie an Typhus erkrankt war und die Behandlungskosten sich auf einige hundert Mark beliefen, wandte sich die Witwe Kortendick an den Amtmann und bat um Hilfe. Mit dem Schlusssatz ihres Unterstützungsantrags, in dem sie betonte, die Krankheit sei nicht durch eigene Schuld hervorgerufen worden[1],  schien sie die Adressaten ihres Schreibens richtig einzuschätzen. Denn die Herren in der Gemeindevertretung achteten bei der Genehmigung von Unterstützungen darauf, ob die zu gewährende Hilfe auch auf würdige Personen traf, beziehungsweise, auf die, die sie für würdig ansahen. Bedürftigkeit allein reichte als Grund nicht aus.

Keine Hilfe für Anna 

Solch eine Überlegung schien auch bei einer unverheirateten Dienstmagd im Spiel gewesen zu sein, die am 26. Juli 1897 ein Kind namens Anna geboren hatte. Das Königliche Amtsgericht, das den Ortsarmenverband von Selm in dieser Sache anschrieb, teilte mit, der uneheliche Vater [könne] zur Zahlung im Wege des Prozesses nicht gezwungen werden, da Anna Schöler bereits früher einmal außerehelich geboren[2]  habe. Da die Hilfsbedürftigkeit der Neugeborenen für das Amtsgericht außer Frage stand, gab es ergebenst zur Erwägung anheim, ob nicht zum Lebensunterhalt des Kindes seitens des Armenverbandes eine Unterstützung gewährt werden könne. Das Kind lebte zurzeit bei seinem Vormund, dem schon 70-jährigen Großvater.

Im Namen der Gemeindevertretung von Selm schrieb Amtmann Busch in seiner Antwort an das Amtsgericht einen Monat später kurz und knapp, dass diese es ablehne, für die Unterhaltung des Kindes der Anna Sch, eine Beihülfe zu zahlen, da die Mutter gesund und ganz erwerbsfähig ist.

Nur dem Vater sollte geholfen werden

Unterschiede bei der Gewährung von Hilfe machte auch der Armenvorstand in Bork. Der Heuerling Bernard Golle hatte sich Ende 1853 bei der Regierung wegen mangelhafter Unterstützung beschwert. Die Beschwerde erreicht Bürgermeister Stojentin, der den Borker Pfarrer Pröbsting, Vorsitzender des Armenvorstands, zu einer Stellungnahme aufforderte. Pröbsting unterrichtete Stojentin über die seiner Meinung nach vollkommen unbegründete Eingabe des Golle, der eigentlich einen Verweis verdient hätte, da er auf angebotene Hilfe nicht eingegangen war.

In vier ausführlichen Kapiteln begründete der Pfarrer seine Meinung. Der Beschwerdeführer sei vor einigen Jahren (Randnotiz des Bürgermeisters: vor länger als 13 Jahren[3]) mit Frau und Kindern von jenseits der Lippe nach Bork gekommen und dort nur aufgenommen worden, weil dessen Bruder versprochen hatte, ihm im Notfall beizustehen. Dies sei aber ein eitles Versprechen gewesen, denn auch der Bruder habe nur so eben für sich selber sorgen können. Deshalb mussten dem Hinzugezogenen auch bald Zuwendungen aus Armenmitteln gewährt werden. Diese Unterstützung wurde ihm jedoch wieder entzogen, da seine Frau sich schlecht aufführte.

Seit circa vier Jahren hatte nun Golle immer wieder beim Pfarrer um eine monatliche Unterstützung nachgefragt, die ihm nicht gewährt wurde, weil seine erwachsene Tochter ihn unterstützen sollte. Der Pfarrer räumte allerdings ein, dass eine Magd im Dienste bei einem Bauern nicht so viel erübrigen könne und deshalb hätte man dem Golle die Unterstützung auch sicher nicht verweigert, wenn nicht die Frau des p Bern. Golle für ihre Tochter, die noch nicht mal 23 Jahre alt ist, Freier anzuwerben sich bemühte. Diese sucht für ihre Tochter Schneidergesellen auf, welche sie in ihre Wohnung lockt, wohin sie zu gleicher Zeit ihre Tochter bestellt hat, und der Schneiderjunge und ihre Tochter müssen ["müssen" im Original unterstrichen] freien.

Im vorigen Sommer, berichtet der Pfarrer weiter, sei bei ihm ein junger Schneider erschienen, um das Aufgebot für eine Eheschließung mit der Tochter des Golle zu bestellen. Der Schneider, ein uneheliches Kind aus Olfen, der seine Militair-Pflicht noch nicht erfüllt, und sein Meisterstück noch nicht abgelegt hatte, dabei, wie sich von selbst versteht, so arm, wie Job[4], erhielt die Genehmigung nicht. Pröbsting schrieb weiter: Aber trotzdem unterhält der Schneiderjunge den vertraulichen Umgang mit der Tochter des Bern. Golle, und auf so eine ärgerliche Weise, daß die Orts-Polizei denselben hat greifen, und über die Grenze hat bringen lassen. Des ungeachtet bleibt unter beiden das vertrauliche Verhältniß bestehen, und der Vater, dem ich mehrmalen wegen seiner Tochter bittere Vorwürfe gemacht habe, (die Frau des Bern. Golle will nicht zu mir kommen) sagt mir, er könne nichts daran thun.

Trotzdem sei – nach Pröbstings Worten - für den Vater, so lange er gehen kann, gesorgt, denn fast täglich besuche er einen der großen Bauern, bei dem er Essen und Trinken bekäme und mit weiteren Gaben versorgt würde. Zu Martini [11. November] erhalte der Golle vom Pfarrer und Wohlhabenden in Bork das Geld für seine Miete und auch von dem Feuerungsmaterial für die Armen kriege er seinen Teil ab. Als ein früheres Mitglied des Armenvorstandes dem Pfarrer erklärte, dies sei unrecht, denn die Mutter hole ihre Tochter aus seinem Haus gewaltsam zur Tanzmusik, weil da, wie man sich denken kann, ein Freier für die Tochter angekommen war, kümmerte der Pfarrer sich nicht um diesen Einspruch. Auch deshalb sei die Beschwerde bei der Regierung vollkommen unbegründet. Pröbsting versicherte am Ende seiner Stellungnahme: Der Armen-Vorstand hierselbst wird gewiß dem alten Bern. Golle, der bis jetzt keine Noth gehabt hat, auch keine Noth leiden lassen, indessen möchte derselbe sehr gern dessen Weib und Tochter geißeln lassen.

Familie Brune erhielt keine Hilfe

Einige Anträge auf Unterstützung gingen aufgrund von Krankheiten und damit verbundener Arbeitsunfähigkeit ein. Lisette Brune aus Selm wusste zum Beispiel keinen anderen Ausweg aus ihrer Situation, als über das Landratsamt den Ortsarmenvorstand um Unterstützung zu bitten. Ihr Mann litt seit einem Jahr an der Schwindsucht und hatte seit zehn Monaten nichts mehr verdient. Die Familie musste drei Kinder im Alter von dreizehneinhalb, zwölf und neun Jahren versorgen. Zwar besaß sie ein kleines Häuschen und Garten, doch lasteten darauf 350 Taler Schulden. Vor ihrem Schreiben an den Landrat hatte Frau Brune sich an den Selmer Gemeindevorsteher Spinn mit der Bitte um Hilfe gewandt. Dieser hatte ihr fünfzig Taler als Darlehen angeboten, die sie aber nicht annehmen wollte, weil sie genau wusste, es nicht zurückzahlen zu können. Auch sah sie keine Lösung darin, auf das Haus noch mehr Schulden aufzunehmen, denn auch die Zinsen dafür können sie niemals aufbringen. Wenn die Familie gezwungen würde, das Haus zu verkaufen, fiele sie erst recht der Gemeinde zur Last.

Die Gemeindevertreter Selms sahen das ganz anders. Sie verweigerten eine Unterstützung mit der Begründung, der Familie müsse es leicht fallen, weitere Anleihen für ihren Unterhalt zu bekommen. Schließlich könne ihr Besitztum bis zur Hälfte seines Wertes beliehen werden, da sei noch Luft nach oben. Auf den Hinweis, die Schulden nicht bedienen zu können, ging die Gemeinde nicht ein.

Wer 100 Mark besaß, brauchte keine Hilfe

Auch einer Magd aus Selm ließ die Gemeinde keine Hilfe zuteilwerden. In diesem Fall hatte der praktische Arzt Dr. Pieper beim Amtmann Busch angefragt. Die Magd litt an einer Eierstockgeschwulst und musste operiert werden. Die Kosten dafür, so nahm der Doktor an, könne das Mädchen unmöglich allein tragen und ohne diese Operation würde sie in kurzer Zeit arbeitsunfähig sein und dann der Gemeinde zur Last fallen; es werden dann noch größere Kosten entstehen.[5]  Doch der Amtmann wusste von einem Guthaben der Magd bei der Sparkasse von 100 Mark; sie könne also ganz gut selbst zahlen.

Ein Haus- und Grundbesitzer bekam auch kein Geld

Als nicht arm genug, um eine Unterstützung aus Gemeindemitteln zu bekommen, schätzte die Selmer Gemeindevertretung auch den Wegearbeiter Joseph Thering ein. Auch der hatte seine unterthänigste Bitte[6] gleich dem Landrat, zu dieser Zeit Graf von Wedel, vorgelegt und schilderte ihm seine Situation so:
Meine Verhältnisse sind folgende, ich bin Chaussee Arbeiter, wohne im Dorfe Selm Nr. 74, habe einen kleinen Hausgarten und 6 Morgen Acker und Weide in der Selmerheide ½ Stunde von Selm und bei Selm für 36 Mark Land angepachtet und 1500 Mark Schulden. Meine Familie besteht aus Frau 4 Kindern und eine 74 Jahre alte Mutter. Das älteste Kind ist 10 Jahre und das jüngste 1 ½ Jahr alt. Meine Frau leidet zeit Jahren an Knochenhaut Entzündung und konnte nicht gehen und ist nun zeit 4 Monaten bettlägerig, weil die Entzündung an Fuß und Arm durchgebrochen ist, und kann sich selbst Nichts helfen. Meine alte Mutter leidet zeit langen Jahren an einem Fußübel welches durch die Aufregung, weil sie Alles Allen thun mußte, so schlecht geworden und durchgebrochen daß sie zeit 3 Wochen fast immer das Bett hüten mußte und nur dann und wann aufstehen konnte, jetzt aber zeit 4 Tagen hat sie das Bett gar nicht mehr verlassen. Ich kann Alles allein nicht versehen, was in der Haushaltung geschehen muß, und dabei 2 bettlägrige Kranke aufpassen, ich muß deshalb nothgedrungen Hülfe haben. Da ich aber, weil ich nicht ausgehen kann, keinen Verdienst habe, um diese Hülfe bezahlen zu könne, so möchte ich Euer Gräflichen Gnaden bitten, dafür zu wirken, daß mir eine monatliche Unterstützung aus der Gemeinde Kasse bewilligt würde. Der Docktor Wessel zu Olfen, der Gemeinde Vorsteher Spinne Evers, der Gemeinde Vorsteher H. Brüning und der Pastor zu Selm werden auf Verlangen die Nothwendigkeit bestätigen.

Einen Monat später erhielt Thering die Mitteilung des Amtmanns Döpper, daß die Gemeinde Vertretung von Selm der Gewährung einer Unterstützung aus Gemeindemitteln ablehnen zu müssen geglaubt hat, da Sie Haus und Grundbesitzer seien und in soweit nicht als Armer gelten könnten. In Rücksicht auf die Krankheit Ihrer Frau und Familien Verhältnisse hat dieselbe aber einen kleinen Betrag aus eigener Tasche (20 M) zusammengelegt, welcher Ihnen bereits zugestellt worden ist.

Die Kinder sollten helfen

Die Witwe Möllmann aus Selm machte sich im Frühjahr 1893 auf den Weg zur Amtsstube nach Bork, um dem Amtmann von ihrer schwierigen Situation Mitteilung zu machen. Sie habe kein Vermögen, wohne zur Miete, könne sich und ihren Sohn nicht ernähren und bedürfe der Hilfe. Doch Amtmann Döpper teilte ihr im Auftrage der Gemeindevertretung kurze Zeit später mit, sie solle sich an zwei ihrer Töchter wenden, falls sie eine Beihilfe benötige. Vier Kinder hatte die Frau. Die älteste Tochter lebte mit ihrem Mann in der Nähe von Bochum. Ihr jüngstes Kind, der 16-jährige Sohn Johann, war fast erblindet und wohnte nach ihrer Aussage noch bei ihr. Die zwei Mädchen Anna, 22 Jahre alt, und Elisabeth, 19 Jahre alt, arbeiteten als Mägde in Lüdinghausen. Da der Sohn aber mittlerweile aus dem Haus sei, so schrieb Döpper, sei sie durchaus im Stande, für ihren Unterhalt event. unter Beihülfe ihrer Tochter Anna und Elisabeth zu sorgen.

Atteste mussten vorgelegt werden

Ablehnungen, in einem Fall vielleicht nur vorläufig, kassierten auch der Tagelöhner Heinrich Winterkemper und der Maurer Caspar Gremm. Winterkemper hatte auf Gemeindemittel gehofft, weil er Gefahr lief, auf dem linken Auge zu erblinden, wenn er sich nicht bald einer Operation in einer Augenklinik unterzöge. Er schrieb, das Augenübel charaktrisirt sich als der graue Staar, der bekanntlich durch Operation beseitigt werden kann[7]  und eine Unterstützung brauche er schon, um sich einem Augenarzt in Behandlung geben zu können. Die letzte Aussage des Erkrankten nahm die Gemeindevertretung nicht zur Kenntnis, empfahl aber, einen erneuten Antrag zu stellen, wenn durch ein Attest eines anerkannt tüchtigen Augenarztes die Notwendigkeit der Operation und die Höhe der zu erwartenden Kosten nachgewiesen seien.

Auf ein fehlendes Attest verwies der Ortsarmenvorstand auch im Fall des Maurers Caspar Gremm, dem man aber keine Hoffnung auf den Erfolg eines erneuten Antrages machte. Gremm hatte im November 1893 um monatlich fünf Mark Zuschuss für die Wintermonate gebeten, da ihm die Schulter auszufallen  drohe[8] und er nichts mehr verdienen könne. Der Versammlung war aber bekannt, dass Gremm sich schon im Frühjahr an der Schulter verletzt hatte und inzwischen schon wieder arbeitsfähig gewesen war. Die Herren äußerten deutlich ihr Befremden über den nun - pünktlich vor dem herannahenden Winter – gestellten Antrag.

Oktober 2022
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  1. siehe auf dieser Website unter: Amt Bork – Armenunterstützung in Selm.
2. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 336.
3. und folgende Zitate: StA Selm, Ab-1 – 319.
  4. Anspielung auf den Titelhelden des Buches von Karl Arnold Kortüm, Die Jobsiade, Münster 1784.  
  5. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 336.
6. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 337.

   7. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 336.
  8. und folgendes Zitat: StA Selm, AB- 1 – 337.


 
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