Die Pocken
Christel Gewitzsch
Pocken, Blatternseuche, Menschenblattern – so wird die ansteckende Krankheit Variola und deren Abstufungen (Varioliden) in den Akten genannt. Auf der ganzen Welt verbreitet, übertraf sie in ihrer Gefährlichkeit zeitweise die Pest. Ein Heilmittel war nicht bekannt, aber eine Schutzimpfung gab es. Besonders wichtig waren alle Maßnahmen, die die Kranken isolierten, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Für viele Betroffene endete die Krankheit tödlich. Sie kündigt sich durch Schüttelfrost und Fieber an, dann bedecken eitrige Pusteln den Körper – besonders das Gesicht. Neben den entstellenden Pockennarben können weitere Gesundheitsschäden wie Sehstörungen, Blindheit, Hirnschäden, Lähmungen etc. zurückbleiben.
Ab März 1815 finden sich in den Selmer Akten Hinweise auf den Versuch, einer Verbreitung der Pockenkrankheit vorzubeugen. Im Kreis Essen war die Blatternseuche ausgebrochen und der damals noch zuständige Landesdirektor Freiherr von Romberg bemühte sich mit einer vierseitigen Beilage zum Westfälischen Amtsblatt Nr. 12 um Aufklärung. Er sorgte sich besonders um die Akzeptanz der Pockenschutzimpfung. In Essen war sie teilweise recht schluderig angewendet worden und dadurch in Verruf geraten. Romberg empfahl sie wärmstens und legte darüber hinaus ausführlich alle zu ergreifenden Schritte dar. Seinem Schreiben folgten weitere vier Seiten mit dem Thema Erinnerungen und Bemerkungen über die Schutzpockenimpfung, verfasst vom Landphysikus Dr. Ebermaier. Darin wurden die Impfärzte mit den Fehlern und Nachlässigkeiten ihrer Kollegen konfrontiert, um sie dann über die richtige Vorgehensweise zu belehren. Der angemessene Umgang mit der Krankheit sprach sich erst langsam herum.
Die Pocken kommen
In den beiden Akten des Selmer Stadtarchivs[1], die sich ausdrücklich mit den Menschenblattern befassen, ist von einer ortsnahen Erkrankung erst 1824 die Rede. Ein Kind in Lünen hatte die Pocken und Landrat Schlebrügge mahnte Bürgermeister Köhler zur Vorsicht. Bis 1834 blieben die Bewohner des Amtes Bork verschont, dann erkrankten vier Personen, von denen eine Frau starb.
Doktor Ridder, der diese Erkrankten behandelte, empfahl den Familien, die Stuben, worin die Kranken sich befinden, mit einer Wärterin, die die Pocken schon gehabt hat, genau abzusperren und forderte den Bürgermeister zu weiteren Maßnahmen auf, besonders auch dazu, Listen der impffähigen Kinder von Selm und Cappenberg zu erstellen. Die Königliche Regierung in Münster hatte 1831 das zu beachtende Verfahren beim Ausbruch von Pocken bekannt gemacht. Auch sie forderte die Absperrung der Krankenzimmer. Mahlzeiten u.a. sollten durch ein Fenster gereicht werden, oder, wenn das nicht möglich war, jedes Mal der Polizeidiener gerufen werden, damit dieser die Tür öffnete. Mit einer Veröffentlichung im Amtsblatt vom 10. Dezember 1833 stellte die Regierung ausführlicher die zu beachtenden Maßregeln dar: ... namentlich die allgemeine Vaccination der noch irgend Blatternfähigen, das Isoliren der Kranken mittelst der Zimmersperre und die Bezeichnung der Blatternhäuser mittelst einer Tafel, worauf die Inschrift: „Hier sind Blattern-Kranke“ ... Bei diesem allen muß aber die Polizei hauptsächlich darüber wachen, daß den Genesenen der Verkehr mit andern nicht früher gestattet wird, als bis deren Blatternkrusten allenthalben vollständig abgetrocknet und abgefallen, ihre Körper demnächst durch Baden oder Waschen gänzlich gereinigt, auch die sämmtlichen Kleidungsstücke und Effekten, womit sie während der Krankheit in Berührung gekommen einer verläßlichen Reinigung unterworfen sind.[2]
Das Impfen
Die Impfmethode des Dr. Ridder war, die Eiterflüssigkeit von Erkrankten auf Gesunde zu übertragen. Dieses Verfahren stand hinter der von dem englischen Landarzt Edward Jenner entwickelten sogenannten Kuhpockenimpfung zurück, die von dem Berliner Arzt Ernst Ludwig Heim, dem letzten Arzt der Königin Luise, 1799 in Deutschland eingeführt worden war. Jenner griff auf Erfahrungen von Mary Wortley Montagu zurück, die als Gattin des britischen Botschafters im Osmanischen Reich beobachtete, wie alte Frauen gesunden Kindern etwas Pustel-Flüssigkeit von Kranken injizierten, woraufhin die Behandelten kurz und leicht erkrankten und anschließend immun[3] waren. 1718 wandte sie diese Methode an ihrem Sohn an und setzte sich später, zurück in England, für diese Impfung ein.
Landrat Schmising erkundigte sich noch 1854 nach der genauen Vorgehensweise bei den Impfungen. Die Abteilung des Innern teilte mit, dass im Falle der Verbreitung der Pocken über mehr als ein Haus in einem Orte, eine erst einmal zwangsfreie öffentliche Impfung abzuhalten sei. Neben der Aufklärung über die drohenden Gefahren waren Listen anzulegen, um die Nichtgeimpften unter polizeilichem Zwange zu impfen. Das geschah zum Schluss entweder mit einer Vorführung bei einem festgesetzten weiteren Termin, oder – bei den Zahlungsfähigen – durch den Impfarzt in den Privatwohnungen, erforderlichen Falls selbst unter polizeilichem Beistande. Nicht zwangsgeimpft wurden nur die, die ein ärztliches Attest vorlegen konnten. Die Kosten übernahm weitgehend die Staatskasse, außer bei den Zahlungsfähigen, welche wegen Renitenz ausgeblieben waren.
Ordnungsstrafe für Köhler
1838, als vier Fälle aus der Bauerschaft Übbenhagen gemeldet worden waren, wovon wieder einer tödlich endete, wurde Bürgermeister Köhler mit einer Ordnungsstrafe von einem Taler belegt. Der Kreisphysikus Dr. Gerbaulet hatte dem Landrat berichtet, dass die polizeilichen Vorschriften von Köhler gänzlich vernachlässigt worden waren, indem weder eine Zimmersperre angeordnet noch eine Warnungstafel aufgehänget worden war. Köhler bestritt diese Darstellung. Er habe sofort den Polizeidiener Niggetied nach Übbenhagen geschickt, damit dieser die Zimmersperre einrichte. Nur eine alte Frau aus dem Haus, die die Kranken versorgte, habe Zugang zu dem Zimmer gehabt. Auch habe er Dr. Ridder beauftragt, die Maßnahmen und - nach dem Tode eines Kranken - die vorschriftsmäßige Reinigung zu überprüfen. Er selbst sei krank gewesen und habe sich deshalb nicht persönlich vor Ort umsehen können. Die gegen ihn verhängte Strafe entbehre jeder Grundlage und müsse zurückgenommen werden.
So ganz kann man Köhlers Darstellung nicht folgen. Dr. Ridder, der Impfungen in Wethmar und Übbenhagen vornahm und dabei auch den ersten Erkrankten besuchte, hatte dem Bürgermeister schon nach seinem ersten Termin in Übbenhagen Unregelmäßigkeiten gemeldet. Er schrieb: Eine Wache vor dessen Hause hatte nicht statt, dagegen ein freier Ein- und Ausgang von Menschen, die theils die Menschenpocken geholt und theils auch nicht geholt haben, Der Mensch liegt da in einem Schwitzkasten bei geschlossenen Fenstern – Anstatt Beachtung eines zweckmäßigen Verhaltens werden Mixturen zum Ueberflusse gebraucht, ... Bei Vernachlässigung einer strengen Wache usw. steht zu vermuthen, daß das Pockengift sich bald weiter verbreiten werde.
Zweifel an Köhlers Berichterstattung gegenüber dem Landrat kommen auch auf, wenn man liest, was er zwei Wochen später an den Arzt Dr. Althoff in Lünen schrieb, der die Kranken in Übbenhagen behandelt hatte. Köhler bat Althoff um Auskunft darüber, ob die Vorschriften, mit deren Umsetzung der Polizeidiener beauftragt worden war, auch wirklich von diesem angewendet worden waren, denn er müsse der landrätlichen Behörde Bericht erstatten. Mehr erfährt man nicht.
Immer wieder Pocken
Zehn Jahre lang blieben die Bewohner des Amtes Bork von den Pocken verschont. 1847, als vier Erkrankungen in Bork bekannt wurden, reagierten Amtmann Stojentin und der Chirurgus Füchten schon sehr viel zügiger als Köhler und Ridder zuvor. Unverzüglich wurden der Landrat und der Kreisphysikus informiert und die Bewohner aller Gemeinden aufgefordert, sich impfen zu lassen. Gegenüber der Borker Bevölkerung brachte Stojentin noch einmal das richtige Verhalten in Erinnerungen und führte zugleich die Höhe der Strafen an, die bei Nichtbeachtung zu erwarten waren. Wenn die Erkrankung nicht sofort gemeldet wurde, betrug die Strafe bis zu fünf Taler; die Verletzung der Krankenzimmerabsperrung kostete bis zu zehn Taler, ebenso das Verlassen des Zimmers vor der Desinfektion. Neu hinzu kam Punkt 4 der Veröffentlichung: Bei gleicher Strafe ist in Todesfällen das Ausstellen der Leichen und das Öffnen der Särge verboten, die Leiche selbst in einen gehörig verpechten Sarg zu legen und das Grab wenigstens 5 bis 6 Fuß tief zu machen. In dem Sterbehause darf außer den Geistlichen und nöthigen Kirchenbeamten nur diejenigen der Zutritt gestattet werden, welche zur Begleitung der Leich ausdrücklich angewiesen sind.
Wieder hatte man ein paar Jahre Ruhe, bis es 1852 zu 23 Krankheitsfällen in Selm und Bork kam. Man wusste inzwischen, was zu tun war, behandelte die Kranken und ergriff die nötigen Vorsichtmaßnahmen. Aber im Laufe der Zeit brachen die Pocken immer wieder aus: 1847 erkrankten elf Personen, vier starben; 1858 zählte man zehn Kranke. Von 1859 bis 1865 konnte Amtmann Foecker Fehlanzeigen verschicken. Erst 1866 gab es in allen Gemeinden insgesamt wieder sechs Fälle, 1867 schon 18, doch ging die Rate danach zurück, bis es 1871 mit über 80 Fällen zu einer rapiden Verbreitung der Pocken kam.
Starke Verbreitung
Gleich Mitte Januar wurde der erste Fall bekannt. Eine Isolierung des Kranken konnte wegen zu beengter Wohnverhältnisse nicht stattfinden. Man begnügte sich mit einer Ausräucherung der Wohnung mit Chlor, dem Schulausschluss möglicher zum Haushalt gehörender Kinder und einer Zwangsimpfung aller Kinder in Hassel. In jedem Monat kamen neue Kranke hinzu, die meisten genasen aber recht schnell. Im März zeigte sich die Abteilung des Innern in Münster besorgt über die zahlreichen Fälle im Amt Bork und forderte vom Landrat einen erneuten Bericht. Zu der Zeit dachte Foecker, das Schlimmste schon überstanden zu haben, denn die Erkrankten waren wieder gesund und eine Weiterverbreitung hatte nicht stattgefunden. Aber schon eine Woche danach traten die nächsten Fälle auf und bis Oktober 1872 kam es zu immer neuen Meldungen. Für die Jahre 1870 bis 1872 zählte Döpper insgesamt über 130 Pockenerkrankungen, bei geimpften und nicht geimpften Personen, und 23 Todesfälle.
Bei dieser Häufung von Krankheitsfällen machte man sich verständlicherweise Gedanken über die Ursachen. Der Landratsamtsverwalter vermutete, daß die Pocken in Folge Ankaufs von Gegenständen, die aus dem letzten Feldzuge herrühren, wie Decken, Pferdegeschirr pp eingeschleppt worden waren. Döpper konnte das für die hiesigen Fälle nicht bestätigen. Nach seinen Ermittlungen war die Verbreitung nur durch Ansteckung von pockenkranken Personen entstanden. Der erste Fall im vorigen Jahr war bei dem Taglöhner Rentken in Hassel, der den Ansteckungsstoff in der Fremde, wo die Pocken schon grassirten, empfangen hatte, Der zweite Fall traf den Schreiner Bleckmann im hiesigen Dorfe, der ebenfalls in der Fremde angesteckt worden war. Mit dem letzten Falle verbreitete sich die Krankheit durch das Inberührungkommen der Angehörigen des Bleckmann mit andern Personen mehr und mehr, und hat die Krankheit hauptsächlich im Dorfe Bork grassirt. Zu den neuerdings aufgetretenen Fällen läßt sich wieder derselbe Verlauf constatiren.
Schulschließung?
Um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, schlug Kreisphysikus Dr. Wilkinghoff im Juni 1871 die Schließung der Schulen in Bork vor. Als der Landrat bei der Regierung in Münster dazu die Genehmigung einholen wollte, bekam er folgende Antwort: ... Eine derartige sanitätspolizeiliche Maßregel können wir in dem beantragten vollen Umfange um so weniger für gerechtfertigt erachten, als nach dem Ministerial-Erlasse vom 19. Dezember 1866, betreffend die Schließung der Schulen beim Herrschen der Cholera-Seuche, die gänzliche Schließung der Schulen für den äußersten Nothfall vorbehalten ist und diese Bestimmung für die Pockenkrankheit um so mehr Anwendung findet, als in der Revaccination noch ein Vorbeugungsmittel für die Infection durch Pockengift gegeben ist. Wir erklären uns indeß bei dem verhältnißmäßig raschen Umsichgreifen der Epidemie damit einverstanden, daß wenn fernerhin die Krankheit einen solchen Charakter zeigen sollte, der Schulzwang aufgehoben werde und es den Eltern überlassen bleibe, ihre Kinder zu Hause zu halten oder die Schule weiterhin besuchen zu lassen. Wir machen dabei auf § 14 des Regulativs vom 8. August 1835 aufmerksam, wonach den Schulen beim Herrschen von Seuchen bezüglich der Erhaltung einer reinen Luft in den Schullokalen einer besonderen Aufmerksamkeit zu widmen ist.
Zusätzliche Probleme
Neben dem Abarbeiten des eingespielten Maßnahmenkatalogs stellten sich von Zeit zu Zeit zusätzliche Probleme ein, die außerhalb der Routine zu behandeln waren. So wies Dr. Köhler im Frühjahr 1867 eindringlich auf die Situation einer Familie Borgmann hin, in der die Frau von den Variola (echten Menschenpocken) befallen war, kaum dass sich der Ehemann erholt hatte. Der Mann konnte seit circa 13 Wochen nicht arbeiten, bekam während der Krankheit der Frau auch keine Anstellung, das Geld fehlte an allen Enden und die Kinder der Familie waren schon seit Wochen dem Hunger ausgesetzt ..., dem durch Privathülfe nicht länger vorgebeugt werden konnte. Von Amtmann Foecker sind daraufhin keinerlei Reaktionen verbrieft. Er belässt es bei den Routinevorgängen.
Wie Dr. Köhler, bat 1871 der Arzt Hilgenberg um eine Unterstützung für die Familie Theod. Bergmann in Hassel, weil nach Erkranken des Söhnchens an den Pocken kein Verdienst mehr da ist. Es fehlt an Brod, Butter, Kartoffel, Kaffe u.s.w. Amtmann Döpper schickte im Gegensatz zu Foecker wenigstens eine Antwort, aber er half nicht, sondern schrieb: Der an den Pocken erkrankte 9 jährige Sohn kann doch wohl nicht der Ernährer - die Familie daher in ihrem Erwerbe nicht behindert sein. Unterstützung kann daher noch nicht erfolgen.
Dem Borker Totengräber Folle und dem Tagelöhner Brünkenhege ging es ebenfalls ums Geld, als sie im September 1871 unter Androhung einer Polizeistrafe von zehn Talern aufgefordert werden mussten, die Beerdigung der Leiche des an den Pocken gestorbenen Webers Franzen zu Altenbork heute Abend gegen 8 Uhr in der Ihnen mündlich angegebenen Weise vorzunehmen. Einen Monat später nämlich forderten sie eine weitere Entschädigung, die zu zahlen die Gemeindeverordneten ablehnten. Die beiden hätten ihre Forderungen nicht näher praecisirt, wurde ihnen mitgeteilt.
Ebenfalls 1871 brachte Döpper in Erfahrung, daß ein Kind der Hebamme Heitkamp im Dorfe Bork seit länger als 14 Tage an den Pocken krank gewesen sei. Eine Anzeige war nicht erfolgt, deshalb beorderte er die Hebamme aufs Amt. Sie erzählte von der Pockenerkrankung ihrer vier Jahre alten Tochter, die vom Arzt Hilgenberg vorschriftsmäßig gemeldet worden war. Als rund zwei Wochen danach ihr sechsjähriger Sohn sich unwohl fühlte, glaubte sie, daß dieses Kind, welches kurz vorher ins Wasser gegangen war, sich erkältet habe. Wieder wurde der Arzt Hilgenberg hinzugezogen, der keine Pockenerkrankung feststellte, weshalb es auch keine Anzeige gab.
Behandlungsfehler kamen vor und die Ärzte trauten sich auch gegenseitig nicht immer über den Weg. Ob aus Konkurrenzempfinden oder begründeten Zweifeln an der Kompetenz und Sorgfalt der Kollegen sei dahingestellt, jedenfalls kam es vereinzelt zu kritischen Bemerkungen über die Arbeit des anderen. Dr. Ridder zum Beispiel bat Bürgermeister Köhler, dafür zu sorgen, daß die Aerzte aus Lünen keine Privatimpfungen und Revaccinationen in hiesiger Bürgermeisterei vornehmen, indem dadurch das Pockengift, da Sie mehrere mit Menschenblattern behaftete Subjekte behandeln, verbreitet werden kann.
Einem anderen Arzt aus Lünen, Dr. Flume, widersprach Hilgenberg aus Bork ausdrücklich. Das Amt hatte ihn wohl beauftragt, bei der Familie Stöcker in Beifang nach dem Rechten zu sehen. Dort fand er die 22 ½ jährige Tochter Therese, deren Pocken, wie er sich ausdrückte, in aller Blüthe standen und mindestens schon fünf bis sechs Tage alt waren. Dr. Flume habe nur einen gewöhnlichen Ausschlag diagnostiziert, dabei hätte sofort die Wohnung isoliert werden müssen.
In einem anderen Fall beschwerte sich Dr. Köhler über die Familie Goldberg aus Bork, die sich bei der Erkrankung ihres Sohnes seinen Anweisungen widersetzte. Der Mann hatte angeblich in Lünen schon Doktor Althoff aufgesucht, der zu einem Hausbesuch erwartet wurde. Amtmann Foecker befragte die Frau, die sich ganz einsichtig und kooperativ zeigte, beauftragte Dr. Köhler mit dem Beginn der Behandlung und kündigte die Einschaltung des Kreisphysikus an, falls sich Althoff und Köhler nicht einigen konnten. Dr. Althoff erschien aber gar nicht in Bork.
Nach der großen Plage mit den Pocken in den ersten 1870er Jahren, verabschiedete der Reichstag 1874 ein Gesetz, das eine zweimalige Impfung gegen Pocken vorschrieb. Danach ebbte die Verbreitung ab. Neue Fälle im Amt Bork werden nicht mehr gemeldet und 1881 verzichtete die Regierung in Münster auf das vierteljährliche Einreichen der Pockenberichte, die Anzeigepflicht blieb aber bestehen. Es tauchen immer wieder Warnungen auf, wenn Pocken irgendwo ausgebrochen waren, man machte sich Sorgen über neue Einschleppungswege, aber die Erkrankungen wurden weniger. 1904, als die Krankheit im Regierungsbezirk Arnsberg wieder ausbrach, blieb sie für einige Zeit unerkannt und ungemeldet. Dank der Schutzimpfungen konnten die Pocken erfolgreich bekämpft werden. 1976 wurde die allgemeine Impfpflicht aufgehoben.
Mai 2020
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[1] Stadtarchiv Selm, AB-1 – 490 und 493. Alle weiteren Zitate, sofern nicht anders vermerkt, stammen aus diesen beiden Akten.
[2] Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster, Nro. 50. 14.12.1833, S. 479; https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de.
[3] Nachtrag: Kerstin Kirbach, Mary Wortley Montague bringt die Pockenimpfung nach Europa, Ardalpha.de 12.07.2021.