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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Die Lieblosigkeit mancher Armenärzte         

Christel Gewitzsch

Am 2. Dezember 1847 sah sich der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Friedrich von Eichhorn veranlasst, in einem Schreiben an das Königliche Polizei-Präsidium in Berlin auf die bittren Klagen über die Lieblosigkeit mancher Armen-Aerzte[1] einzugehen. Ihm war zugetragen worden, dass die anlockende Sicherheit einer fixen Besoldung, die Hoffnung, durch die Mittelstufe eines Armen-Bezirks auch dem wohlhabenden Publikum bekannt zu werden, endlich der Wunsch, bei armen Kranken Manches zu erproben, was man bei zahlungsfähigen nicht wagen darf, überhaupt: Geldgewinn und wissenschaftliches Experimentiren werden als diejenigen Motive bezeichnet, welche bei vielen Bewerbungen um die Armen-Arzt-Stellen sich vorzugsweise geltend machen sollen. Einige sollen unumwunden erklärt haben, sich nur deshalb um die Stelle eines Armenarztes bemüht zu haben, um so viele Obduktionen wie möglich machen zu können.

Auch wenn Eichhorn fest daran glaubte, es hier mit Ausnahmen zu tun zu haben, erließ er sieben Maßregeln, die bei der Einstellung und Kontrolle von Armenärzten angewandt werden sollten. Nicht nur auf ihre wissenschaftliche Befähigung kam es an, sondern ganz besonders auf die herzvolle Theilnahme des Candidaten an dem Loos der Armen. Den Armenvorstehern trug der Minister auf, die Arbeit der zuerst nur provisorisch einzustellenden Ärzte zu beobachten und besonders darauf zu achten, ob ihnen die ärztliche Hülfe zur rechten Zeit und in rechtem Maaße erteilt wurde. Allen Beschwerden sollte sorgfältig nachgegangen werden. in jedem Dezember war Bericht zu erstatten, in die aber auch besonders positive Fälle aus dem Gebiet der Armen-Krankenpflege fließen sollten. Und wenn es um Beförderungen oder Verleihungen von Sanitätsratstiteln ging, waren Anträge chancenlos, die keine Aussagen über das Benehmen des Arztes gegenüber armen Kranken enthielten.

Das Schreiben des Ministers war hauptsächlich durch Missstände in Berlin ausgelöst worden, doch wurde es zur Beachtung in Abschrift an die Amtsstuben verschickt.

Wie wurde man Armenarzt?

Die Behandlung der armen Kranken gehörte mit zum Aufgabenfeld der Kreisphysiker und Kreischirurgen. Da sie aber schwerlich kreisweit die Armen effektiv behandeln konnten, wurden auch in manchen Gemeinden dort ansässige Ärzte zum Armenarzt ernannt. Als 1842 der Wundarzt 1. Klasse Burghard Füchten sich in Bork niederließ und ab 1846, nach dem Tode des Arztes Dr. Ridder, der alleinige Arzt in Bork war, schloss Pfarrer Pröbsting im Auftrage des Armenvorstandes im Jahr darauf einen Vertrag mit ihm über die Behandlung der hiesigen armen Kranken ab. Für acht Taler jährlich aus der Armenkasse übernahm er exklusiv deren ärztliche Versorgung. Konsultierte ein Armer einen anderen Arzt, musste er ihn selber bezahlen oder – was der wahrscheinlichere Fall war –  der Arzt blieb auf seiner Rechnung sitzen. Über die Arztwahl kam es manchmal zu Streitigkeiten, auch weil die Dringlichkeit eines Arztbesuches nicht immer mit dem Gang zum Armenarzt in Übereinstimmung zu bringen war.

Borker Verhältnisse

Offiziell wurde 1867 Hilgenberg als erster Armenarzt für Bork bezeichnet. Im Zusammenhang mit einer Krankenhauseinweisung, die infolge einer ärztlichen Diagnose vom Amtmann Foecker veranlasst worden war, fragte der Arzt beim Pfarrer von Wieck in Altlünen an, ob ein armer, obdachloser Kranker im Krankenhaus in Altlünen aufgenommen werden konnte. Drei Jahre später ist Hilgenbergs Verpflichtung die Begründung dafür, die Rechnungen des Dr. Köhler für die Behandlung eines Armen nicht zu bezahlen.

Bis 1872 blieb Hilgenberg Arzt in Bork. Als nächster Armenarzt wurde Anfang 1879 Dr. med. Joseph Finger berufen. Dieser praktizierte schon in Lünen und hatte ein Jahr zuvor Maria Catharina Zangerl aus Bork geheiratet, weshalb er auch in Bork als Arzt arbeiten wollte. Anlässlich seiner Niederlassung fragte er an, ob ihm ein Fixum gewährt würde und ob er sowohl die Armenpraxis als auch die Impfungen im Amt Bork übernehmen dürfe. Amtmann Döpper unterrichtete ihn über den Beschluss der Borker Armen-Deputation. Danach wurde ihm a. für die Behandlung der armen Kranken in der politischen Gemeinde Bork, b. für die von Polizeiwegen vorzunehmenden Untersuchungen Attestirungen und Behandlungen soweit solche die Gemeinde Bork tangiren, ein Fixum von jährlich dreihundert Mark zahlbar in vierteljährlichen Raten postnumerando[2] bewilligt. Finger nahm das Angebot bis auf Wiederruf an.

Der Widerruf kam laut Briefbogen am 4. April 1882. (Es kann auch 1884 gewesen sein, da der Amtmann dieses Jahr auf sein Antwortschreiben setzte. Angesichts eines unten geschilderten Vorfalls von 1884 und der Reihenfolge in der Akte ist das frühere Datum wahrscheinlicher.)

Finger schrieb: Einer Hochlöblichen Gemeindevertretung des Amtes Bork unterbreite ich folgendes Gesuch mit dem Bemerken, dieselben zu erwägen und geneigtest darüber zu berichten.
I. Mein Gehalt als Arzt hier in der politischen Gemeinde Bork beträgt Einhundert Thaler.
[3] Hierfür muß ich sämmtliche Arme, welche jetzt da sind und die, welche im Laufe des Jahres dafür erklärt werden, ärztlich behandeln, außerdem in amtlich-medizinischen Angelegenheiten unentgeldlich arbeiten. Nachdem ich dieses nun seit dem 1.2.1879 gethan habe, bin ich im Laufe dieser Zeit zur Ueberzeugung gekommen, daß ich für meine Mühe so viel kriege, daß ich laufen gehen muß. Mein Gesuch geht dahin:
Erhöhung meines Gehaltes als Armenarzt auf zweihundert und fünfzig Thaler unter den bestehenden Bedingungen.
II. Die versammelte Gemeindevertretung möge bei der königl. Regierung vorstellig werden, den ansässigen Ärzten die Erlaubniß zur Führung einer sogenannten Notapotheke zu ertheilen.
III. Die Gemeindevertretung möge den Herrn Landrath ersuchen, dem hiesigen Arzte die Impfpraxis im Amte Bork zu ertheilen, oder wenn dieses nicht in dessen Macht steht, das Gesuch nochmals der Kreisversammlung vorzulegen.
Sämmtliche drei Gesuche sind von Wichtigkeit für die Gemeinde selbst, als auch für mich, und bitte ich dieselben genau zu erwägen.

Die Gemeindevertretung reagierte verhalten auf die Forderungen des Arztes. Sie erhöhte sein Fixum um hundert Mark und erklärte sich bereit, die beantragte Konzession für eine Haus-Apotheke durch Mitunterzeichnung zu unterstützen. Doch sah sie sich außer Stande, Einfluss auf die Vergabe der öffentlichen Impfungen zu nehmen.

Für Finger bestand kurz darauf die Gefahr, die Armen-Arztpraxis für 1884 zu verlieren. Dr. Woldt, der sich vorübergehend in Bork niedergelassen hatte, beantragte die Übertragung für sich, weil in kleinen Orten mit 2 Ärzten dieses Amt aus Gerechtigkeitsgründen gewechselt wird. Doch bevor darüber entschieden werden konnte, war Woldt schon weitergezogen.

Genau zu dieser Zeit machte Dr. Finger durch unangemessenes Verhalten anlässlich der Erkrankung der Witwe Teisselmann auf sich aufmerksam, das den vom Minister beklagten Zuständen schon recht nahe kam. Im Januar 1884 hatte Pfarrer Schemm dem Amtmann mitgeteilt: Die Wittwe Teisselmann in Uebbenhagen ist bettlägerig krank. Da sie aus dem Armenfonds regelmäßig Unterstützung genießt, so ersuche ich Ew. Wohlgeboren ergebenst zu veranlassen, daß ihr auf Kosten des genannten Fonds ärztliche Pflege, Behandlung und Arznei zu Theil werde. Woraufhin der Amtmann die Behandlung veranlasste.

Nur einen Monat später erschien Joseph Schweer, der Schwiegersohn der Witwe, auf dem Amt und erklärte, Dr. Finger habe die weitere Behandlung der Frau verweigert und ihn beauftragt, noch einmal einen Armenschein auf dem Amt zu besorgen. Döpper reagierte angemessen empört und rückte dem Doktor den Kopf zurecht: Rücksichtlich Ihres unpassenden Benehmens, durch Zuwerfens des Ihnen ertheilten Auftrags behufs Behandlung der Wittwe Teisselmann zu Cappenberg mit den Worten „einen solchen Wisch kann ich nicht gebrauchen“ habe ich heute in der Gemeinde Versammlung Vortrag gehalten.
Falls Sie ferner von mir oder von dem Gemeinde Vorsteher unterschrieben oder mündlich ertheilte Nachweisungen zur ärztlichen Behandlung armer Kranker keine Folge leisten, wird ein anderer Arzt auf Ihre Kosten zur Behandlung des betreffenden Kranken requirirt werden
.

Eine weitere Aufgabe für den Armenarzt

Berlin den 13. August 1884.
Der königlichen Regierung sind Seitens des Herrn Ministers der geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten mittelst Erlasses vom 8. Juli d. J. Schemata für die Abfassung der Sanitätsberichte der Physiker und die General-Sanitätsberichte der Regierungs- und Medizinalräthe übersandt worden.
Um den letztgenannten Beamten eine fernerweite und, wie ich annehmen darf, nicht unergiebige Quelle für die Gewinnung eines umfangreichen Materials zur Ermittelung der Häufigkeit von Erkrankungen innerhalb ihres Bezirks zu eröffnen, veranlasse ich die Königliche Regierung, thunlichst dahin zu wirken, daß überall da, wo Kommunalarmenärzte angestellt sind, dieselben, soweit dies nicht bereits geschieht, der ihnen vorgesetzten Kommunalbehörde periodische Berichte über Zahl und Art der von ihnen behandelten Krankheitsfälle zu erstatten, verpflichtet werden und daß die betr. Kommunalbehörden von diesen Berichten der Königlichen Regierung inhaltlich Kenntniß geben.
Der Minister des Innern i.V. gez. Herfurth

Als dieser Brief über die Regierung in Münster beim Landrat eintraf, musste er bei den Ortsbehörden erst nachfragen, ob in den Gemeinden Armenärzte angestellte seien. Döpper meldete Dr. med. Finger und erhielt daraufhin den Auftrag, dem Arzt einzuschärfen, alljährlich zum 10. März den erforderten Bericht ... einzureichen.

In Selm und Altlünen hatte es übrigens während all der Jahre keine Armenärzte gegeben. Hier beauftragte der Armen-Vorstand die Ärzte in jedem Einzelfall mit der Behandlung armer Kranker.

Oktober 2020
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[1] und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 319.
[2] und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 320.
[3] 1 Taler = 3 Mark.




 
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