Der Vorsitzende der Ortskrankenkasse wird zum Problem
Christel Gewitzsch
Als die Ortskrankenkasse Bork, Selm, Altlünen, Olfen Stadt und Kirchspiel am 1. Dezember 1884 mit ihrer Arbeit begann, hieß der Vorsitzende Franz Steinbusch. Er betrieb in Bork eine Ziegelbrennerei und war auf der ersten Generalversammlung der Kassenmitglieder im August als einer der beiden Vertreter der Arbeitgeberseite in den Vorstand und später von diesem zum Vorsitzenden gewählt worden.
Als es vorher darum gegangen war, einen Rendanten zu wählen, bezeichnete Amtmann Döpper Steinbusch als einzigen der Bevollmächtigten als genügend qualifiziert für solch ein Amt. Deshalb machte man wohl, nachdem Steinbusch schon den Vorsitz übernommen hatte, den Steuer-Empfänger Clerck zum Rendanten.
Steinbusch macht sich an die Arbeit
Steinbusch kümmerte sich gleich zu Anfang intensiv um die Belange der Kasse. Zuerst sah er genau hin, ob die Arbeitgeber der Aufgabe nachkamen, die bei ihnen angestellten Pflichtversicherten pünktlich anzumelden. Darüber hinaus prüfte er, welche Arbeitgeber ihre Arbeiter fälschlicherweise aus der Versicherungspflicht hinausdefinierten, sowie er auch misstrauisch wurde, wenn Arbeitnehmer behaupteten, der Versicherungspflicht durch den Beitritt zu einer Hilfskasse zu entgehen. Er beobachtete die Ortskrankenkassen in der Nachbarschaft, um herauszufinden, ob sie Versicherte aus „seinem“ Bezirk unter Vertrag genommen hatten und legte Rechtsmittel ein, die zu einigen Strafverfügungen gegen Säumige führten.
Mitte des Jahres 1885 veranlasste Steinbusch die Gemeindevertretung von Bork, bzw. den Amtmann, sich um die Niederlassung eines Arztes zu kümmern. Seit Anfang des Jahres gab es keinen Arzt in Bork und Steinbusch klagte, dass die Hinzuziehung eines auswärtigen Arztes nicht nur für die Kranken zu gefährlichen Verzögerungen, sondern für die Kasse auch zu höheren Kosten führte. Aktiv in dieser Sache wurde Amtmann Döpper allerdings erst 1888.
Steinbuschs Arbeit wurde offensichtlich anerkannt. Als er Ende 1886 satzungsgemäß aus dem Vorstand ausschied, wurden er und die beiden anderen Ausscheidenden wiedergewählt und Steinbusch danach auch in seinem Vorsitz bestätigt. Die kurz darauf erfolgte Revision der Kassen durch den Amtmann (neben der Ortskrankenkasse musste auch die Betriebskrankenkasse der Eisenhütte Westfalia überprüft werden), ergab keine Mängel; beide Kassen, so Döpper, wurden correct geführt.[1]
Trat Steinbusch zurück?
Nach der Generalversammlung am 18. Januar 1891 konnte Steinbusch dem Amtmann erneut melden, dass er wieder in den Vorstand und auch zum Vorsitzenden gewählt worden war. Doch ein Jahr später teilte der Schriftführer, der Werkmeister Heinrich Cirkel aus Dahl, dem Amtmann mit, dass Steinbusch in der Generalversammlung vom 23. Dezember 1891 sein Amt mit dem 1. Januar 1892 niedergelegt hatte. Cirkel erläutere: Obschon, wenn die letzte Wahl den Vorschriften entsprochen hätte, der F. Steinbusch noch auf einige Jahre gewählt ist so ist der Vorstand und zweifellos auch die Generalversammlung der Kasse mit diesem freiwilligen Rücktritt des Steinbusch bestens einverstanden und der Last enthoben, denselben im Beschwerdewege aus seinem Amte zu entfernen. Durch das Ausscheiden des Steinbusch ist die Neuwahl eines Vorstandsmitgliedes aus den Arbeitsgebern nöthig geworden und habe ich hierzu eine Generalversammlung auf den 20. d. M. [März] im Locale des Wirths Theodor Richter hirs. einberaumt.
Durch Beschluß des Vorstandes vom 6. d. M. ist bis auf Weiteres das Amt des Vorsitzenden auf mich übertragen worden, denn der stellvertretende Vorsitzende der Kasse Knümann zu Selm hat sich geweigert, der an ihn ergangenen Einladung zur Vorstandssitzung nachzukommen.
Steinbusch arbeitet weiter
Dieser ganze Vorgang war bald Schnee von gestern. Gegen die Ersatzwahl auf der Generalversammlung vom 20. März wurde von der Firma Haarmann, Kopp & Co. aus Düsseldorf, die in Dahl eine Holzfirma betrieb, Einspruch eingelegt, weil sie nicht statutengemäß anberaumt, indem dieselbe nicht eine Woche vorher im amtlichen Kreisblatt publizirt worden war. In diesem Zusammenhang hatte die Firma nachgefragt, ob ihr Borker Vertreter Herr Beckmann sie bei der nächsten Versammlung vertreten dürfe. Amtmann Döpper bestätigte dies und handelte sich deshalb eine Beschwerde Steinbuschs ein, der die Niederlegung seines Amtes in der Zwischenzeit wohl verdrängt hatte.
Döpper sah sich zu einer längeren Rechtfertigung gegenüber dem Landrat genötigt. Zuerst begründete er seine Entscheidung zu der Vertretungsmöglichkeit. Die Statuten sagten zwar, dass ein Arbeitgeber nicht vertreten werden dürfte, doch meinte Döpper, dass dies nur auf die im Bezirk wohnenden Arbeitgeber zutreffen könne. Dem Inhaber der Firma, dem Ingenieur Kopp, wohnhaft in Düsseldorf und sehr oft auf längeren Geschäftsreisen unterwegs, dürfe es nicht zugemutet werden, für die Generalversammlungen nach Bork anzureisen. Da die Firma aber einen Anspruch auf Vertretung in der Ortskrankenkasse hatte, müsste dieses durch den in Bork anwesenden Beckmann möglich sein, so wie es auch schon jahrelang die Kielmannsegg‘sche Brauerei in Cappenberg praktizierte, die sich ohne, dass irgendein Einwand erhoben worden war, durch den Herrn Lindemann vertreten ließ.
Im zweiten Teil seines Schreibens ging Döpper zum ersten Mal ausführlich auf die Person des Beschwerdeführers ein: Steinbusch scheint überhaupt die Stellung eines Vorsitzenden der Ortskrankenkasse zur Aufsichtsbehörde [Amtmann] auch nicht zu begreifen und dürfte es angezeigt erscheinen, demselben hierüber geeignete Belehrung zu kommen zu lassen. Was die Stellung des Steinbusch den Kassenmitgliedern gegenüber anlangt, so ist hier bisher zwar eine offizielle Beschwerde gegen den Genannten nicht eingegangen, nichtsdestoweniger ist es mir nicht unbekannt, daß der Genannte wegen seiner Schroffheit gegen die Kassenmitglieder und wegen der Schwierigkeiten welche er denselben machen soll, bei den letzteren nichts weniger als beliebt oder geachtet ist und daß seitens dieser gern gesehen würde, wenn ein Anderer die Geschäfte der Kasse leitete. Döpper fügte an, nachträglich von dem Rücktritt des Steinbusch gehört zu haben. Bei seiner Rücktrittserklärung soll der Vorsitzende, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, das Protokollbuch und die Kassenbücher weit von sich geworfen haben. Nun war der Amtmann unsicher, ob Steinbusch noch als Vorsitzender anzusehen sei.
Steinbusch und Busch
Wegen der stark beschädigten Akte ist dieser Vorgang nicht weiter zu verfolgen. Festzustellen ist allerdings, dass Steinbusch noch 1900 als Vorsitzender fungierte. Mit dem seit 1895 amtierenden Amtmann Busch legte er sich laut einer Akte des Kreises Lüdinghausen im Jahr 1898 an, indem er sich beim Landrat über die schleppende Bearbeitung seiner Eingaben beschwerte.
Busch erklärte: Weiter aber muß ich gestehen, daß die fortwährenden Streitigkeiten des p Steinbusch mir die Bearbeitung seiner Angelegenheiten ganz ungeheuer widerwärtig machen. Steinbusch lebt bekanntlich so zu sagen mit der ganzen Welt einschließlich seiner nächsten Familie in Unfrieden und nützt auch seinen Posten bei der Ortskrankenkasse dazu aus, andern Leuten aus purer Streitsucht Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ganz besonders sind es dann die Mitglieder der Innungs-[Kasse] bezw. deren Leiter (Hentzel, Muhlenbeck, Bielefeld usw.) denen er immer etwas anzuhaben bestrebt ist. Dieses Gebahren ist ihm schon wiederholt vom Vorstand, wie mir noch kürzlich Herr Lenz von Lünen, der auch dem Vorstand angehört, mittheilte, verwiesen worden. Auch mir werden sehr oft Beschwerden vorgetragen, ich halte aber stets die Leute von weiterem Vorgehen zurück, weil man nicht verhehlen kann, daß Steinbusch bei allen seinen unschönen Eigenschaften die Listenführung für die Kasse ganz gut macht.
Ich werde mir zur Regel machen für die Folge die Steinbuschen Eingaben nach Möglichkeit gleich zu erledigen.[2]
Das letzte Gefecht
Die nächste Beschwerde Steinbuschs löst allerdings eine so gründliche Klärung aus, dass er in Folge selbst als Verlierer vom Platz ging. Der Vorsitzende hatte sich an den Regierungspräsidenten gewandt und war an den Amtmann zurückverwiesen worden. Als der Landrat dann seine vorgesetzte Behörde wieder in Kenntnis setzte, bedauerte er, daß der Amtmann nicht schon früher eingeschritten [war] und auf die Beseitigung des Steinbusch als Vorstandsmitglied hingewirkt hatte.
Für seinen Bericht hatte der Landrat sich gründlich einarbeiten müssen und eine Verlängerung seines Abgabetermins erbeten. Dann musste er von einigen Unregelmäßigkeiten berichten. Die letzte Wahl Steinbuschs zum Vorsitzenden war 1892 vor sich gegangen. Danach hatten keine Wahlen mehr stattgefunden und fast alle Protokolle waren seit 1897 von Steinbusch selber geschrieben worden. Der Landrat kam zu dem Schluss, dass Steinbusch seit 1895 zu Unrecht als Vorsitzender tätig war und deshalb die vollständige Neuwahl des Vorstands, die die Aufsichtsbehörde vorgenommen hatte, zu Recht erfolgt war. Der Beschwerdeführer sei demnach abzuweisen.
Der Regierungspräsident lies mit seiner Entscheidung auf sich warten. Dem Amtmann brannte die Causa Steinbusch allerdings auf den Nägeln. Er rief den Landrat zur Hilfe: Im Interesse der Ortskrankenkasse und auf mehrfachen Antrag des Vorstandes derselben, sowie behufs Wahrung der behördlichen Autorität bitte so gehorsamst wie dringend auf Grund meiner Berichterstattungen dem Steinbusch die endliche Herausgabe der Akten u Utensilien der Kasse, welche er zum Hohn in eine Hütte in Netteberge verschleppte hat, aufgeben zu wollen. Der Vorstand kann ohne diese Sachen nicht mehr arbeiten.
Eine Verfügung des Landrats erreichte er damit nicht; kurz darauf schrieb er noch einmal an ihn: K.H. mit dem Berichte zurück, daß ich ohne Verfügung meiner vorgesetzten Behörde gegen St. nichts unternehmen darf, da der Genannte so tief gesunken ist, daß er kein göttliches und weltliches Gesetz mehr respektirt, der sich nur darin gefällt und nur darauf bedacht ist, seine Mitmenschen ohne Ausnahme zu chicaniren und das Ansehen aller Behörden in den Koth zu ziehen. Von einem befreundeten Staatsanwalt ist mir sogar auf private Anfrage der Rath zutheil geworden, vor Bestehen einer besonderen Verfügung in keiner Weise vorzugehen.
Nun wird aber der Zustand bezüglich der Kassenverwaltung wegen des Fehlens der Entscheidung des Herrn Regierungspräsidenten ein ganz unhaltbarer und das Mißtrauen der Mitglieder wird immer größer. Der Vorsitzende Herr Zilch erkundigt sich Tag für Tag nach dem Stand der Angelegenheit.
Ich bitte daher hierdurch nochmals so gehorsamst wie dringend, den Herrn Präsidenten um Erlaß der Verfügung ersuchen zu wollen oder aber mich mit Weisung zu versehen, ob ich etwa direct bei ihm eine Audienz zum mündlichen Vortrage in der Angelegenheit nachsuchen soll.
Dazu kam es nicht mehr. Der Regierungspräsident hatte inzwischen geantwortet, aber nicht entschieden. Er hatte noch einige Fragen. Der Briefwechsel zwischen den Behörden ging weiter, gespickt mit Paragrafen, Daten und Statuteninterpretationen. Dabei wurde auch die Neuwahl des Vorstandes von 1900 als formell nicht vorschriftsmäßig vor sich gegangen bemängelt und vom Landrat erneut angeordnet. Busch bat, den Termin zur Erledigung dieser Angelegenheit bis zur angemessenen Zeit nach Eingang der vielbegehrten Entscheidung des Herrn Regierungspräsidenten aussetzen zu wollen. Der Kassenvorstand weigert sich vorher eine Versammlung anzuberaumen und mir gar persönlich ist es ungemein peinlich, den Leuten sagen zu müssen, daß in dieser Angelegenheit Entscheidung noch nicht vorliegt, nachdem der schurkische Steinbusch seit 8 Monaten Behörden und Kassenmitglieder verhöhnt und verleumdet hat.
Es muß unbedingt jetzt schleunigst Wandel geschaffen werden und frage ich hierdurch nochmals an, ob ich dieserhalb persönlich beim Herrn Regierungspräsidenten vorstellig werden soll.
Amtmann Busch drang mit seiner Bitte nicht durch. Er solle tätig werden, wurde ihm beschieden, aber erst durch eine allen Anforderungen entsprechende Wahl könne er die Herausgabe der Akten erzwingen. Dann wurde er belehrt, dass, um Klagen zu vermeiden, der blau unterstrichene Ausdruck (schurkisch) nicht in einen amtlichen Bericht gehöre. Busch reagierte unleidlich und schrieb zu seiner Verteidigung, dass er nur den Character des Steinbusch treffend bezeichnen wollte und diese Bezeichnung keinen Grund zur Klage liefern könnte, da der hierbei Injurierte völlig fehlt.
Mitte Juni 1901 traf endlich die Entscheidung des Regierungspräsidenten ein. Sie war an Steinbusch gerichtet. Zu Anfang wies der Absender wegen Nichtzuständigkeit den Teil der Beschwerde zurück, der von den persönlichen Streitigkeiten des Steinbusch mit dem Amtmann handelte. Danach gab der Präsident sein Plazet für zwei weitere Entscheidungen des Amtmanns und machte Steinbusch klar, dass er seit dem 1. Januar 1899 dem Vorstand nicht mehr angehörte. Er fuhr fort: Als Vorsitzender fungiren Sie bereits seit 1897 zu Unrecht, da Ihre Wahl zum Vorsitzenden 1892 zuletzt erfolgte.
Da ein geordneter Vorstand nicht vorhanden war, hatte die Aufsichtsbehörde, gemäß § 37 Abs, 6 des Statuts das Recht zur Einberufung einer Generalversammlung, welche einen neuen Vorstand zu wählen hatte. Die auf Grund dieser Bestimmung abgehaltene Generalversammlung vom 11. November1900 konnte allerdings wegen Mängel bei der Einberufung keine gültigen Beschlüsse fassen. Indessen ist inzwischen die Vornahme einer formell rechtgiltigen Neuwahl der Vorstandsmitglieder angeordnet und durchgeführt.
Da Sie hiernach bei der Geschäftsführung der Kasse nicht mehr betheiligt sind, muß ich Sie auffordern, bei der Vermeidung von Zwangsmaßregeln die in Ihrem Besitze befindlichen Akten, Bücher und sonstigen Utensilien der Krankenkasse dem Herrn Amtmann Busch dortselbst auf seinem Arbeitszimmer an einem von demselben zu bestimmenden Zeitpunkte zu übergeben.
Die im vorletzten Satz erwähnte Neuwahl hatte allerdings wegen der Bedenken des Amtmanns noch immer nicht stattgefunden, wurde aber nach Erhalt des Schreibens noch im selben Monat abgehalten. Zilch wurde wieder zum Vorsitzenden gewählt. Busch erklärte sich noch einmal: Aus den mehrfach vorgetragenen Gründen durfte und konnte die Wahl nicht eher vorgenommen werden und hat sich der Vorstand auch entschieden geweigert vor Eingang der Entscheidung des Herrn Präsidenten Termin anzuberaumen. Es wäre im anderen Falle auch zu ganz unliebsamen Auftritten gekommen, weil vielfach angenommen wurde, daß meinerseits und seitens des Vorstandes nicht scharf genug gegen Steinbusch vorgegangen wurde. St. hat auch jetzt schon die Sachen abgeliefert, die Rückstände werden beseitigt, die Wahl, welche ja nur formelle Bedeutung hat, wird vorgenommen und Alles ist, wenn auch mit derseits unverschuldeter Verzögerung in Ruhe und Frieden in geordnete Bahnen geleitet.
September 2019
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[1] und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 637.
[2] und die folgenden Zitate: LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Nr. 425.