Das Militär ruft
Christel Gewitzsch
Hier geht es nicht um Uniformen und Ausrüstungen, nicht um Orden und Ehrenzeichen, sondern um die in den Gemeinden und Ämtern zu leistenden Vorarbeiten zur Umsetzung der allgemeinen Wehrpflicht.
Auf ein lautes Bravo von Seiten der Eingesessenen durften die Verantwortlichen dabei nicht hoffen. Die Bewohnern des Münsterlandes, von Militärdiensten weitgehend verschont geblieben, dachten schon bei der Übernahme durch die Preußen mit sehr gemischten Gefühlen an die auf sie zukommenden Pflichten. Geschichten über das große preußische Heer unter den Königen des 18. Jahrhunderts waren im Umlauf, die rücksichtslosen Anwerbungsmethoden und rigorosen Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen flößten Ängste ein. Zwar hatte sich das Militär nach der Niederlage gegen die Franzosen reformiert, die Männer um Scharnhorst und Gneisenau waren bemüht, die tiefe Kluft zwischen Staat und Volk, zwischen Militär und Gesellschaft zu schließen[1]. Die Erfolge in den Befreiungskriegen schienen ihnen Recht zu geben, doch so schnell ließ sich ein tief verwurzeltes Misstrauen nicht beseitigen. Und die bald einsetzende Abschwächung und Rücknahme einiger der Reformmaßnahmen gab den Skeptikern Recht.
1814 wurde ein neues Wehrgesetz erlassen, in dem die bewaffnete Macht in vier Teile gegliedert wurde: in das stehende Heer, die Landwehr ersten und zweiten Aufgebots und den Landsturm. In den Roon’schen Reformen der 60er Jahre drängte der Kriegs- und Marineminister im Auftrage des Königs die Landwehr zurück. Sie hielten sie für nicht zuverlässig und loyal genug gegenüber der Monarchie. Außerdem sollte die Armeestärke an die gestiegene Bevölkerungszahl angepasst werden.
In aller Kürze die Regeln von 1814: Wehrpflichtig waren die Männer ab dem 20. Lebensjahr. Drei Jahre dienten sie im aktiven Dienst, zwei Jahre in der Ersatzreserve. Die nicht in das stehende Heer Aufgenommenen und alle 26- bis 32-Jährigen gehörten der Landwehr ersten Grades an. Auf die folgte für sieben weitere Jahre die Landwehr zweiten Grades. Bis zum 50. Lebensjahr konnte man zum Landsturm berufen werden, womit in Friedenszeiten nicht gerechnet werden musste. Nach den Roon’schen Reformen dauerte der Dienst in der Linie drei Jahre, in der Reserve vier und in der Landwehr fünf Jahre. Bis zum 42. Lebensjahr gehörten die Männer dem Landsturm an. Mit 17 Jahren konnte man die freiwillige Ableistung seiner Dienstpflicht erklären. Gehörte man den gebildeten Classen an, besaß man das Vorrecht, sich zum freiwilligen Dienst für nur ein Jahr zu melden.
1817 erreichten das Amt Bork die nach den Vorschriften des Gesetzes von 1814 erlassenen Instructionen für das Geschäft der Ersatz-Aushebung zur jährlichen Ergänzung des stehenden Heeres; für das Jahr 1817.[2] Aufgrund der Erfahrungen aus dem Vorjahr wurden alle Behörden auf 31 gedruckten Seiten noch einmal mit den nötigen Anweisungen versehen, in die sie sich nun einzuarbeiten hatten. In den Schlussbemerkungen appellierten die Ministerien des Innern und des Krieges an die Empfänger:
Die allgemeine Wichtigkeit, welche die in dieser Anweisung gegebenen Vorschriften für jeden Preußischen Staatsbürger haben, verbunden mit der entschiedenen Gewißheit, daß nur durch Unpartheilichkeit und Ordnung von jeder Seite, die hierin bezeichnete Ausführung des Gesetzes vom 3ten September 1814 vollständig und wünschenswerth erreicht werden kann, geben den unterzeichneten Ministerien die feste Ueberzeugung, daß alle mit dem Ersatzgeschäfte in Berührung tretenden Behörden sich mit dem kräftigsten Willen, dem regsten Eifer und der alles Gute allein fördernden Einigkeit, der Anwendung dieser Bestimmungen unterziehen werden, und mit diesem vollen Vertrauen wird ihnen die gegenwärtige Anweisung zur Beachtung übergeben.
Ersatzgeschäft
Unter diesem Begriff ist das Verfahren zu verstehen, dass zur Heranziehung der wehrpflichtigen Untertanen angewendet wurde. Im stehenden Heer bestand eine dreijährige aktive Dienstzeit. In jedem Jahr schied demnach in der Regel ein Drittel der Soldaten aus (Verstorbene etc. lassen wir hier unberücksichtigt), weshalb eine ebenso große Zahl neu in den Dienst eintreten musste. Die Grundlage für dieses Auswahlverfahren war die sogenannte Stammrolle. Alle Städte und Gemeinden waren verpflichtet, eine eigene Stammrolle anzufertigen. In der wurden die Grundstückseigentümer mit Söhnen, die dort im Dienst befindlichen männlichen Personen, männliche Mieter und Einlieger mit ihren Söhnen und die bei ihnen arbeitenden männlichen Dienstboten aufgeführt. Für die nur vorübergehend in den Gemeinden wohnenden Männer gab es besondere Anweisungen. Unmündige, die ihren Aufenthaltsort wechselten, mussten dem Amt gemeldet werden.
Um ganz sicher zu gehen, wurden vor jeder Aushebung die betroffenen jungen Männer öffentlich aufgefordert, sich in die Rollen eintragen zu lassen. Der Geburtsschein war mitzubringen. Geburtslisten, von den Pfarrern erstellt, mit Vermerken über Verstorbene, wurden den Militärstammrollen beigelegt. 1889 drohte man den jungen Männern eine Geldstrafe von dreißig Mark an, falls sie die Meldung versäumten.
Von der sorgfältigen Führung dieser Stammrollen hing es ab, ob bei der Ermittlung der Ersatzmänner alles gerecht zuging. Deshalb wurde größte Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt gefordert. Es sollte deutlich geschrieben und bei Fehlern nicht radiert, sondern durchgestrichen werden. Der Verdacht einer Fälschung durfte nicht aufkommen. Wo auf dem platten Lande die Gemeinde-Vorsteher des Schreibens nicht gehörig erfahren sind, müssen die von den Orts-Geistlichen, Schullehrern und sonstigen nächsten Beamten unterstützt werden. Und im Falle einer Gefahr, zum Beispiel bei einem Feuerausbruch oder einer Überschwemmung, waren die für die Stammrollen verantwortlichen Beamten verpflichtet, sie vorrangig in Sicherheit zu bringen.
Kommissionen
Welche Männer des jeweiligen Jahrgangs zum Militär mussten, bestimmten die Kreis- und die Departements-Ersatz-Kommissionen (später Ober-Ersatz-Kommission) und das Los, weil meistens mehr taugliche Männer zur Verfügung standen als gebraucht wurden. Für 1890 befindet sich in der Akte eine Anzeige des Amtes Bork, mit der es die betreffenden Männer über den Termin der Musterung informierte. Für Bork, Selm, Altlünen und Herbern fand sie am Dienstag, den 22. April statt. An diesem Tag mussten sich von halb acht bis halb neun Uhr alle gestellungspflichtigen jungen Leute bezw. alle diejenigen Militärpflichtigen, welche eine endgültige Entscheidung Seitens der Ober-Ersatz-Kommission noch nicht erhalten haben, pünktlich einfinden. Auch die Männer und deren Angehörigen, die eine Freistellung beantragen wollten, mussten gegen neun Uhr vor Ort sein, denn eine Reklamation konnte nur berücksichtigt werden, wenn sie vor oder beim Termin der Musterung vorgetragen wurde.
Die Kommissionen bestanden aus Zivil- und Militärpersonen. In der Kreiskommission saßen der Kommandeur des Landwehr-Bataillons und je ein Offizier der Infanterie und der Kavallerie, weiterhin der Landrat und zwei ländliche und zwei städtische Grundbesitzer. Ein Militärarzt musste hinzugezogen werden. Falls keiner zur Verfügung stand, konnte er durch einen Zivilarzt vertreten werden. Die zivilen Mitglieder wurden vom Kreistag für drei Jahre gewählt, eine Wiederwahl war möglich. Beim ersten Mal musste die Wahl angenommen werden, Ausnahmen konnte nur die Regierung zulassen. Falls jemand Gründe gegen eine Wiederwahl vorbrachte, sollten diese berücksichtigt werden. In 22 Paragrafen legte man die Grundsätze dar, unter denen die Kreis-Kommission ihre Auswahl zu treffen hatte.
Wenn diese Arbeit erledigt war, begann die Zuständigkeit der Departements-Kommission. In ihr befanden sich sechs Militärangehörige und drei Zivilisten, hinzu kam ein Stabs- oder Regiments-Chirurgus. Sie nahm eine erneute, gründliche Musterung der Ersatzmannschaften vor und verteilte die Rekruten endgültig auf die verschiedenen Truppenteile. Berücksichtigen sollte sie dabei nicht nur die erforderlichen körperlichen Eigenschaften, sondern auch die beruflichen Fähigkeiten der Männer. Handwerker zum Beispiel, besonders Schuhmacher und Schneider, sollten gleichmäßig auf alle Truppen verteilt werden.
Aushebung
Für 1896 liegt in der Geheimakte des Stadtarchivs Selm eine detaillierte Anweisung des Zivil-Vorsitzenden der Ober-Ersatz-Kommission im Bezirk der 26. Infanterie-Brigade vor. Den Zivil-Vorsitzenden der Kreis-Kommissionen wurde eingeschärft, was sie zu beachten hatten.
Die Pflichtigen treten je zu Fünfen völlig entkleidet vor. Der vom Adjutanten Aufgerufene antwortet, indem er – Front zum Obersten von Uslar – auf den durch Kreidekreis bezeichneten Platz tritt, durch laute Nennung seines Ruf- (Vor-) und Zunamens. Fehlt der Aufgerufene, so antwortet statt seiner der das Vortreten leitende Gendarm, oder Polizeidiener mit: „N. N. (Ruf- und Zunahme) fehlt.“
Die Gendarmen und Polizeidiener haben, nach dem sie selbst entsprechend angewiesen sind, für ausreichende Belohnung der Mannschaften zu sorgen.
Etwaige Reklamanten oder Reklamirte fallen in der laufenden Reihe aus – erforderlichen Falles hat der das Vortreten leitende Gendarm zu rufen: „ N.N. Reklamant!“ – und treten in der durch die Listen gegebenen Reihenfolge an den einzelnen Tagen zu je Fünfen am Schluß des Geschäftes vor. Die Angehörigen der Reklamanten brauchen – worüber dortseitiges Ermessen zu entscheiden haben wird – deshalb auch nicht zum Beginn des Geschäfts bestellt zu werden. Wo die Arbeits-, Erwerbs- oder Aufsichtsunfähigkeit ohne Weiteres sich von selbst ergiebt, (wie z.B. bei einer 80 jährigen Großmutter, deren einziger Ernährer der Reklamirte ist) braucht der Angehörige überhaupt nicht vorgeladen zu werden. Etwaige, nicht ohne Weiteres erkennbare, aber behauptete Krankheiten der Angehörigen sind möglichst durch Zeugniß des behandelnden Arztes oder durch protokollarische Aussagen glaubhafter Zeugen nachzuweisen.
Die Amtmänner und Gemeindevorsteher haben sich bei dem Vortreten der Pflichtigen ihrer Gemeinde, insbesondere aber während der Prüfung der Reklamationen zur sofortigen Auskunftsertheilung im Geschäftssaal anwesend zu halten.
Die sog. Mobilmachungs-Vorarbeiten, deren Revision mir obliegt, bitte ich so bereit zu halten, daß deren Durchsicht am Schlusse eines der Geschäftstage keine Verzögerung erleidet.
Ein Verzeichniß der Sozialdemokraten, nach den darüber erlassenen Bestimmungen – entweder für den ganzen Kreis oder für die einzelnen Aushebungstage – aufgestellt, bitte ich in zweifacher Ausfertigung mir persönlich vor Beginn des Geschäftes übergeben zu wollen.
Vermerke in den Listen – soweit sie nicht in leicht zu beseitigenden, für den Uneingeweihten unverfänglichen Bleistiftstrichen bestehen, sind als unstatthaft zu vermeiden.
Etwaigen Polen ist, falls sie sich nicht der Deutschen Geschäftssprache bedienen und in ihr verständigen wollen, in geeigneter Weise zu bedeuten, daß sie dann wegen der erforderlich werdenden Zuziehung eines Dollmetschers an den einzelnen Tagen erst zu Schluß des Geschäfts vorgenommen werden könnten. [...]
Dieses Ersuchen ist, worauf im Falle der Weitergabe der Abdrücke die letztgenannten Beamten ausdrücklich hingewiesen werden, wegen des streng vertraulichen Charakters der letzten Sätze als geheimes Schriftstück zu behandeln.[3]
Kritik
Diese genaue Anleitung lässt eine gewisse Unzufriedenheit mit der Arbeit der nachgeordneten Stellen vermuten. Landrat Schlebrügge kritisierte schon die Umsetzung der Instruktionen von 1817. Er klagte besonders über die Führung der Stammrollen, die er mit sehr mangelhaft beurteilte. Schlebrügge drohte mit Ordnungsstrafen und dem Einsatz eines Kommissars auf Kosten der Gemeinde, sollten bei der hier anzustellenden Revision Vernachlässigungen dieser Arbeit entdeckt werden. Noch einmal erläuterte er die Vorgehensweise bei der Anfertigung der Listen, fügte ein Muster hinzu, erinnerte an die Auflistung der Zugezogenen, die leicht vergessen werden konnten, wenn man sich nur an den Taufbüchern, bzw. Geburtsregistern orientierte und mahnte die Eintragungen der Todesfälle und der zurückgekehrten Heeresflüchtlinge an.
Die Stammrollen und die nach ihnen zu erstellenden Listen gaben auch später immer wieder Anlass zu Erklärungen, Ergänzungen, Abänderungen. Noch Schlebrügges Nachfolger Graf von Schmising sah sich kurz nach seinem Amtsantritt veranlasst, die früher ertheilten Vorschriften, theils zu wiederholen, theils zu ergänzen. Dem Bürgermeister Köhler in Bork schrieb er: Ich muß übrigens Ew. Wohlgeboren für die richtige und vollständige Ausstellung der Listen persönlich verantwortlich machen.
Unfugstifter
Anfang der 40er Jahre hatten sich die Militärpflichtigen des Kreises auf dem Weg zur Kreis-Ersatz-Aushebung nach Lüdinghausen wiederholt übel benommen. Von vielen unnützen Bubenstreichen, schrieb der Landrat, die es in Zukunft zu verhindern galt. Das Eigentum der Eingesessenen musste vor Verwüstungen bewahrt, Wanderer und Feldarbeiter vor Kränkungen geschützt werden. Sonstige, das Sittlichkeits-Gefühl aufs Höchste verletzende rohe Ausbrüche bübischen Muthwillens, sollten mit Entschiedenheit verhindert werden.
Landrat Schmising versicherte: Die Jugend muß froh und munter sein, sie soll nicht kopfhängerisch einherschleichen und darf also auch auf den für viele gewiß beschwerlichen Märschen nach und von Lüdinghausen in ihrem Frohsinn und ihrer Munterkeit, im Jubel und Gesang durch diese Maaßregeln nicht gehindert werden. Aber durch eine strenge Überwachung aller von den Mannschaften zu passierenden Wege wollte man der ungehemmten Äußerung des Frohsinns doch Grenzen setzen.
Für den 16. September 1844 – der Zusammenkunft der Departements-Kommission – ordnete er an, diese Wege mit zahlreichen und starken Patrouillen zu beschicken. – Die Leitung jeder Patrouille ist einem ruhigen, besonnenen aber auch beherzten Manne zu übertragen, und ist demselben Instruction zu ertheilen, wie er die Excedenten [Unfugstifter] sofort arretiren und wohin er dieselben unter sicherm Geleite abzuführen habe. Jede Patrouille wird wenigsten aus sechs starken Männer bestehen müssen, die sich jedoch, je zu zwei, in solcher Entfernung von einander ins Versteck legen mögen, daß sie eine größere Wegestrecke oder ein ganzes Terrain zu übersehen im Stande sind, aber auch auf ein verabredetes Zeichen sich schnell wieder vereinigen können. Wenn die mehreren Patrouillen dann gleichfalls mit einander in geordneter Verbindung stehen, so muß bei eigner Achtsamkeit jeder Exceß unmöglich oder doch die Aufgreifung jedes Excedenten gesichert sein. Die Gemeindevorsteher und deren Stellvertreter bekamen den Auftrag, in Absprache mit den Kollegen der Nachbargemeinden die Strecken abzureiten und die Patrouillen zu kontrollieren.
Amtmann Stojentin schickte diese landrätliche Verfügung zu den Gemeindevorstehern. Schulze Wethmar sollte mit seinem Stellvertreter Schulze Pelleringhoff die Strecken von Döttelbeck bis an Seidenpfennig, so wie auf dem Wege der durch Altstedde und Nordlünen nach Lünen führt kontrollieren; Schulze Weischer und Stellvertreter Wormstall auf dem Wege von Selm nach Lüdinghausen bis an Schulze Osterhaus und von Selm nach Bork bis an den Juden Kirchhof patrouillieren; Hördemann und der Gemeindeverordnete Richter für den Weg von Bork nach Selm bis an den Judenkirchhof und von Bork nach Lünen bis an Seidenpfennig zuständig sein.
Ein leichter Arbeitstag wurde das für die Eingeteilten nicht. Um zwei Uhr nachts begann die Schicht für die Patrouillen in Altlünen. Bis halb vier mussten sie ausharren und um 14 Uhr für den Rückweg der Mannschaften wieder zur Stelle sein. Die Borker hatten am Morgen von drei bis fünf Uhr Dienst und am Nachmitttag ab halb zwei. In Selm begannen die Aufpasser morgens um vier und blieben bis um halb sieben, nachmittags mussten sie um ein Uhr wieder antreten. Für alle endete die Aufsichtspflicht um 22 Uhr.
Februar 2019
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[1] Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006, S. 9f.
[2] und folgendes Zitat: StA Selm, AB-1 – 556.
[3] StA Selm, AB-1 – 567.