Ergebnisse des Industrieunterrichts
Christel Gewitzsch
Berichterstattung
Wieder einmal wurden die Amtmänner mit einer neuen Berichterstattung beauftragt. Als ihnen 1831 zehn Exemplare der Instruktion über die Einführung des Industrieunterrichts zugesandt wurden, wies der Landrat sogleich auf die vorgeschriebenen alljährlichen Berichte hin. Bis zum 20. September eines jeden Jahres hatten sie über die Menge der Arbeiten, die in diesem Unterricht erstellt worden waren, Rechenschaft abzulegen. Der Landrat selber musste die Regierung in Münster darüber informieren. Aber wie bei anderen Berichterstattungen auch, musste der Landrat Geduld haben. 1833 hatte er Anfang November noch nichts vom Industrieunterricht im Amt Bork gehört und bekam, nach einer Erinnerung, erst Ende Dezember die nötigen Informationen.
Zwar lobte die Regierung 1836 in einem Schreiben an die Landräte, die in den meisten Kreisen mit lobenswerther Sorgfalt und Ausführlichkeit[1] abgefassten Berichte, doch führte sie gleichzeitig ein tabellarisches Schema ein, um die Arbeit zu erleichtern und die Ergebnisse vergleichbarer und übersichtlicher zu machen. Das Landratsamt in Lüdinghausen erhielt 200 Exemplare dieses Schemas, die es an die Schulinspektoren des Kreises zusammen mit der dazu gehörigen Instruktion verteilen sollte.
Die Inspektoren ließen daraufhin allen Lehrkräfte ein Formular zukommen, damit diese am Schluß jeden Schuljahrs die Summe der gefertigten Arbeiten unter den verschiedenen Rubriken notiren, und dasselbe dann dem Schulinspector einreichen[2] konnten. Der war nun aufgefordert, alle Übersichten so oft abschreiben lassen – durch ältere Schüler unter Aufsicht des Lehrers – wie er Schulen in seinem Bezirk hatte. Jeder Schule wurden alle Berichte des Bezirks zugeschickt. Man wollte durch das Aushängen dieser Übersichten den Wetteifer erwecken.
Der Kreis Lüdinghausen war in vier Schulinspektionsbezirke eingeteilt: Lüdinghausen, Senden, Herbern und Werne. Die Schulen in Selm, Olfen, Vinnum und Lüdinghausen gehörten zum Inspektionsbezirk des Pfarrers Rohling aus Lüdinghausen, der 1837 vierzehn Schulen zu beaufsichtigen hatte; Bork mit Cappenberg und Altlünen waren dem Werner Inspektor zugewiesen.
Das Schema [3]
In den Tabellen wurden nach Nennung der Schule und Anzahl der Schüler, bzw. Schülerinnen, die Arbeiten in drei Kategorien aufgeteilt. Zuerst sollten alle Strickarbeiten, dann die Näharbeiten und in der dritten Rubrik sonstige Arbeiten eingetragen werden. In den drei Bereichen gab es für die einzelnen Arbeiten vorgedruckte Spalten und einige frei gelassene, für die darüber hinaus angefertigten Produkte. Hin und wieder müssen dort wohl die verpönten, weil zur Putzsucht verführenden, feineren Stick- und Häkelarbeiten aufgetaucht sein, was 1861 noch einmal zu ernsthaften Ermahnungen Anlass gab.
Es befinden sich in der Akte Nr. 34 sowohl Zusammenstellungen über einzelne Schulen als auch Gesamtmeldungen des Landratsamts nach Münster. Die letzte eingereichte Übersicht in der genannten Akte stammt aus dem Schuljahr 1860/61, denn ab dem Schuljahr 1862 wurde die Einreichung der Übersichten nicht mehr gefordert. Nach Meinung der Regierung hatte sich der Industrieunterricht an den Schulen so gedeihlich entwickelt, dass es ausreichte, die Liste von den Lehrpersonen führen zu lassen, um sie bei Schulrevisionen vorlegen zu können.
Arbeiten an der Selmer Schule
Die 110 Schülerinnen der Selmer Mädchenschule strickten im Jahr 1837 217 Paar Strümpfe und 143 Paar Socken. 65 Paar Strümpfe wurden von ihnen angestrickt und sechs Paar gestopft. Außerdem fertigten sie sieben Paar Handschuhe und sieben Geldbeutel. Die anderen in der Tabelle vorgesehenen Strickwaren wie Hosenträger, Mützen, Kamisöler (Unterjacke, Wams, Mieder), Leibbinden, Pantoffeln, Strumpfbänder und angestrickte Socken gehörten in Selm nicht zum Unterricht.
Dafür nähten die Mädchen fleißig: 22 Handtücher, 16 Halstücher, 11 Schürzen, 10 neue Hemden, 9 Sacktücher (Taschentücher), 2 Betttücher, 2 Tischtücher und ein Zeichentuch, was immer das auch ist. Kein Hemd wurde nur ausgebessert, Kissenbezüge, Servietten, neue oder ausgebesserte Kleider, Mützen, Unterjacken, Unterröcke, Taschen und Gardinen – für all diese Arbeiten waren Rubriken vorgesehen – wurden nicht genäht.
Mit den Aufgaben der dritten Kategorie – sonstige Arbeiten – beschäftigte sich keines der Selmer Mädchen. Vorgesehen waren diese wohl eher für die gemischten Klassen, wenn die Jungen beschäftigt werden mussten. Es ging dabei unter anderem um das Flechten von Körben, Anfertigen von Halftern, Besen, Harken, Peitschen, Gurten und Löffel. In der Selmer Knabenschule lehrte man diese Arbeiten nicht.
Arbeiten an den anderen Schulen des Amtes
Für das Schuljahr 1854/55 liegen auch für die Borker, Cappenberger und Altlüner Schulen Listen mit den erledigten Arbeiten vor. Die 153 Schüler der Borker Knabenschule hatten wohl Unterricht im Stricken erhalten, aber es nur auf die Produktion von drei Paar Strümpfen, ein Paar Socken und zwanzig Pantoffeln gebracht. Mit Näharbeiten wurden sie nicht betraut, dafür fertigten sie in der dritten Abteilung, den sonstigen Arbeiten, einige Produkte an: 105 Peitschen, 99 Stricke, 94 Besen, 44 Körbe, 4 Harken und 3 Bürsten. Auch in der Schule in Altlünen (160 Schüler und Schülerinnen) waren die Peitschen mit 141 Stück die Spitzenreiter bei den sogenannten Lokalarbeiten, gefolgt von Stricken und Besen (44/31) und je acht Bürsten und Harken. In Cappenberg entstand nichts dergleichen.
Gestrickt und genäht wurde in Cappenberg, aber, wie in dem Text „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“ nachzulesen ist, nur von den Mädchen und nicht während des regulären Schulunterrichts. Trotzdem sind diese Ergebnisse als Schularbeiten gemeldet und verzeichnet worden, was nicht so ganz der Vorschrift entsprach.
In Altlünen nähten und strickten – wahrscheinlich nur die Mädchen – eifrig. Von den 160 Schüler und Schülerinnen (die Jungen, siehe oben, fertigten andere Handwerksstücke an) lagen am Ende des Schuljahres 384 Strick- und 149 Nähsachen vor, wobei sie bei der Anfertigung von neuen Kleidern mit 21 Stück die Spitzenreiterposition eroberten.
Über den Ortsrand geblickt
Die auch für Jungen vorgesehenen Strickarbeiten wurden hin und wieder in den Unterricht aufgenommen. Bei den von beiden Geschlechtern besuchten Schulen kann man die Zahl der strickenden Knaben nicht ermitteln. Von den reinen Knabenschulen strickten die 180 Schüler in Olfen zehn Paar Strümpfe und 192 Paar Socken. Auch zwei Hosenträger, acht Paar Handschuhe und sieben angestrickte Strumpfpaare entstanden in den Händen der Jungen. In dem Inspektionsbezirk Lüdinghausen sind die Olfener allerdings die einzigen, die 1837 in einer reinen Knabenschule das Stricken lehrten. Doch das Stricken von Socken hielt man durchaus für eine sinnvolle Männerbeschäftigung u.a. in der arbeitsarmen Winterzeit. Von Carl Spitzweg kennen wir das um 1860 entstandene Gemälde mit dem Titel „Der strickende Wachposten“[4]. Der Soldat sitzt darin auf der Burgmauer, hält Ausschau nach einer möglichen dräuenden Gefahr in der Ferne und legt dabei seinen schon weit gediehenen blauen Strickstrumpf nicht aus der Hand.
Die Mädchen der Olfener Schule fallen durch einen großen Fleiß auf. 160 Schülerinnen strickten und stopften insgesamt 619 Paar Strümpfe und Socken und erledigten über 500 – allerdings sehr unterschiedlich umfangreiche – Näharbeiten.
In Vinnum lernten die Schüler auch die Arbeiten des sogenannten Localunterrichts, das sind handwerkliche Arbeiten, mit denen insbesondere die Jungen während der Winterzeit beschäftigt werden sollten. Sie flochten vierzehn Körbe, banden fünfzehn Besen und produzierten sieben Harken und zehn Löffel.
Wie erklären sich die großen Mengen?
In der „Anleitung zum gründlichen Rechnen“ von Joseph Annegarn findet man folgende Kopfrechenaufgabe: Das fleißige Klärchen hat während des Schuljahrs 24 Paar Strümpfe gestrickt. Ihr Schwesterchen aber 26 Paar. Wie viel Paar haben sie zusammen gestrickt? Mal davon abgesehen, dass der Lösungsweg etwas umständlich daher kommt, er lautet nämlich: 2 und 2 Zehner sind 4 Zehner oder 40. Dazu kommen noch 4 und 6, zusammen 10. Hier 1 Zehner, und eben 4 Zehner, machen zusammen 5 Zehner oder 50[5], ist die Botschaft eindeutig. Wenn man als fleißiges Kind gelten mochte, musste man schon eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten abliefern.
Dreimal wöchentlich sollte laut Amtsblatt-Veröffentlichung vom August 1831 der Industrieunterricht künftig in allen Elementarschule erteilt werden, allerdings mit der Einschränkung: Zunächst aber nur derjenigen Kindern, welche besonderes Lust zum Lernen bezeigen und sich in der Schule auszeichnen.[6] Später wurden die Schüler für einige Zeit zum Besuch des Industrieunterrichts verpflichtet.
Mit der Anweisung, dass der Unterricht in Handarbeiten mit dem übrigen Unterricht verbunden sein sollte, öffnete die Regierung den Weg für eine stetige Produktion. Sie wies auf die Erfahrungen hin, die bei der dreißig Jahre zurückliegenden Einführung dieses Unterrichts im damaligen Herzogtum Westfalen gemacht worden waren. Danach sollten die ersten nötigen Handgriffe in besonderen Stunden gezeigt und eingeübt werden. Dann aber waren die Schulkinder angehalten, ihre Arbeiten immer vorzunehmen und fortzuführen, wenn sie sie mit dem anderen Unterrichtsgeschehen kombinieren konnten, z.B. während des Unterrichts im Kopfrechnen, in der biblischen Geschichte, beim Erzählen, bei den Sprachübungen.[7] Man war überzeugt davon, daß durch die Handarbeiten die Aufmerksamkeit von dem Lehrvortrage nicht abgezogen, sondern vielmehr geschärft wurde; daß die arbeitenden Kinder viel seltener den Faden des Unterrichts verloren, als die nichtarbeitenden.
Sehr nützlich war der Griff zum Strick- und Nähzeug auch immer dann, wenn der Lehrer sich anderen Schülern widmen musste. Selbstkritisch oder doch wenigstens einsichtsvoll stellte die Regierung fest: In unserm Verwaltungsbezirke bietet die Ueberfüllung vieler Schulen eine große Schwierigkeit dar, macht aber auf der andern Seite die mehrfache stille Beschäftigung der Kinder nothwendig, indem die Lehrer dem lauten Unterrichte der Einzelnen nicht viel Zeit widmen können. Während die Lehrerin in einer Mädchenschule die kleinen Kinder unterrichtete, könnten die größeren Schülerinnen sich ungefähr eine Stunde am Tag mit Nähen beschäftigen und dabei sollten die Geübten den Anfängern hilfreich zur Seite stehen.
Wenn all die genannten Gelegenheiten zur Handarbeit genutzt wurden, konnten die Schulkinder viele Stunden stricken und nähen.
Was geschah mit den Arbeiten?
Kinder, die die Wolle zum Stricken und die Stoffe und Garne zum Nähen von zu Hause mitbrachten, durften die fertigen Arbeiten selbstverständlich behalten. Für arme Schüler sollten die Materialien aus den Mitteln der Armenkassen angeschafft werden. Dass sie dann auch von ihrer Arbeit profitierten, war nicht sicher gestellt. Die Regierung legte sich nicht fest und formulierte: Die fertige Arbeit, so weit solche nicht den dürftigen Kindern, welche sie gemacht haben, überlassen wird, [wird] öffentlich durch den Bürgermeister verkauft, und der Erlös zu neuen Anschaffungen und zur Belohnung der fleißigsten Kinder verwendet.[8] Wie das im Amtsbezirk Bork gehandhabt wurde, steht nirgendwo. Der Schulvorstand von Selm hatte 1835 zwar angefragt, ob die Materialkäufe aus Armenmittel erlaubt seien, was aber mit den Arbeiten geschah, bleibt im Dunkeln.
September 2018
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[1] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen Nr. 834.
[2] Ebenda.
[3] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen Nr. 34.
[4] Carl Spitzweg, Der strickende Wachposten, Städt. Museum Braunschweig, abgedruckt in: Jens Christian Jensen, Carl Spitzweg, Köln 1971, Farbtafel XI.
[5] Joseph Annegarn, Anleitung zum gründlichen Rechnen, Zum Gebrauche in Elementarschulen, Münster 1822, S. 44. urn:nbn:de:hbz:6:1-30337.
[6] Amtsblatt der Königl. Regierung zu Münster, Nr. 33, Münster 1831, S. 283.
[7] und folgende 2 Zitate: StA Selm, AB-1 – 217.
[8] Amtsblatt, Nr. 33.