aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Für eine bessere Ausbildung der israelitischen Jugend (1825)

Christel Gewitzsch

Im Amtsblatt Nr. 51 aus dem Jahr 1825 gab die Königliche Regierung in Münster die Bildung eines Vereins bekannt, der sich zum Ziel gesetzt hatte, durch eine geregelte Thätigkeit und Schaffung der nöthigen Hülfsmittel, für die bessere Ausbildung der israelitischen Jugend zu sorgen, und diese zur Erlernung von Handwerken und Künsten geneigt und geschickt zu machen.[1] Die Statuten waren vom Oberpräsidenten genehmigt worden und mit dieser Veröffentlichung wurden Landräte und Oberbürgermeister veranlasst, den Zielen des Vereins eine wohlwollende Aufmerksamkeit zu widmen, und jede schickliche Gelegenheit zu benutzen, um die Eingesessenen, besonders aber die israelitischen, dafür empfänglich zu machen. Der Verein gründete ein Lehrerseminar, eine Schule für jüdische und christliche Schüler und Schülerinnen und bemühte sich um die Vermittlung jüdischer Jungen in Handwerksberufe. Nachdem die Schule 1839 als jüdische Elementarschule anerkannt worden war, durften Schüler andere Konfessionen sie nicht mehr besuchen.

Mangelnde Unterstützung im Amt Bork

Kurz nach der Veröffentlichung im Amtsblatt 1825 wandte sich der Direktor des Vereins, der Doktor der Medizin Alexander Haindorf (1784-1862), an den Landrat in Lüdinghausen, schickte ihm einige Exemplare der Vereinsstatuten und warb um seine Mithilfe. Der Verein hatte zur Förderung seiner Arbeit vier Geschäftsführer im Kreis ernannt, auch diese mit Statuten versehen und hoffte, mit deren Engagement viele Glaubensgenossen als Unterstützer zu gewinnen.

Für die Gemeinden Bork und Selm war Salomon Melchior – im Schriftverkehr auch Selig Melchior bzw. Melchers genannt – mit der Arbeit vor Ort betraut worden, aber er schien sich wenig um diese Aufgabe zu kümmern. Zweimal sah sich der Landrat veranlasst, Bürgermeister Köhler auf die fehlende Abgabe von Spendengeldern aufmerksam zu machen und 1828 bat Köhler den Landrat im Auftrag Melchiors, der sich mit der Einsammlung dieser Beiträge, Geschäfte halber nicht mehr befassen könne[2], eine andere Person mit dieser Aufgabe zu betreuen. Der Landrat reagierte mehr als ungehalten und Köhler gab die Reaktion an Melchior weiter: Ich haben Ihren Antrag [...] dem H. Landrath vorgelegt, welcher mir darauf beauftragte Sie mit Ihrem Antrage an den Dirigenten [Direktor] des so großes Interesse erregenden Instituts zu verweisen, Ihnen aber auch gleichzeitig des Herrn Landraths großes Mißfallen Ihres unedlen Benehmens, wie dem hiermit geschieht, zu erkennen zu geben. Melchior scheint daraufhin nichts unternommen zu haben, denn sechs Monate später schrieb Haindorf direkt an den Bürgermeister und bat diesen, die Beiträge einzusammeln und einzusenden. Der Verein musste seinen jährlichen Geschäftsbericht erstellen und geriet unter Zeitdruck. Zwei Monate später wiederholte Haindorf seine Bitte und erst vierzehn Tage darauf antwortete Köhler, dass er erst an diesem Tage trotz mehrfacher vorhergehender Versuche einen Taler und fünfzehn Silbergroschen erhalten habe und er das Geld nun übersende. Er selbst bat nun um die Ernennung eines anderen Geschäftsführers, da nach [s]einer Ansicht die Gebrüder Melchers für den sonst so gewichtigen Gegenstand kein Interesse zu haben scheinen. Für 1827, so erklärte allerdings Melchior, habe er schon aus eigener Tasche Gelder eingesandt, da weder seine Glaubensgenossen noch die christlichen Einwohnern gewillt waren, auch nur einen kleinen Betrag zu geben.

Die Unzufriedenheit des Landrats beschränkte sich nicht auf das Verhalten Melchiors, auch mit der Arbeit des Bürgermeisters in dieser Angelegenheit war er nicht einverstanden. Anlässlich der jährlichen Übersendung des Vereinsberichts forderte er immer wieder weitere Unterstützung ein. 1834, als schon der siebte Jahresbericht verschickt werden konnte, mahnte der Landrat erneut, sich doch die Beförderung dieses wohlthätigen Instituts durch thätige Beihülfe zur Aufgabe zu machen. Er kritisierte darüber hinaus, dass aus Bork seit zwei Jahren gar keine Beiträge für den Verein eingegangen waren.

Stojentin setzt sich ein

Erst mit dem Wechsel von Bürgermeister Köhler zu Stojentin kam vor Ort etwas mehr Schwung in die Sache. Stojentin beauftragte den Polizeidiener Aswerns zusammen mit dem geschäftsführenden Lehrer Kaufmann Beiträge für den Verein einzusammeln und die Geber und die Beträge zu notieren. 1853 schickte Stojentin einen Taler und 28 Silbergroschen nach Münster, gespendet von sieben jüdischen Gemeindemitgliedern und Stojentin selbst. Vier Personen gaben je zwei Silbergroschen und sechs Pfennig, einer gab drei, ein anderer fünf Groschen, Stojentin fügte zehn Groschen hinzu und die Witwe des Abraham Melchiors spendete einen Taler. Ein Jahr später konnten schon drei Taler und sechs Silbergroschen übersandt werden. Stojentins Beispiel motivierte wohl einige wohlhabendere Eingesessenen, sich zu beteiligen, denn unter den sechzehn Spendern scheinen neun Christen gewesen zu sein.

Jordan Goldberg soll Lehrer werden

2. Gebäude der Lehranstalt in Münster

Während Stojentins Amtszeit bemühte sich auch ein Borker Einwohner, der Handelsmann Herz Goldberg, um die Aufnahme einer seiner Söhne in das Lehrerseminar. 1844 bat er den Amtmann um Unterstützung und dieser wandte sich im Namen des Vaters an den Direktor Haindorf, der Stojentin mit den nötigen Informationen versorgte. Der Bewerber musste einen höheren Orts vorgeschriebenen Grad der Vorbildung nachweisen, das 16. Lebensjahr vollendet haben, körperlich gesund sein und sich immer gut betragen haben. Der Vater war verpflichtet, während des zwei Jahre dauernden Kursus jährlich dreißig Taler Unterhaltskosten für seinen Sohn zu zahlen.

Die Kenntnisse des Jordan Goldberg schätzte Stojentin als nicht ausreichend ein, deshalb ordnete er an, den Jungen durch den Lehrer Lehmann in Haltern auf das Seminar vorbereiten zu lassen. Ein Gutachten dieses Lehrers über die ziemlich genügende Vorbildung und ein vom Bewerber selbst verfasster Lebenslauf führten im September 1844 zur Zusage des Direktors für den neuen Kursus, der am 15. Oktober beginnen sollte.

Ein Jahr lang gab man in Münster dem jungen Mann eine Chance. Dann schrieb Haindorf folgenden eindeutigen, ehrlichen Brief:

Die geistigen Anlagen des Jordan Goldberg sind durchaus nicht der Art, daß auch nur im Entferntesten die Hoffnung vorhanden, daß derselbe je ein nur mittelmäßiger Lehrer werde. Es würden daher Zeit und Kosten unnütz auf den jungen Mann verwendet, wollte man die Probe eines Jahres noch weiter ausdehnen.

So sehr die bedrängte Lage des Jünglings eine bedauernswerthe ist, so werden Ew. Hochwohlgeboren mit uns gewiß darin einverstanden sein, daß derselbe durchaus sein Glück nicht begründet, wenn er blos dem Namen nach Lehrer ist, in der Wirklichkeit aber nicht einmal den billigsten Anforderungen zu entsprechen vermag. Besser ist es daher jedenfalls für ihn, sich einem beliebigen Handwerke zu widmen, wodurch er seine künftige Subsistenz ohne ferneren Kostenaufwand und ohne übermäßige Anstrengung seiner geringen Geisteskräfte erlangen kann.

Stojentin konnte von diesem Brief nicht mehr überrascht werden, denn Jordan Goldberg war schon wieder in sein Elternhaus zurückgekehrt. 

Im Trauungsregister für die jüdischen Eingesessenen taucht Anfang der 60er Jahre zweimal der Name Jordan Goldberg auf, für beide ist als Berufsbezeichnung „Handelsmann“ angegeben.[3]

An welchen Aufgaben war Goldberg gescheitert?  

3. Auszug aus dem Stundenplan des Lehrerseminars

In dem Bericht der Marks-Haindorf-Stiftung für das Jahr 1890 (die Arbeit des Vereins wurde von der Stiftung nach dem Tode des Gründers weitergeführt) kann man aus dem Stundenplan für das Seminar erfahren, welches Pensum die Lehramts-Aspiranten zu bewältigen hatten. Rund 46 Stunden wöchentlich mussten sie absolvieren. Unterrichtet wurde von Sonntag bis Freitag, von meistens acht bis zwölf Uhr und unterschiedlich vielen Stunden am Nachmittag. Zwei Turnstunden fanden am Mittwochabend  von 20 bis 22 Uhr statt. Von der Gesamtstundenzahl waren elf für die Themen der Religion vorgesehen. Drei-ein-drittel Stunden lasen die Seminaristen in der Bibel und in dem sogenannten RASCHI- Kommentar. RASCHI ist die Abkürzung des Namens des bedeutenden Gelehrten aus dem Mittelalter Rabbi Schlomo ben Jizchak, der die gesamte Bibel und den Talmud kommentiert hat.[4] Ergänzend zu dem Bibelunterricht gab es Unterweisungen in der Religionslehre, dem Vorbeten, der biblischen, nachbiblischen und jüdischen Geschichte, der hebräischen Grammatik  und dem Rabbinischen. Samstags traf man sich von acht bis neun zum Lesen der Schriften des Jesaias. Die Musikausbildung bestand aus der Harmonielehre, dem Gesang, aus Klavier- und Geigenstunden. Der Gesangsunterricht bereitete auch auf den häufigen Einsatz des Lehrers als Kantor vor.

Als weitere Fächer standen auf dem Plan die deutsche und die französische Sprache, das Schreiben von Aufsätzen, das Lesen und Schönschreiben, das Rechnen und Kopfrechnen, die Geometrie, die Physik, die Geschichte, die Naturgeschichte, die Geografie, das Zeichnen und eine Stunde Pädagogik.

Diesen oder ähnlichen Anforderungen war der Borker Junge nicht gewachsen. Zu seiner Zeit besuchten 29 Lehramtsanwärter das Seminar, von denen 21 bis Mitte 1845 aus der Anstalt entlassen wurden, mit dem Zeugnisse der Wählbarkeit zum Elementarlehrer von der Königlichen Prüfungs-Commission in Soest versehen.[5] Insgesamt hatte das Institut bis zu diesem Jahr 105 Lehrer ausgebildet, die in Westfalen und der Rheinprovinz ihre Anstellung fanden. Bis 1890 erhöhte sich die Zahl der vollständig ausgebildeten Lehrer auf 307.

Wer zahlt für den Schulamtsaspiranten Strauß?

Der Borker Herz Strauß, Sohn des Markus Strauß, besuchte Anfang der 60er Jahre das Lehrerseminar der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster. 1863 richtete das Seminar eine Anfrage wegen ausstehender Zahlungen an den Amtmann. Die Ausbildungskosten für Herz Strauß, die nach dessen Angaben sein Dülmener Onkel Ann Strauß übernommen hatte, waren nicht vollständig gezahlt worden und der Direktor des Vereins Löb (Schwiegersohn des 1862 verstorbenen Haindorf) versuchte mit Hilfe des Amtmanns eine Lösung zu finden, um die Ausbildung des Mannes nicht zu gefährden. Löb bot an, den zu zahlenden Zuschuss erst einmal um zehn Taler zu ermäßigen, wenn die Raten sofort nachgezahlt und künftig pünktlich eingehen würden. Außerdem sollte der Onkel sich für die pünktliche Zahlung von jährlich fünf Talern durch den Schulamtsaspiranten nach bestandenem Examen verbürgen. Die zwanzigjährige Verpflichtung zu dieser Zahlung wurde 1869 auf zehn Jahre reduziert.

Foecker ersuchte den Bürgermeister in Dülmen, den Onkel dazu zu bewegen, diesen Vorschlag anzunehmen, da sonst der Herz Strauß sofort aus der Anstalt entlassen wird, wodurch das Lebensglück des jungen Menschen vollständig vereitelt wird. Der Vater, Markus Strauß, sei wirklich sehr arm und könne die Kosten auf keinen Fall aufbringen. Die Bürgschaft für die pünktlichen Zahlungen seines Neffen zu übernehmen, war der Onkel sofort bereit; eigene Zahlungsverpflichtungen an den Verein stellte er aber entschieden in Abrede. Ob dieses Angebot des Onkels ausreichend war, ist der Akte nicht zu entnehmen.

Finanzfragen

Der von Haindorf gegründete Verein wurde ab 1866 als Marks-Haindorf-Stiftung weiter geführt. Elias Marks, Schwiegervater Haindorfs, hatte mit einer Schenkung von 25.000 Talern der Anerkennung des Vereins in den Anfängen den Weg bereitet. Auch der Schwiegersohn Haindorfs, der Gutsbesitzer Löb, beteiligte sich mit finanziellen Zuwendungen und wurde im Nachtrag zu den Statuten auf Lebenszeit als Präses eingesetzt. Um die Finanzierung der Arbeit musste man sich trotzdem ständig sorgen, unter anderem auch deshalb, weil die Gelder aus den Gemeinden oft, wie auch aus Bork, spärlich und unregelmäßig eingingen. Deshalb versuchte man, die Synagogen-Gemeinden zu festen jährlichen Beiträgen zu bewegen. Bork, Olfen und Lüdinghausen meldeten 1874, dass sie zusammen jährlich zehn Taler aus Gemeindemitteln zahlen wollten. Später betrug der Jahresbeitrag 6,50 Mark. Die Gemeinden glaubten, mit der Zahlung des Jahresbeitrags den Aufforderungen zu den behördlich genehmigten Haussammlungen entgehen zu können, was aber nicht der Fall war. Es sollten weiterhin beide Einnahmequellen genutzt werden.

Im 35. Jahresbericht von 1890, der mit einer besonderen Danksagung an die Königlichen Oberpräsidenten beider Provinzen (die Arbeit des Vereins war früh auf die Rheinprovinz ausgedehnt worden) beginnt, ist weiterhin von der prekären finanziellen Lage der Stiftung zu lesen. Aus dem Synagogenbezirk Olfen (mit Bork) waren für 1888/89 17 Mark gespendet worden (einschließlich Jahresbeitrag); 1889/90 kamen 13,50 Mark zusammen, von denen jeweils noch 20 Pfennig Porto abgezogen wurde. (Zum Vergleich: Werne  schickte in den Zeiträumen 6,80 Mark und 4,50 Mark ein; aus Lüdinghausen, Herbern und Haltern kamen Jahresbeträge über 10, 6 und 15 Mark. Die höchsten Jahresbeiträge kamen aus Münster: 750 Mark, Köln: 300 Mark und Aachen: 250 Mark.) Aus vier Synagogen-Gemeinden war der Beitrag bis zur Drucklegung des Jahresberichts von 1890 nicht eingegangen, auch nicht aus Olfen.

Die Einnahmen und Ausgaben der Stiftung beliefen sich 1888/89 auf 18.332 und 1889/90 auf 19.675 Mark. Der größte Posten bei den Einnahmen war mit 6.000 Mark der Staatszuschuss, gefolgt von den Gemeindekassenbeiträgen = 3.910, beziehungsweise 3.983 Mark und der Marks’schen Rente über 3.000 Mark. Bei den Ausgaben schlug die Besoldung der Lehrer mit 8.940 Mark am stärksten zu Buche; 4.326 Mark, bzw. 4.452 Mark kostete die Verpflegung  der Seminar-Zöglinge.

Bis zum letzten Schreiben in der Akte  (1. Oktober 1903), welches die Übergabe des 41. Rechenschaftsberichts begleitet, wiederholen sich die Sorgen um die finanzielle Lage der Stiftung und die Hoffnung auf nennenswertere Unterstützung durch die Gemeinden.

November 2016
______________________________
[1] Amtsblatt 1825, Nr. 51, S. 555, http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de.
[2] und folgende Zitate, falls nicht anders vermerkt: StA Selm, AB-1 – 308.
[3] StA Selm, AS 1, Nr. 670.
[4] Für die Übertragung und Erklärung dieser in hebräischer Schrift eingetragenen Seminarstunden danke ich recht herzlich dem Mitarbeiter des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten Herrn Walter Schiffer.
[5] Amtsblatt der Regierung Münster, 1845, Nr. 22, S. 147.

 
Email