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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Gemeindevorsteher in Altlünen

Christel Gewitzsch

Amtmann Foecker informierte am 26. September 1857 das Landratsamt über die Wiederwahl des Gemeindevorsteher Franz Heinrich Schulze Wethmar auf sechs Jahre. Da gegen die Person des Schulze Wethmar in keiner Weise etwas zu erinnern steht, derselbe vielmehr als ein tüchtiger und brauchbarer Mann bezeichnet werden muß,[1] stünde, so der Amtmann, seiner Bestätigung durch den Landrat nichts im Wege. Die wurde auch drei Tage später erteilt.

Die nächste Erwähnung in der Akte berichtet über die erneute Wiederwahl des Schulze Wethmar 1864, dieses Mal auf zwölf Jahre. Wegen der Dienstunkostenentschädigung des Schulze Wethmar von nur fünf Talern äußerste der Landrat seine Bedenken. Der Borker Vorsteher bekam 50 Taler, der Selmer 25 und im Vergleich dazu wäre der Betrag für Schulze Wethmar zu gering. Der Amtmann sollte beim Vorsteher nachfragen. Schulze Wethmar schrieb: ..., daß die mir bisher als Vorsteher gewährte Dienstunkosten-Entschädigung von 5 T. in gar keinem Verhältnisse stehen zu den Lasten und Kosten die damit verbunden sind, wird wohl nicht bezweifelt werden. – Wenn nun die übrigen Gemeinden eine verhältnißmäßig höhere Entschädigung zahlen, dann möchte auch ich ganz ergebenst bitten: auch meine Dienstunkosten-Entschädigung dem Verhältnisse der übrigen Gemeinden entsprechend zu erhöhen. Amtmann Foecker schlug daraufhin 20 Taler vor. Der Landrat erinnerte ihn, dass die Gemeindevertretung gehört werden musste und forderte mindestens 15 Taler. Die Gemeindeversammlung genehmigte 10. Schulze Wethmar gab sich damit zufrieden und so wurde seine Wahl und die seines Stellvertreters Schulze Pelleringhoff bestätigt.

Zwei Jahre vor Ablauf dieser Wahlperiode geriet Sand ins Getriebe. Im Februar 1874 erreichte das Landratsamt ein Schreiben der Königlichen Regierung, Abteilung des Innern, zur Kenntnisnahme. Gemeindevorsteher, die dem Mainzer Katholiken- und dem Westfälischen Bauernverein angehörten, sollten innerhalb von 14 Tagen ihren Austritt erklären oder ihr Amt niederlegen. Die Gemeindebeamten waren neben den allgemeinen Untertanenpflichten zu einer besonderen Treue gegenüber dem Staatsoberhaupt verpflichtet. Sie mussten sich feindseligen Parteinahmen gegen die Staatsregierung[2] enthalten, wozu unzweifelhaft die Theilnahme an Vereinen, welche statutenmäßig oder faktisch, eine der Staatsregierung feindliche Tendenz verfolgen, gehörte.

Amtmann Döpper meldete: In Gemäßheit der nebenbezogenen verehrlichen Verfügung beehre ich mich dem Königl. Landraths-Amt gehorsamst anzuzeigen, daß der Gemeinde-Vorsteher Schulze Heinrich Wethmar zu Altlünen Mitglied des Westf. Bauernvereins ist. Woraufhin der Landrat seines Amtes waltete und Döpper beauftragte, dem Gemeindevorsteher Schulze Wethmar entsprechende Vorstellung zu machen und [...] über das Resultat dieser Verfügung binnen 14 Tagen Anzeige zu erstatten.

Döpper riet Schulze Wethmar, aus dem Verein auszutreten, anstatt den Gemeindevorsitz abzulegen. Doch wollte er ihn nicht weiter beeinflussen und bat, den Entschluß baldigst mittheilen zu wollen. Schulze Wethmar dachte eine gute Woche darüber nach und antwortete:
Der Westfälische Bauerverein, der sich hauptsächlich zur Aufgabe gestellt hat den bäuerlichen Grundbesitz zu erhalten, verfolgt nach meiner Ueberzeugung einen für Staat und Gemeinden gleich nützlichen Zwecke, weshalb ich aus demselben nicht austreten werde.
Was das Vorsteher Amt betrifft so habe ich dieses Amt, welches anders nichts einbringt als öfters viele Last und Unannehmlichkeiten auf Wunsch der Gemeinde Altlünen ungefähr 30 Jahre vorgestanden und wie ich hoffe zur Zufriedenheit meiner Wähler und meinen vorgesetzten Behörden, wenn ich nun nicht mehr genehm bin dann möge man mich absetzen oder wenn meine Wähler es wünschen bin ich gern bereit mein Amt niederzulegen.

Die entsprechende Verfügung des Landrats traf ein. Amtmann Döpper sollte binnen 14 Tagen anzeigen, ob Schulze Wethmar bei seiner Austrittsverweigerung blieb. Da das der Fall war, wurden Neuwahlen angesetzt.

Hätte Wethmar sich anders entschieden, wäre es einsamer um ihn herum geworden. 43 Bauern des Amtsbezirks waren zu dieser Zeit Mitglieder des Bauernvereins. Bis 1890 traten weitere knapp 50 Bauern ein.

Was war so schlimm am Westfälischen Bauernverein?

Er war zu katholisch. Er war zu nah an der Zentrumspartei. Und dadurch geriet er in den Verdacht, regierungs- und staatsfeindlich zu sein.

Die Gründung des Westfälischen Bauernverbands 1871 geschah, weil lokale Bauernvereine aus den 60er Jahren, die von vornherein unter Polizeiaufsicht gestellt und verdächtigt wurden, politische Vereine zu sein, aufgrund des Vereinsgesetzes nicht mehr zusammenarbeiten durften.

Das Gesicht des Vereins war Freiherr Burghard von Schorlemer-Alst. Von ihm ging die Anregung zur Gründung der lokalen und des gemeinsamen Vereins aus, außerdem war er von 1873 bis 1889 Vorsitzender des Zentrums.

Als er sich 1862 an den Bischof von Mainz, Freiherrn Wilhelm Emanuel von Kettler, wandte und dessen Meinung zu den Plänen erfragte, machte er deutlich, dass es ihm nicht nur darum ging, die Lage des Bauernstandes zu verbessern, sondern auch den weiteren Zweck zu erreichen, dem Gift und Despotismus der modernen sogenannten Freiheit einen neuen gesunden Organismus entgegenzustellen.[3] Das machte ihn verdächtig.

Schorlemers Aktivitäten fielen in die Zeit, als Bismarck sich veranlasst sah, zusammen mit den Liberalen dem Machtanspruch des Papstes gegenüber dem Staat entgegenzutreten. In Bismarcks Augen überschritt Pius IX. die Grenze zwischen der legitimen Vertretung kirchlicher Interessen und der Einmischung in staatliche Angelegenheiten. Bismarck interessierte sich wenig für das Dogma der Unfehlbarkeit in Glaubens- oder Sittenfragen oder für die Äußerung des Papstes gegenüber dem preußischen Gesandten v. Arnim: Die Wahrheit ist Wahrheit nicht, weil sie durch genügend Beweisgründe bewiesen ist, sondern sie ist wahr, weil ich sie verkündigte,[4] sondern sah mit Sorge die Absicht des Papstes, direkt oder über die Bischöfe, in die inneren Angelegenheit des Staates hineinzuregieren.

Die Bauernvereine, mit ihrer geplanten engen Bindung an die Kirche, sah man im selben Boot sitzen. Schorlemer hatte zu Anfang in Erwägung gezogen, nur katholische Mitglieder zuzulassen. In der Vorbesprechung zur Gründung stimmten die elf Landwirte, die 1862 in Borghorst zusammenkamen, der Formulierung zu: Der Aufzunehmende muß einer der beiden christlichen Konfessionen angehören, und zwar nicht bloß dem Namen nach, sondern derart, daß, wer zur katholischen Kirche sich bekennt, die Pflichten dieser Kirche nach dem Tridentinischen[5] Glaubenssymbol und den Kirchengesetzen pünktlich als ein echter römisch-katholischer Christ erfüllt, daß, wer protestantischer oder evangelischer Konfession ist, nach diesem Bekenntnis lebt und handelt, namentlich bezüglich des Kirchenbesuchs, der kirchlichen Eheschließung, der Sonntagsheiligung und der Erziehung seiner Kinder.[6]

Am 30. November 1871 kamen in Münster 2.000 Landwirte zusammen und berieten den Statutenentwurf des Westfälischen Bauernvereins. Während der vorangegangenen Auseinandersetzungen waren, um der Einschätzung als politischer Verein zu entkommen, die Statuten mehrmals geändert worden, ohne Erfolg. Im neuen Entwurf hieß es, Zweck des Vereins sollte sein:
a) seine Mitglieder in sittlicher, intellektueller, socialer und materieller Hinsicht heben,
b) sie zu einem kräftigen, freien und unabhängigen Bauernstand vereinigen, welcher sich bestrebt:
c) den bäuerlichen Grundbesitz zu erhalten, die Selbstständigkeit seiner Mitglieder zu schützen und ihren berechtigten Ansprüchen Geltung zu verschaffen.
[7]

Zur Mitgliedschaft sagte Paragraf 4 unter anderem: Der als Mitglied Aufzunehmende muß: 1. einer der beiden christlichen Konfessionen angehören, deren Vorschriften erfüllen, einen moralischen und nüchternen Lebenswandel führen, 2. großjährig und im Vollgenusse der bürgerlichen Ehrenrechte sein, 3. Einen selbstständigen Grundbesitz haben und Landwirthschaft betreiben.

Auf der Gründungsversammlung des Westfälischen Bauernvereins wurde als Mitglied des Ausschusses[8] für den Kreis Lüdinghausen neben Schulze Schölling aus Senden Schulze Wethmar aus Altlünen gewählt.

Mit dem Tode Pius IX. und der Wahl des weniger dogmatischen Leo XIII. war der Weg frei, den Kulturkampf einschlafen zu lassen. Erfolgreich war er eh nicht gewesen. Die Katholiken rückten näher zusammen. Das Zentrum gewann an Einfluss und wurde deshalb für Bismarck interessant, der einen neuen Feind ins Visier genommen hatte: die Sozialdemokratie.

Von diesem Seitenwechsel profitierte auch der Westfälische Bauernverein, dessen Arbeit in der Folgezeit von höchster Stelle gewürdigt wurde. 1888 schrieb Staatsminister Freiherr von Lucius im Namen des Kaisers: Se. Majestät sprechen zugleich Höchstseine warme Anerkennung aus für das gemeinnützige, patriotische Wirken des Vereins, welcher unter Ew. Hochwohlgeboren umsichtiger und thatkräftiger Führung mit Erfolg bestrebt ist, den westfälischen Bauernstand wirtschaftlich und intellektuell zu fördern und zu heben.[9]


Wie ging es weiter in Altlünen?

Nachdem der Gemeindevorsteher Schulze Wethmar sein Amt niedergelegt hatte, wählten die Gemeindeverordneten 1874 für sechs Jahre den 61 Jahre alten Kolon Bernard Heinrich Busemann. Amtmann Döpper und Landrat Landsberg hatten nichts gegen die Wahl einzuwenden, so dass Busemann im Oktober 1874 vereidigt werden konnte.

Doch schon im Juli 1876 musste eine Neuwahl anberaumt werden. Die Wahl fiel auf den Kolon Johann Bernard Ostermann. 1880 wurde er wiedergewählt. Sein Stellvertreter war der Ökonom Franz Klosterkamp aus Nordlünen. Nach drei Jahren schrieb Ostermann an den Landrat Graf von Wedel: Auf das von Euer Hochgeboren vom 10. dMts an mich gerichtete Schreiben bringe ich hiermit zur Kenntniß daß ich das Vorsteheramt in der Gemeinde Altlünen bereitwilligst niederlege. Über die Gründe erfahren wir nichts.

Wieder musste gewählt werden. Neuer Gemeindevorsteher wurde 1883 der 41-jährige Kolon Wilhelm Grundmann. Zwei Jahre nach seiner Wahl bewilligten ihm die Gemeindeverordneten eine Erhöhung seiner Dienstunkostenentschädigung. Die lag bisher in Altlünen immer noch bei 45 Mark, nun wollte man ihm 100 Mark zahlen. Die nach seiner Meinung unverhältnißmäßige Erhöhung rief den Landrat auf den Plan. Er forderte eine Begründung. Amtmann Döpper schrieb: Der Grundmann hat angegeben, daß er um bestehen zu können, auf seinem Kolonate gehörig mit arbeiten müsse. Der Dienst als Gemeinde-Vorsteher raube ihm aber viele Zeit und sei er nicht in der Lage diese ohngenügende Entschädigung opfern zu können. Er erachte eine Entschädigung von 100 Mark für Verluste Dienstunkosten nicht für zu hoch und hat die Gemeinde Versammlung diese als richtig anerkannt und bewilligt. Damit gab sich der Landrat zufrieden.

Am 26. April 1891 starb Wilhelm Grundmann. Für den Rest der Wahlperiode (Ende 1891) fiel die Wahl auf den 1851 geborenen Kolon Wilhelm Borgschulze, der laut Döpper, in einem guten Rufe stand. Vom Landrat aufgefordert, sich zu dessen Qualifikation zu äußern, meinte Döpper, er hielte den Borgschulze zwar für einen fähigen Landmann, aber nicht für einen fähigen Gemeinde-Vorsteher. Der Amtmann hatte in der Sitzung den Direktor der Eisenhütte Westfalia, Wilhelm Friedrich, vorgeschlagen. Aber da es nur um eine kurze Amtszeit ging, bestätigte der Landrat die Wahl.

1892 erhielt Borgschulze erneut das Vertrauen der Gemeindeverordneten. Stellvertreter wurde der Landwirt Hermann Ostermann aus Nordlünen. Da Borgschulze auch Gemeinde- und Amtsverordneter war, musste er diese Ämter niederlegen. Bei den Wahlen Ende 1897 bestätigten die Verordneten sowohl Borgschulze als auch Ostermann.

Zweieinhalb Jahre später erkundigte sich Borgschulze beim Amtmann Busch, ob er einen Antrag auf Befreiung vom Vorsteheramt beim Amtmann oder beim Landrat stellen müsse. Die Ärzte hatten ihm eine Fortsetzung der Arbeit verboten. Dafür gab es offensichtlich Grund genug, denn am 16. Februar 1901 starb Wilhelm Borgschulze im Alter von 50 Jahren nach längerem, mit grosser Geduld ertragenem Leiden.[10]

Amtmann Busch formulierte in seinem Nachruf: Der Dahingeschiedene war seit einer längeren Reihe von Jahren seiner Gemeinde ein äußerst pflichtgetreuer und diensteifriger Vorsteher und der Amtsverwaltung ein getreuer Berater. Er hat sich nach allen Seiten hin der grössten Achtung erfreut und im persönlichen Verkehr mit ihm ist stets eine ausserordentliche Liebenswürdigkeit in den Vordergrund getreten. Sein Andenken bleibt ein ehrenvolles.

Auch Borgschulzes Stellvertreter legte aus Gesundheitsgründen sein Amt nieder. Neuer Gemeindevorsteher für die Periode 1901 bis einschließlich 1907 wurde der Landwirt Wilhelm Trillmann, sein Stellvertreter der Gutsbesitzer Carl Schulze Wethmar. 

März 2021
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[1] und folgende Zitate, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 32.
[2] Und folgendes Zitat: H. A. Mascher, Der Gemeinde-Vorsteher für Rheinland und Westfalen, Potsdam 1859, S. 15. http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/
[3] Wilhelm Kellermann, Der Westfälische Bauernverein, in: Engelbert Freiherr von Kerckerinck zur Borg (HG), Beiträge zur Geschichte des westfälischen Bauernstandes, Berlin 1912, S. 376-447lermann, S. 378.
[4] Zitiert nach: Ernst Engelberg, Bismarck, Berlin 1990, S. 105.
[5] Tridentinum = Konzil von Trient zwischen 1545 und 1563, verwirklichte die seit Ende des 14. Jahrhunderts geforderte Kirchenreform. Kirchengeschichtlich besiegelte das T. die mit der Reformation aufgebrochene Spaltung und begründete den Katholizismus als christliche Konfession.
[6] Kellermann, S. 382.
[7] Kellermann, S. 393.
[8] § 5. Leitung des Vereins. ... Neben dem Vorstande besteht ein Ausschuß. Derselbe bildet sich aus jenen Vereinsmitgliedern, welche bei den General-Versammlungen gewählt werden. / Auf je 25 Mitglieder und jedes angefangene Viertelhundert kommt wenigstens ein Mitglied in den Ausschuß. / Die Mitglieder des Ausschusses haben, wenn sie den Sitzungen des Vorstandes beiwohnen, Stimmrecht. Sie halten Lokal-Versammlungen ab, verzeichnen sich anmeldende Mitglieder, erheben Vereins-Beiträge. In: Kellermann, S. 394.
[9] Kellermann, S. 401.
[10] Todesanzeige der Familie im Lüdinghauser Volksblatt Nr. 22, 1901, in: StA Selm, AB-1 – 32.

 
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