Der Schulinspektor erstattet Bericht
Christel Gewitzsch
Im Kreis Lüdinghausen waren Anfang der 1830er Jahre vier Inspektionsbezirke für die Elementarschulen gebildet worden. Die Gemeinde Selm gehörte zum ersten Bezirk zusammen mit Lüdinghausen, Seppenrade und Olfen; während Bork mit Cappenberg und Altlünen dem vierten Bezirk zugewiesen wurden, zu dem außerdem Werne und Nordkirchen gehörten. Für alle vier Bezirke lag die Schulaufsicht zuerst in den Händen von Pfarrern. Den vierten Bezirk, mit dreizehn Schulen, bearbeitete der Landdechant Dalmöller aus Werne, ab 1848 Pfarrdechant Overhage. Für den ersten Bezirk war der Pfarrer und ebenfalls Landdechant aus Lüdinghausen Rohling zuständig. Er musste vierzehn Schulen beaufsichtigen.(1) Ihm folgte 1874 der Realschullehrer Wallbaum.
Der Bericht über das Volksschulwesen im Dienstinspektionsbezirk Lüdinghausen, Kreis Lüdinghausen im Jahre 1832(2), erstellt vom Schulinspektor Rohling, beginnt - wie die Berichte aus den folgenden Jahren auch - mit einer Beschreibung des allgemeinen Zustands der Schulen. Zuerst werden die Veränderungen genannt, die sich beim Personal ergeben haben, dann folgt eine pauschale Beurteilung des Lehrpersonals. Das liest sich für 1832 so: Die Lehrer und Lehrerinnen sind unbescholten in ihrem Betragen, und zeigen regen Eifer für Besorgung des Unterrichts und Beförderung der Erziehung. Nur über das Betragen des Hülfslehrers Hertkens in Seppenrade ist Klage geführt, wovon Erwähnung geschehen wird im speziellen Bericht.
Über die Unterrichtsfortschritte schreibt der Inspektor: Unterricht und Erziehung sind in allen Schulen, mit Ausnahme der Schulen in Tüllinghof und Elvert, deren Lehrer alt sind, in genügendem Fortgang; in der Religion und biblischen Geschichte sind die Kinder durchgängig nach ihrem Alter und ihren Fähigkeiten gut unterrichtet, eben so, hier und da vorkommende Mängel abgerechnet, im Lesen und Schreiben, und bei den ersten Klassen im Kopf- und Tafelrechnen. In den Haupt- und auch in einigen Nebenschulen werden die Kinder im schriftlichen Ausdruck geübt und mit den Hauptregeln der Sprache und Rechtschreibung bekanntgemacht; einige Nebenschulen sind hierin noch mehr zurück, und in einigen derselben fehlt auch noch die Uebung im Gesang. – Von dem guten Willen der Lehrer und ihrem Eifer, durch die Conferenzen belebt und erhöhet, läßt sich ein verhältnißmäßiger Fortschritt in allen Fächern der Schule und bei allen Klassen derselben erwarten.
Es folgen Schilderungen des Zustands der Schulgebäude, der Ausstattung der Schulen, Bemerkungen über den Schulbesuch und die Abgrenzung der Schulbezirke.
Zur Einschätzung der Bezahlung der Lehrer und Lehrerinnen genügte dem Schulinspektor ein Satz: Die Einnahme der Schullehrer ist bei einigen sehr kärglich.
Seit 1831 versuchte die Regierung, die Unterrichtung der Mädchen im Stricken, Stopfen und Nähen zu befördern. Während diese Bemühungen noch in den Anfängen steckten, wurde die Anlage von Obstbaumschulen für die Jungen in den Hauptschulen schon als abgeschlossen dargestellt. Bei manchen Nebenschulen fehlten sie noch, dafür erhielten in einigen Schulen auch die Knaben Unterricht in den Handarbeiten. Zum Schluss der allgemeinen Zustandsbeschreibung wird die Einführung der Schulvorstände und deren Mitwirkung zum besten der Schulen bestätigt.
Im zweiten Teil geht der Schulinspektor auf die einzelnen Schulen seines Bezirks ein. 1832 schrieb er zu der Schule in Selm:
1. Betragen des Lehrers Herrn Schwenniger und
2. Unterricht und Erziehung wie im allgemeinen Bericht. Die beiden ersten Klassen haben eine vorzügliche Fertigkeit im Kopf- und Tafelrechnen, und wissen sich gut schriftlich auszudrücken. Bei dem beschränkten Raum der Schule für 220 Kinder, wodurch die Wirksamkeit des Lehrers gehindert und der Fleiß der Kinder gestört wurde, kann die im Herbst vorigen Jahres erfolgte Trennung der Schule für die Zwecke derselben nur förderlich seyn.
3. Das Schulgebäude ist alt, und hat eine niedrige Lage. In dem Schulzimmer bedarf der Fußboden, wenn der projektirte Neubau einer Schule nicht zu Stande kommt einer bedeutenden Ausbesserung.
4. Wandfibeln fehlen; die Landkarten gehören dem Herrn Pfarrer.
5. Der Schulbesuch, wie im allgemeinen Bericht.
6. Die Einnahmen des Lehrers beim Schulbestand von circa 220 Kindern beträgt mit Einschluß dessen, was er als Organist bezieht, und mit der Zulage 210 T.; wovon er jetzt nach erfolgter Trennung der Schule 80 T. verloren hat: wonach ihm mit dem bewilligten Zuschuß aus der Gemeindekasse zu 20 T., nur 150 T. bleiben, die kaum hinreichen, ihn mit seiner Familie anständig zu ernähren. Durch den von seiner Frau mit höheren Orts ertheilten Erlaubniß angefangenen Kleinhandel hofft er doch seine Subsistenz gebessert zu finden.
7. Obstbaumsch. ist da.
8. Die Mädchen wurden bis dahin zum Stricken angeleitet.
Über die Arbeit der in Selm neu eingestellten Lehrerin Anna Zurbrüggen äußert sich Rohling nach ein paar kurzen Bemerkungen zum Lehrer Schwenniger ein Jahr später.
I. Selm
a. Knaben-Schule
Der Lehrer Henrich Schwenniger hat Sprachkenntnisse und ist gewandt im Rechnen. Er ist zugleich Organist und hat eine gute Stimme und gutes Gehör.
Die Kinder sind gut unterrichtet; die beiden ersten Klassen werden auch im Choral-Gesang unterrichtet und sind schon gut darin geübt.
b. Mädchen-Schule.
1. Die Lehrerin Anna Zurbrüggen zeigt Fleiß und Eifer, es fehlt ihr nicht an faßlichen Vortrag, und die Kinder bestanden in der Prüfung zur Zufriedenheit.
2. Schulgebäude fehlt. Der seit lange projektirte Neubau der Schule wird um so mehr im künftigen Frühjahr ausgeführt werden müssen, da dem Vernehmen nach das angemiethete Schullokal von dem Eigenthümer nur bis künftigen Herbst als solches belassen werden will.
3. Die nöthigen Lehrmittel sind vorhanden.
4. Der Schulbesuch ist meistens regelmäßig.
5. Einnahmen der Lehrerin beträgt mit Einschluß der Zulage zu 20 T. und des Zuschusses aus der Gemeindekasse zu 20 T. 120 bis 130 T.
6. Im Stricken, Stopfen und Nähen werden die Kinder regelmäßig in der Woche unterrichtet.
In den darauffolgenden Berichten – sie liegen nicht für jedes Jahr vor – fallen die Beurteilungen für die beiden Selmer Lehrkräfte meist ähnlich aus. Die Kinder lasen gut bis befriedigend, konnten den Lesestoff klar wiedergeben und auch ihre Aufsätze waren gut geordnet ohne bedeutende Fehler. (Manche Lehrer ließen die Schüler ihre Aufsätze allerdings erst nach erfolgter Korrektur des Vorgeschriebenen in die Hefte eintragen.) Für besonders erwähnenswert erachtet Rohling immer wieder die Fähigkeit der Schüler und Schülerinnen, Bindewörter zu benutzen. Kenntnisse in der Religion und der biblischen Geschichte hob er ebenso positiv hervor.
Im Rechnen zeigten sich alle Klassen bis zur Regel de tri, dem Dreisatz, geübt. Die Knaben lösten auch Aufgaben in der Bruchrechnung. In fast jedem Bericht lobte der Inspektor die schöne Handschrift der Kinder und ihren guten Gesang. Lehrer Schwenniger ließ die Schüler zu Anfang und am Ende seiner Prüfungsstunde ein Lied dreistimmig singen. Auf das Singen wurde in den Elementarschulen immer großen Wert gelegt. Wohl weniger in der Einsicht des Diesterweg‘schen Wortes, dass dem Menschen im Gesange ein Quell der edelsten Freuden geöffnet(3) sei, sondern in der Erwartung, bei der musikalischen Begleitung der Gottesdienste nicht unangenehm aufzufallen.
Während des Unterrichts (man bedenke die große Zahl von weit über hundert Schülern) herrschte Ruhe, wenigsten in den Prüfungsstunden. Bei den Mädchen beklagte der Prüfer allerdings ihre leise Sprache. Er führte die nicht auf eine zu große Schüchternheit zurück, sondern auf Gewohnheit. Erst später vermutete er bei einigen Mädchen zu wenig Selbstvertrauen und Befangenheit, obwohl die Lehrerin freundlich und zutraulich mit ihnen sprach. Ihre ernste Haltung dabei und ihr eigenes leises und bedächtiges Sprechen schien ihm für die Zurückhaltung besonders der Kleinen doch mitverantwortlich zu sein. Erst Mitte der 50er Jahre, als der Inspektor der Mädchenschule insgesamt einen Leistungsanstieg attestierte, schloss er einen Bericht mit dem Satz: Lehrerin und Kinder scheinen nicht mehr wie wohl früher befangen und schüchtern.
Die am 13. August 1855 in der Mädchenschule abgehaltene Überprüfung wich von den Routinebesuchen ab. Alle Lehrer und Lehrerinnen des Bezirks und die Pfarrgeistlichen nahmen an dem Unterricht teil. Der von Rohling darüber erstellte Bericht fiel ausführlicher als sonst aus. Deshalb hier noch mal einige Auszüge.
Die Schule bestand aus 110 Kindern welche in 4 Leseklassen abgetheilt waren.
Vor der Prüfung wurde ein Schullied einstimmig recht gut gesungen.
Nachdem die Lehrerin den Abtheilungen Arbeit angewiesen hatte, begann sie den Unterricht mit den Kleinen. Die Kleinen seit Ostern in der Schule, sie zeigten sich aufgeweckt und lebhaft, laut und kräftig buchstabirten sie Wörter im Chor und einzeln, waren aber so lebhaft bei der Sprechübung, zählten bis 20 und schreiben dann still und fleißig Wörter von der Tafel ab.
Die untere Leseklasse – 20 Kinder 1 Jahr bis 1 ½ Jahr in der Schule – las im kleinen Katechismus /:letzte Dinge des Menschen:/ im Ganzen fertig und mit kräftigem Ausdruck; die Lehrerin examinirte darüber verständlich und der Eifer der Kinder im lauten und richtigen Antworten ergaben Verständniß und Fleiß im Einlernen.
Im Zuzählen mit 3-4 und Abzählen mit 2 waren sie geübt. – Von der gelesenen Lektion hatten sie fleißig leserlich auf der Tafel geschrieben. Einige mal wurde bemerkt, daß einige während des Schreibens mit niemanden sprachen, auch, daß andere das Wort, daß sie schreiben wollten, hörbar buchstabirten, worüber sie Erinnerung bekommen.
Die 3te Klasse – 24 Kinder – las in Kellerman’s bibl. Geschichte fertig. [...] Aber der Eifer trieb sie wieder zu sehr zur Eile, und die Zeichen blieben vielfältig unbeachtet. Es hätte sich recht gut gemacht, wenn sie vor lauter Eifer und Eile, welches nachher der Lehrerin bemerkt wurde, nicht mehrfältig die Zeichen unbeachtet gelassen hätten. [...]
Das Examen der Lehrerin war geeignet das Gelernte zum besseren Verständniß zu führen und auf die Frage, was sie aus der Lektion lernen könnten, wurde eine und andere Lehre richtig angeführt. Es muß daraus erkannt werden, daß die Lehrerin es mit dem mechanischen Ablesen nicht abgethan sein läßt. Mehrere Lektionen wurden gut erzählt und zeugte dieses für den Fleiß der Kinder.
Die beiden oberen Klassen – die 2te 24 Kinder die erste 27 – lasen zusammen.
1863 schrieb der neue Schulinspektor Kersting seinen ersten und in dieser Akte auch einzigen Bericht. Rohling hatte zwei Jahre vorher schon wegen einer verspäteten Abgabe aufgrund vielfältiger und anderweite Amtsgeschäfte und Dienste um schonende Nachsicht gebeten. Kersting sah die Lage in Selm ein wenig kritischer als sein Vorgänger, so schrieb er über die Knabenschule mit 134 Kindern: Der Lehrer Schwenniger ist guten Willens, leidet schon lange stets an einem wunden Fuße. Bei der Schulprüfung fehlten 50 Kinder, welche an den Masern erkrankt waren. Von der [?]-Klasse waren nur 2 Kinder gegenwärtig. Der Hauptfehler der Schule besteht darin, daß die Kinder zu wenig geweckt und lebendig sind. Wäre eine gehörige Lebendigkeit vorhanden, so dürften geringe Mängel wie die unrichtige Betonung beim Lesen leicht gehoben, sonst können die Leistungen der Kinder in den einzelnen Unterrichtsfächern und in den schriftlichen Arbeiten befriedigen.
Zu den 126 Schülerinnen der Mädchenschule bemerkte er: Bei der Conferenz, womit die Schulinspektion verbunden war, fehlten mehrere Kinder, welche an den Masern erkrankt waren. Die Lehrerin ist fleißig. Die Kinder sind still und geweckter als die der Knabenschule. Die einzelnen Abtheilungen befriedigen rücksichtlich ihrer Leistungen, im Lesen wird die erforderliche Gewandtheit und richtige Betonung vielfach vermißt.
In vielen anderen Akten sind weitere Details über die Freuden und Beschwernisse der Lehrer und mit den Lehrern und Lehrerinnen zu finden. Mehr dazu in den anderen Texten zum Thema "Elementarschule".
Oktober 2021
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1. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Nr.676.
2. und alle folgenden Zitate, falls nicht anders vermerkt: LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Nr. 871.
3. Adolph Diesterweg (Hg.), Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer, 4. Auflage, Essen 1850, S. 559, google books.