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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Die Kaiser Wilhelms-Spende und das Sozialistengesetz

Christel Gewitzsch

Kein Wort ist genügend zum Ausdrucke des Schmerzes, daß unser geliebter Deutscher Kaiser, der Einiger des Reiches, von ruchloser Hand verletzt wurde, Kein Wort ist genügend, um die Freude auszudrücken und den Dank gegen Gott, daß das Leben des Kaiserlichen Greises gerettet wurde.[1]

So schrieb der geschäftsführende Ausschuss im Auftrage des vom General-Feldmarschall Grafen von Moltke geleiteten Comités für die Wilhelms-Spende unter Vorsitz des Bürgermeisters von Berlin Duncker in seinem Aufruf an die Bevölkerung im Juli 1878.

Zweimal war 1878 das Leben des greisen 81-jährigen Kaiser Wilhelm I. in Gefahr geraten. Zweimal nutzen die Täter eine Fahrt „Unter den Linden“ in der offenen Kutsche, um auf ihn zu schießen. Am 11. Mai feuerte der Klempnergeselle Max Hödel zwei Pistolenschüsse auf den Kaiser ab, traf ihn aber nicht. Der Attentäter konnte festgenommen werden. Er trug Bilder von Bebel und Liebknecht bei sich, war aber, wie sich der Leipziger „Vorwärts“ zu versichern beeilte, wegen parteischädigenden Verhaltens aus der Sozialistischen Arbeiterpartei ausgeschlossen worden.[2] Hödel wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, das Urteil im August des Jahres mit dem Beil vollstreckt.

Das zweite Attentat verübte am 2. Juni der Landwirt Dr. Karl Eduard Nobiling. Er schoss mit einer Flinte auf den Kaiser und verletzte ihn schwer. Als Nobiling sich entdeckt sah, richtete er die Schusswaffe auf sich. Im September 1878 starb er an den Folgen dieses Selbstmordversuchs.

Nach dem zweiten Attentat wuchs die Empörung in der Bevölkerung. Die Sympathien waren ganz auf der Seite des Kaisers und das Land fiel in einen hysterischen Zustand, in dem das Mitleid mit dem verwundeten Monarchen schlimme Formen annahm.[3] Viele Anzeigen wegen Majestätsbeleidigung gingen bei der Polizei ein, und die Gerichte ahndeten harmlose Bemerkungen mit langjährigen Freiheitsstrafen.

Einer wusste besonders, die Stimmung für seine Ziele zu nutzen. Schon nach dem ersten Attentat versuchte Reichskanzler Otto von Bismarck ein Gesetz gegen die Sozialdemokraten im Reichstag durchzusetzen, was - erwartungsgemäß - nicht gelang. Die Ablehnung im Reichstag war einkalkuliert, Bismarck wollte Liberale und Zentrum vor dem erschreckten Wählervolk „vorführen“.[4] Nach dem zweiten Attentat aber, nach dem der Reichstag aufgelöst wurde und Bismarck sich mit Vehemenz in den Wahlkampf stürzte, konnte der Reichskanzler sicher sein, Mehrheiten für seine Politik zu bekommen. Der neue Reichstag stimmte am 19. Oktober dem „Reichsgesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zu. Damit bekamen die Polizeibehörden umfangreiche Befugnisse gegen alle Aktivitäten, die mit sozialdemokratischen und sozialistischen Zielen in Verbindungen zu bringen waren, gegen Organisationen, Zeitschriften, Bücher und Personen. Nur das aktive und passive Wahlrecht blieb verschont.

Der oben genannte Ausschuss des Komitees für die Kaiser-Wilhelm Spende richtete die Stimmung in der Bevölkerung auf eine andere Sache. Er setzte sein Schreiben fort: Wo aber das Wort versagt, ist zu allen Zeiten ein äußeres Opfer dargebracht worden. So möge also Jeder zur Wilhelms-Spende ein Kleines beisteuern als Ausdruck des Schmerzes und des Leides, aber auch als Ausdruck der Freude und des Dankes, und jedes deutsche Gemüth möge sich daran erquicken, daß es beitrug, seinem Kaiser für den Ihm von Einzelnen angethanen Schmerz millionenfältige Freude zu bereiten.

Das Schreiben warb für die vom 20. bis 22. Juli angesetzte Sammlung. In allen Städten und Dörfern des Deutschen Reiches, in Schule und Haus, bei den Deutschen aller Religions-Bekenntnisse sollen die Hände sich regen zur Darbringung dieser Spende. Mann und Frau, Kind und Greis, ein Jeglicher soll beisteuern; denn nicht die Größe der Gabe, sondern das Gefühl, in welchem sie gegeben wird, ist von Bedeutung.

Das bedeutete konkret, dass von jeder Person nicht mehr als Eine Mark angenommen werden sollte. Auch Pfennigbeträge waren willkommen.

Schon Ende Juni hatte das Komitee die Bevölkerung über die bevorstehende Sammlung durch die Zeitungen informiert. Gleichzeitig war von Berlin eine dreiseitige Informationsschrift an alle Stadt- und Landgemeinden, selbständige Gutsbezirke, Rittergüter usw. verschickt worden, um die Organisation der Spendensammlung vor Ort zu koordinieren.

Organisation vor Ort

Die Angeschrieben wurden, um des hohen Zweckes willen, um kräftige Unterstützung gebeten. Jedem Bewohner sollte es ein Leichtes sein, seine Spende abzugeben. Für größere Gemeinden schlug der Ausschuss die Bildung von Ortskomitees vor. In kleineren Gemeinden wird es genügen, wenn der Ortsvorsteher mit Hinzuziehung einzelner geeigneter Persönlichkeiten, wobei wir insbesondere auf die Geistlichen und Lehrer hinweisen, die erforderlichen Veranstaltungen unmittelbar in die Hand nimmt.

Zu organisieren waren die örtlichen Bekanntmachungen, die Benennung der Sammler und Einrichtung der Sammelstellen und das Verwalten der Sammelbogen. Die Annahme der Gelder übernahmen 36 Bankhäuser, die wiederum die Spenden an die Königliche Seehandlung in Berlin, die das Schatzmeisteramt übernommen hatte, abführten. Für die Provinz Westfalen ging das Geld an das Bankhaus Sal. Oppenheim jun. & Co. in Köln.

Landrat Graf von Wedel erweiterte diese Vorschläge. Er befürchtete, daß bei der zerstreuten Lage unserer ländlichen Besitzungen der Aufruf und namentlich der Zweck des Aufrufes nicht hinreichend bekannt werden und daß deshalb die Sammlung der Wilhelm Spende ein Resultat ergeben dürfte, welches mit der bekannten Treu und Liebe zu unserem Heldenkaiser nicht in Einklang stände. Deshalb schlug er vor, für jede Bauerschaft ein Komitee zu bilden, deren einzelne Mitglieder die Erreichung des Zweckes des Aufrufes sich zur besonderen Aufgabe machen. Vier Tage später gab er den Rat, die Sammlung eventuell in Form einer Collecte stattfinden zu lassen.

Am 4. August 1878 überwies Amtmann Döpper die Spendengelder und informierte den Landrat. In der Gemeinde Bork waren von 484 Gebern 66,53 Mark, in Selm von 328 Gebern 11,70 Mark und in Altlünen von 162 Gebern 36,40 Mark gespendet worden, zusammen also 114,63 Mark, die per Postanweisung an das Bankhaus gingen.

Die Höhe der Spenden aus Altlünen resultierte wahrscheinlich daraus, dass in Wethmar die Eisenhütte Westphalia die Sammlung übernommen hatte. Aus Cappenberg schickte Lehrer Bathe das Geld, doch außer dem für sich abgezogenen Betrag von 3,50 Mark nannte er keinen Betrag.

Verwendung der Gelder

1.740.000 Mark waren zusammengekommen. Knapp 76 Tausend Gemeinden hatten sich beteiligt und elfeinhalb Millionen Spender trugen ihr Scherflein zu der Summe bei. Das Geld wurde Kronprinz Friedrich Wilhelm mit der Bitte übergeben, den Ertrag zur Verwendung für einen allgemeinen wohlthätigen Zweck zu bestimmen.[5] Im August 1880 teilte das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten mit, was der Kronprinz entschieden hatte. Unter seinem Protektorat war die Kaiser Wilhelms-Spende als eine allgemeine deutsche Stiftung für die Alters-Renten- und Kapital-Versicherung in Wirksamkeit getreten. ... Die Anstalt, welche nicht den Erwerb zu Gunsten irgend welcher bei ihrer Einrichtung und Verwaltung betheiligten Personen, sondern den Nutzen und die Wohlfahrt des ganzen Deutschen Volkes zum Zweck hat, ist nicht allein für den Arbeiterstand im engeren Sinn, sondern auch für andere Berufsstände, insbesondere auch für weniger günstig gestellte Beamte, für Geistliche und Lehrer, für Gutsbesitzer und Bauern, für Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker bestimmt. Auch die einer Versorgung gerade wegen ihres anstrengenden Berufes durchaus bedürftigen Krankenwärter sind hierher zu rechnen.

Die Königlichen Regierungen, Konsistorien und Provinzial-Schulkollegien sollten ihre Untergebenen über diese Versicherung informieren und für die Übernahme von Agenturen und Sammelstellen werben.

Der Sitz der Stiftung war in Berlin in der Mauerstraße 85. Von da aus erfolgte die weitere Korrespondenz. Anfang 1881 wandte sich die Direktion erneut an den Landrat des Kreises Lüdinghausen mit der Bitte, gefälligst in Erwägung ziehen zu wollen, ob es sich nicht empfehlen möchte, wenigsten in den beiden Städten Ihres Kreises Zahlstellen, welche Auskunft ertheilen, Prospekte und Anmeldeformulare verabfolgen, zu erreichen. Es dürfte dies zur Betheiligung an unserer Anstalt anregen.

Landrat Wedel ließ das Schreiben bei allen Ortsbehörden zirkulieren. Sie sollten sich erklären, ob sie bereit seien, bei Annahme und Weiterbeförderung der für die Kaiser Wilhelm-Spende bestimmten Einlagen mitzuwirken. Eine besondere Belästigung, so fuhr er fort, würde seines Erachtens daraus nicht entstehen.

Amtmann Döpper schrieb hinter seinen Weiterleitungsvermerk nach Nordkirchen vom 13. April 1881: Zur Mitwirkung in dieser Angelegenheit erkläre ich mich bereit. Im Juni erreichte ihn der Dank der Stiftung. Mit der Zusendung der nötigen Drucksachen und Formulare verband der Absender das ergebenste Ersuchen, Sich gefälligst mit unseren Einrichtung vertraut zu machen, zur Bemühung der Anstalt anzuregen und die bei Ihnen eingegangenen Einlagen an den Herrn Bürgermeister Wormstall zu Lüdinghausen, dem die Verwaltung einer Zahlstelle übertragen worden ist, abzuführen.[6]

Die Papiere, mit denen er sich vertraut machen musste und die er in die neu angelegte Akte 181 einfügte, waren ein Prospect. Kaiser Wilhelm-Spende, der Zweite Jahresbericht der Stiftung und ein Heftchen mit den Statuten, Versicherungs-Bedingungen und Tarifen, das mit Bemerkungen des Königlichen Justizrats und Direktors der Stiftung R. Stämmler versehen war.

Weitere Entwicklung

Die Versicherung erfreute sich wachsender Beliebtheit. Die Mitgliederzahlen stiegen und bei vielen Sparkassen im Reichsgebiet wurden Zahlstellen für diese Stiftung eingerichtet.[7] Die Inflation entwerte ihr Vermögen. Durch Fusionierungen und Besitzerwechsel konnte sie ihre Arbeit fortsetzen und wurde 2006 vom französischen Versicherungskonzern AXA übernommen.

Juni 2024
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1. und weitere Zitate, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 182.
2.  Franz Herre, Kaiser Wilhelm I., Köln 1980, S. 471.
3. Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866-1945, München 1980, S. 139.
4. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, München 1992, S. 396.
5. + 6. Stadtarchiv Selm, AB-1 -181.
7. und folgendes Zitat: wikipedia.org. Kaiser-Wilhelm-Spende
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