Einführung der Landgemeindeordnung - 1856
Christel Gewitzsch
Nachdem in Preußen 1808 und 1831 für die Städte eine neue, bzw. revidierte Ordnung geschaffen worden war, stand eine einheitliche Regelung für die ländlichen Gemeinden aus. In der Provinz Westfalen galten 1815 vier verschiedene Landgemeindeordnungen. 1841 annullierte König Friedrich Wilhelm III. alle bisher geltenden Gesetze und Bestimmungen und verordnete für die Provinz am 31. Oktober eine neue Landgemeindeordnung.
Der Versuch von 1850, eine für alle preußischen Lande geltende Gemeindeordnung einzuführen, schlug fehl; schon zwei Jahre später stoppte die Staatsregierung die Umsetzung, bevor sie die Gemeindeordnung ein Jahr danach außer Kraft setzte. Dabei wurde gleichzeitig bestimmt, eine Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen zu erarbeiten. Diese wurde am 19. März 1856 durch König Friedrich Wilhelm IV. erlassen.
Im Paragraf 84 der Landgemeindeordnung von 1856 steht: Die gegenwärtige Landgemeindeordnung tritt sogleich nach ihrer Verkündigung in Kraft und an die Stelle der Gemeindeordnung vom 11. März 1850, beziehungsweise der Landgemeindeordnung vom 31. Oktober 1841.[1]
Einführung in den Gemeinden des Amtes Bork
Im Juni 1856 erreichte die erste landrätliche Anweisung zur Einführung der neuen Ordnung den Borker Amtmann Foecker. Er begann daraufhin mit den Vorbereitungen für die Einberufung der Gemeindeversammlungen von Selm, Bork und Altlünen. Am 7., 8. und 18. August fanden diese statt. Nach einer eingehenden Information durch den Amtmann beschlossen sie
- daß die Gemeindeversammlung aus den stimmberechtigten Gemeindegliedern erwählt werden soll.
- § 25 findet für die hiesige Gemeinde keine Anwendung
- daß nur solche Gemeinde-Eingesessenen an dem Gemeinderath Theil haben können welche 1. in dem Gemeindebezirke mit einem Wohnhaus angesessen sind wo ihnen daselbst gelegenen Grundsteuerertrag von mindestens zwei Thlr. entrichtet oder 2. ihren Wohnsitz in dem Gemeindebezirk haben und außerdem zur Einkommenssteuer oder mit einem Jahresbetrage von mindestens 4 Thlr zur Klassensteuer veranlagt sind.
- daß die Gemeindeverordneten-Versammlung wie seither aus 6 zu wählenden Gemeindeverordneten bestehen solle.
- daß von jeder Wählerabtheilung 2 Gemeindeverordneten zu erwählen seien
- daß zu der zu bildenden Amtsversammlung aus dieser Gemeinde wie bisher 3 Amtsverordnete zu erwählen und zu entsenden seien.[1]
Die genannten Zahlen in den Punkten 4 und 5 beziehen sich auf Selm und Altlünen. Die Borker Gemeindeversammlung bestand aus neun Mitgliedern, so dass jede Wählerabteilung drei Gemeindeverordnete wählten durfte. Die in Punkt 5 genannten Wählerabteilungen entstanden aus der Bestimmung des Paragrafen 27, nach dem die Wähler je nach der von ihnen zu entrichtenden Staats- und Gemeindesteuer in drei Klassen eingeteilt wurden. Der Paragraf 25 spielte im Amt Bork keine Rolle. Er bezog sich auf die Gemeinden, in denen die Gemeindeversammlung aus sämtlichen stimmberechtigten Mitgliedern bestand.
In denselben Sitzungen fassten die Gemeinden einen nach Paragraf 56 zu treffenden Beschluss. Der Paragraf lautet: Durch Beschluss der Gemeindeversammlung kann die Erhebung eines Einzugsgeldes angeordnet und von dessen Entrichtung die Niederlassung in der Gemeinde abhängig gemacht werden.[3] Die Gemeindeversammlungen stimmten für ein Einzugsgeld, weil – laut Protokoll – die hiesige Gemeinde, welche von neuanziehenden Personen aus fremden Bezirken sehr belästigt werde und oftmals in großen Nachtheil versetzt worden sei.[4]
Regelungsbedarf
Mit diesen ersten Beschlüssen war die Arbeit zur Einführung nicht erledigt. Die Amtsverordneten-Versammlung musste der neuen Ordnung angepasst werden, Steuerinstruktionen mussten umgesetzt werden, etc.
Im Juli schon waren der ersten Instruktion neue, beziehungsweise ergänzende und erläuternde Anweisungen vom Landrat, der Königlichen Regierung und dem Innenminister gefolgt und der Strom der Zuschriften riss während des ganzen folgenden Jahres nicht ab.
Besetzung der Amtsversammlung
Scheinbar einfach und unkompliziert verlief die Entscheidung zur Besetzung der Amtsversammlung. Auf der Sitzung vom 25. September 1856 legten die Mitglieder fest, dass zur Amtsversammlung aus dem ganzen Bezirk zehn Verordnete zu entsenden seien: aus Selm, wie oben vermerkt, drei, aus Bork fünf und aus Altlünen zwei Mitglieder. Aber Anfang 1857 lag dieser Beschluss auf Grund einer Intervention der Regierung wieder auf dem Tisch des Amtmanns, weil im Protokoll die Angaben über die Teilnehmer der Sitzung fehlten und so sich die Beschlußfähigkeit der Versammlung der Beurtheilung entzog. Auch bemängelte die Regierung Beschlüsse der Einzelgemeinden zur Zusammensetzung der Amtsversammlung, zu denen sie nicht berechtigt waren. Außerdem hätten die Entscheidungen über die Einzugsgelder auf einer separaten Sitzung gefasst werden müssen. Amtmann Foecker arbeitete nach und konnte zweieinhalb Monate später die Korrekturen einreichen.
Einzugsgelder
Die Höhe des Einzugsgeldes legten alle drei Gemeinden gleich fest und zwar sollte
a, von jeder in der Gemeinde ... sich niederlaßenden selbständigen Person mit Familie ein solches von 8 Thlr.
b, desgleichen von jeder sich hierselbst niederlaßenden selbständigen Person ohne Familie ein solches von 6 Thlr.
c. von jedem Neu-Anziehenden sowohl als der Gemeinde bereits Angehörigen bei Begründung eines selbständigen Hausstandes ein Hausstandsgeld von 2 Thlr.
erhoben und von der Entrichtung des Einzugsgeldes die Niederlaßung in der Gemeinde, so wie von Erlegung des Haushaltsgeldes die Theilnahme am Gemeinderecht abhängig gemacht werden.
Dieser Beschluss stieß nicht auf Gegenliebe. Mauderode in Münster reduzierte die Gelder zu a. und b. um je zwei Taler, da die obwaltenden Lokalverhältnisse eine höhere Bemessung der fraglichen Abgaben nicht zu begründen vermögen. Die Gemeindeversammlungen korrigierten ihre Beschlüsse wie angeordnet. Bis zum Sommer 1861 blieb es bei diesen Sätzen. Dann änderte sich die Gesetzeslage. Die Landgemeinden durften maximal fünf Taler Einzugsgeld fordern und das Hausstandsgeld wurde ganz abgeschafft. Aber auch diese neue Lage sorgte für Irritationen. Der Amtmann von Ascheberg fragte wegen der Borker Sätze an, weil er große Abweichungen vermeiden wollte. Die Gemeindeversammlungen beschlossen in Bork fünf und drei Taler und in Selm und Altlünen vier und zwei Taler. Landrat Landsberg schickte diese Meldung wieder ans Amt zurück, weil er die über die Gesetzeslage hinausgehende Ermäßigung nicht für nötig erachtete. Foecker stimmte zu und legte für alle Gemeinden fünf und vier Taler fest. Gemeindebeschlüsse dazu sind nicht dokumentiert.
Wahl-Feinheiten
Über die Fragen, wer, wann, für wie lange nach der Einführung der neuen Ordnung gewählt werden musste, war sich Amtmann Foecker nach eigenem Bekunden zweifelhaft und er bat um hochgeneigteste Auskunft Seitens des Landratsamtes. Sechs Monate vorher hatte Landratsamtsverwalter Hilgers ihn schon verwirrt, als er ihn aufforderte, ein verstorbenes und ein fortgezogenes Mitglied des Gemeinderats in Selm ersetzen zu lassen. Vier Wochen später stoppte er diese Ergänzungswahl, denn erst nach Genehmigung der Beschlüsse der Gemeinde-Vertretungen wegen Einführung der Gemeinde-Ordnung vom 19ten März v. J. von Seiten des Herrn Oberpräsidenten, wird eine Neuwahl sämmtlicher Gemeindevertretungen veranlaßt werden können, bis dahin aber werden die unvollzählichen Gemeindevertretungen in Funktion bleiben müssen.
In den Bekanntmachungen, die Foecker nach der oben genannten Genehmigung publizieren ließ, lud er aber nur zur Neuwahl der im Jahre 1851 gewählten Gemeindeverordneten ein, da deren sechsjährige Wahlperiode abgelaufen war. In Selm und Altlünen schieden je zwei Mitglieder aus und in Bork drei, wobei dort gleichzeitig eine Neuwahl für den verstorbenen Dr. Bernhard Füchten stattfinden musste. Von der Selmer Unterbesetzung war erst einmal nicht mehr die Rede.
Bevor die Wahlveranstaltungen stattfanden, äußerte Foecker seine oben erwähnten Zweifel. Er war sich nicht sicher, ob er nur die ausgefallene Ergänzungswahl nachholen sollte oder alle Mitglieder neu gewählt werden mussten. Außerdem machten ihn die vielen Zusatzbestimmungen irre: Eine erste Ergänzungswahl hatte 1854 stattgefunden und die Wahlperiode der damals gewählten war demnach noch nicht abgelaufen. - In allen Gemeinden war ein Mitglied während der Wahlperiode gestorben. - Alle zwei Jahre musste ein Drittel der Verordneten ausscheiden, alle durften aber erneut gewählt werden. - Die Auszuscheidenden wurden per Los bestimmt. – Die drei Wählerabteilungen erschwerten ihm den Überblick – deshalb bat er um hochgefällige Belehrung. Die kam fast postwendend. Alle 1851 gewählten Mitglieder mussten ausscheiden; für die Verstorbenen mussten Neuwahlen erfolgen; die von 1854 durften bis 1860 weiter machen, wenn solche zur Herstellung des ordnungsmäßigen Termins nicht im November 1859 freiwillig abdiziren (zurücktreten, abdanken) wollen.
Eine andere Unsicherheit trat erst 1864 zu Tage, als die Frage auftauchte, wie zu verfahren sei, wenn sich bei der Wahl der Gemeinde-Vorsteher resp. der Amtsverordneten nicht sofort eine absolute Stimmenmehrheit ergab. Der Innenminister, um Klärung gebeten, sah die Lücke in der Landgemeinde-Ordnung. Es war zwar festgelegt, dass bei Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag geben sollte, was aber bei einer vollständigen Zersplitterung der Stimmen zu tun sei, war ungeregelt. Innenminister Eulenburg entschied, im Sinne des § 28 zu verfahren, nachdem – grob gesagt – die Mitglieder der anderen Wählerabteilungen zur Mehrheitsfindung mit herangezogen werden konnten.
Bei der Wahl der Gemeindevorsteher empfahl er der Regierung, die Bestimmung zu erlassen, daß fortan bei allen vorzunehmenden Gemeinde-Vorsteher-Wahlen der Amtmann den Vorsitz in der Gemeindeversammlung übernehme. Da diesem alsdann das Recht zusteht, bei Stimmengleichheit seine Stimme, und zwar mit entscheidender Wirkung abzugeben, so wird dadurch der sonst mögliche Uebelstand vermieden werden, daß der Gemeinde-Vorsteher sich selbst die Ausschlag gebende Stimme zutheilt. Für den Fall, dass der Amtmann gleichzeitig Gemeindevorsteher war, wie es in Bork häufig vorkam, gab es keine besondere Anweisung.
Vertretung der Rittergutsbesitzer
Ein anderes Problem erwuchs dem Amtmann aus der Bestimmung, dass Gemeindeversammlungen aus den gewählten Gemeindeverordneten und den in der Gemeinde vorhandenen Rittergutsbesitzern bestehen. In den eingereichten Protokollen waren die Rittergutsbesitzer unberücksichtigt geblieben. Der Beigeordnete Hördemann erklärte als Vertreter des Amtmanns das Vorgehen damit, dass nach der Gemeindeordnung von 1850 der Rentmeister Preiser von Cappenberg als auch der Rentmeister Brüning von Botzlar als gewählte Gemeindeverordnete in Funktion waren. Die Rittergutsbesitzer, die sich durch einen stimmberechtigten Eingesessenen vertreten lassen konnten, hätten aber, außer im Falle Brüning, keine Vollmachten vorgelegt. Der Landrat sah die Notwendigkeit des ersten Schrittes beim Amt. Es sollte die Besitzer auffordern, ein für allemal Bevollmächtigte zu bestimmen, die ihre Rechte in den Versammlungen zu vertreten haben, wenn Sie nicht persönlich beiwohnen wollen. Diese Bevollmächtigten müssten dann zu den Versammlungen eingeladen werden.
Mit diesem Tenor setzte Hördemann die Schreiben an den Standesherrn Grafen von Kielmansegge zu Cappenberg und den Freiherrn von Böselager zu Heessen bei Hamm auf. Aus Cappenberg kam dazu eine Anfrage des Rentmeisters Preiser. Er war unsicher, in welcher Form und Fassung diese Vollmacht ausgestellt seyn muß und bat um ein Formular. So etwas gab es für diese Schreiben nicht. Foecker gab aber Formulierungshilfen und eine Woche später bevollmächtigte Kielmansegge in einem Schreiben aus Gültzow seinen Verwalter Adolph Heindorf zur Ausübung des Gemeinderechts. 1864 wurde diese Vollmacht verlängert.
Auch Böselager, Besitzer des Hauses Dahl, reagierte auf das Anschreiben aus Bork und bestimmte den Förster Hubert Hartmann, wohnhaft auf Dahl, zu seinem Vertreter in den Gemeindeversammlungen.
Die Bestimmung, dass alles das, was vorstehend in Betreff der Gemeinde Versammlung und deren Beschlüsse bestimmt worden, auch von der Amts-Versammlung gilt, war in Bork befolgt worden. 1869 kamen daran Zweifel auf, die auf allen Ebenen rege diskutiert wurden, bis der Minister des Innern Graf Eulenburg in der Zurückweisung einer Beschwerde des Bochumer Landrats die Diskussion mit den Worten beendete: Wäre die Absicht gleichwohl dahin gegangen, hinsichtlich der Vertretungsbefugniß der Gutsbesitzer für die Amtsversammlung andere Bestimmungen als für die Gemeindeversammlung zu treffen, so würde dies ohne Zweifel mit ausdrücklichen Worten geschehen sein.
Erhebung von Gemeindesteuern
Beim Paragrafen 57 der Gemeindeordnung sahen der Innen- und der Finanzminister von vornherein einen hohen Aufklärungsbedarf. Mit diesem Paragrafen wurden die Gemeindeversammlungen ermächtigt, Gemeindesteuern zu erheben, wenn die Einnahmen aus dem Gemeindevermögen nicht ausreichten, die Kosten zu decken. Die Steuern konnten bestehen
I. in Zuschlägen zu den direkten Staatssteuern, ...
II. in besonderen direkten oder indirekten Gemeindesteuern, welche der Genehmigung der Regierung bedürfen, wenn sie neu eingeführt, erhöht, oder in ihren Grundsätzen verändert werden sollen.[5]
Elfeinhalb Seiten voller Anweisungen verschickten die Ministerien zu diesem Paragrafen, wobei sie die die unter I. genannten Zuschläge zu den Staatssteuern favorisierten. Die Gemeinden des Amtes Bork folgten diesem Hinweis. Beamte, Lehrer und Geistliche brauchten keine oder nur ermäßigte Kommunalsteuer zahlen.
Wirkungszeit
Diese mit viel Mühe eingeführte Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen bestand bis zu ihrer Aufhebung durch das Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. Dezember 1933. Im Laufe ihres Bestehens sind an ihr Kürzungen und Abänderungen vorgenommen worden und eine reichhaltige Rechtssprechung des Königlichen Oberverwaltungsgerichts[6] sorgte für Klärungen bei der Auslegung der Gesetze.
Dezember 2019
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[1] Die Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen, vom 19. März 1856, in ihrer heutigen Gestalt. Textausgabe mit Anmerkungen von B. von Kamptz, Paderborn 1893, S. 70. http.//sammlungen.ulb-muenster.de
[2] StA Selm, AB-1 – 28.
[3] Landgemeindeordnung, S. 47.
[4] und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 28.
[5] Landgemeindeordnung, S. 48f.
[6] Landgemeindeordnung, Vorbemerkung, S. 3.