aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Niemand darf ... dem Bettler eine Gabe reichen
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Christel Gewitzsch

Oberpräsident Vincke ließ sich 1831 im Amtsblatt mit der Aussage vernehmen: Die Bedrängniß der Armen während der letzt verflossenen Nothzeit erforderte eine mildere Anwendung der sonst gegen die Bettelei ergriffenen Zwangs-Maßregeln.(2)  Damit erkannte er immerhin einen möglichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Not und Bettelei an und sah im Betteln nicht nur die Auswirkung von abgrundtiefer individueller Faulheit. Ein Grevener Kaufmann klagte zu Beginn des Jahrhunderts: Die Bettelei allhie ist erschrecklich, man müßte wohl ein Dutzend Armenhäuser haben, sie aufzunehmen.(3)

Die Notzeit, auf die Vincke sich bezieht, wurde hervorgerufen durch die Missernte von 1830. Die Preise für Roggen stiegen immens und ebenso die Zahl der Notleidenden. Die Zwangsmaßnahmen, von denen er schrieb, waren u.a. in der königlichen Verordnung zur Errichtung des Landarmen- und Arbeitshaus im ehemaligen Kloster in Benninghausen im Regierungsbezirk Arnsberg niedergelegt.

In der Verordnung wird unterschieden zwischen ausländischen Landstreichern (Vagabunden), arbeitsfähigen inländischen Bettlern und Landstreichern und unverbesserlichen arbeitsscheuen Müßiggängern und Bettlern. Die Personen der ersten Gruppe waren so schnell wie möglich, wenn nicht andere Vorschriften oder Verträge dem entgegenstanden, über die Grenze abzuschieben. Bettler, die irgendwo angetroffen wurden, waren bei der nächsten Polizeibehörde abzuliefern, die sie an die Behörden ihres Wohnortes übergaben. Als unverbesserlich wurden die Bettler bezeichnet, die zum dritten Mal aufgegriffen wurden, vorherige Anweisungen nicht befolgt hatten und trotz Anwendung der Strafen im ersten Betretungsfalle von 24stündiger Gefängniß bei Wasser und Brod, im folgenden von Verdreifachung dieser Sitzzeit nebst mäßiger körperlicher Züchtigung, nicht gebessert worden sind.(4)  Diese wurden, wenn vor Ort keine Zwangsarbeitsanstalt existierte, nach Benninghausen gebracht. Wie lange sie dort blieben, hing von den vorhandenen Kapazitäten und der sittlichen Besserung der Aufgenommenen ab. Halbjährlich hatte die Direktion Bericht zu erstatten, über das sittliche Verhalten der Häuslinge, über ihre Arbeits-Gewöhnung und erlangte Fähigkeit zum eigenen Erwerb und die dazu vorhandene Gelegenheit. Anhand dieser Berichte entschied die Regierung über Fortdauer oder Entlassung. Während ihrer Zeit in Benninghausen mussten die Aufgenommenen damit rechnen, milder oder strenger behandelt und verpflegt zu werden, je nachdem, ob sie aus wirklicher Noth oder aus Vorsatz und Gewohnheit und mit Rücksicht auf die Zeit, welche sie der Bettelei und einem herumschweifendem Leben ergeben gewesen waren.


An der Ergreifung von Bettlern hatten sich alle zu beteiligen. Gab es mit der Umsetzung Probleme, sollten Einwohner zumindest die Behörden über das Vorhandensein informieren. Wenn der Bettler in Benninghausen aufzunehmen war, winkte eine Aufgreifungs-Prämie von 16 Groschen für Jedermann, acht Groschen bekam die entsendende Polizeibehörde. Bestraft werden konnten alle, die den Bettlern eine Gabe reichten, sie aufnahmen oder sie weitertransportierten.  Diese Strafen wurden beim zweiten Verstoß verdoppelt.

Aufgegriffene

Auch wenn Vincke 1831 meinte, nun wieder strengere Maßregeln anwenden zu müssen, da sich die Not der Bevölkerung vermindert hätte, griffen die Behörden immer wieder Personen auf, die eher hilfsbedürftig als hilfeheischend daherkamen. Der 14-jährige Wilhelm Lappe aus Selm erzählte 1836 dem Kamener Bürgermeister, nachdem er aufgegriffen und bei diesem abgeliefert worden war, er sei schon seit sechs Wochen bettelnd unterwegs. Aus Not sei er von zu Hause weggegangen und weil sein Vater ihm gesagt habe, er solle sich etwas sammeln. Einige Kleidungsstücke und 17 Silbergroschen und 10 Pfennige habe er zusammengebracht. Lappe wurde nach Bork überstellt. Ein Vierteljahr später tauchte er in Albersloh auf und wurde wieder wegen Bettelns nach Bork geschickt. Bürgermeister Köhler brachte ihn bei seinem Onkel unter und hoffte, damit das Kind versorgt zu haben. Der Polizeidiener Schwager erhielt den Auftrag, ein wachsames Auge(5) auf ihn zu werfen.

Als nächster jugendlicher Verbrecher, in der so bezeichneten Akte ist von den beiden Kinder die Rede, fiel der Selmer Wilhelm Lange in Großreken auf. Er war von seinem Herumstreichen so krank und schwach geworden, dass ein Bauer sich seiner erbarmte und ihn aufnahm. Nicht ohne selbst ein Risiko einzugehen, denn wie oben erwähnt, musste er sich darauf verlassen, dass ihm die Hilfeleistung als wirkliche Notfallhilfe abgenommen wurde. Sonst hätte er mit einer Strafe rechnen müssen.

Wanderherbergen

Amtmann Busch legte 1897 eine neue Akte an, die mit Schreiben zum Thema Steuerung der Bettelei(6) gefüllt wurde. Besonders aufmerksam beobachteten die Behörde in diesem Zusammenhang die Herbergswirtschaften, die von umherwandernden Arbeitern genutzt wurden, aber eben auch Bettler, Landstreicher und sonstiges arbeitsscheues Gesindel aufnahmen. Die Aktivität des Regierungspräsidenten Gescher hatte die Anlegung der neuen Akte wohl befördert, denn er verlangte von den Polizeiorganen, alle drei Jahre über die allgemeinen Verhältnisse des Wanderherbergswesens und die gemachten Beobachtungen zu berichten.

Nach den ersten ihm vorliegenden Rückmeldungen kam er zu dem Schluss, dass sich die Qualität der Herbergsbesucher gebessert habe. Das führte er auf die erhöhte polizeiliche Aufmerksamkeit zurück, räumte aber ein, dass das Angebot an Arbeitsplätzen das Umherziehen von Arbeitslosen nicht mehr so erforderlich mache wie in der Vergangenheit. 1903, als Münster vom wirtschaftlichen Niedergang in den letzten Jahren schrieb und die Zahl der Herbergsbesucher stark anstieg, verwies er wieder auf den Erfolg der strengen Kontrollen, denn: Trotz dieser Zunahme hat sich im allgemeinen die Qualität der Herbergsbesucher nicht verschlechtert.

Über Wanderherbergen konnte Amtmann Busch nichts berichten. Sie gab es in seinem Amtsbezirk nicht. Der Bauer Franz Knappmann aus Bork hatte vor einigen Jahren um eine Konzession dafür nachgefragt. Sie war ihm aber vom Kreisausschuss verweigert worden. Busch machte über seine Abneigung gegen diese Übernachtungsbetriebe keinen Hehl. Herbergen auf dem Lande sind stets von großem Uebel gewesen und werden es bleiben, so schrieb er an den Landrat. Das Gesindel welches angetroffen wird, wohnt fast ausschließlich auf Herbergen. Arbeitswillige hätten in diesen Zeiten keinen Grund, in der Gegend umherzuziehen. Müssten sie ihren Standort verändern, kämen sie besser in Gesellen-Hospizen unter.

Verdächtige

Von einem Fall aus dem Jahr 1898 erfahren wir etwas mehr, weil Busch das Protokoll der Vernehmung des vom Polizeidiener vorgeführten Arbeiters Rudolf Freund abheftete. Polizeidiener Fleige hatte ihn festgenommen, als Freund im Dorf bettelte. Freund war 1855 in Stargard, Pommern, geboren. Er wohnte in Berlin, war verheiratet, lebte aber von seiner Frau getrennt, und war Vater von zwei Kindern. Bisher war er noch nie auffällig geworden. Zur Sache äußerte er sich wie folgt:
Ich bin am Samstag Abend von Berlin abgefahren und zwar bin ich von einem Agenten gedungen für eine Ziegelei bei Lüdinghausen. In Lünen, woselbst ich die Nacht zugebracht, sind mir die letzten Mittel ausgegangen und habe ich hier einige Leute um ein Almosen angesprochen um mein Ziel erreichen zu könne. Als Legitimation kann ich mir meine am 12 d. Mts. in Berlin erneuerte Quittungsmarke 4 vorzeigen. Die übrigen Papiere sind von dem Agenten der Ziegelei übersandt.

Amtmann Busch begnügte sich mit einer Verwarnung und fordert Rudolf Freund auf, sich sofort nach Lüdinghausen zu seinem neuen Arbeitgeber zu begeben.

Drastischer äußerte sich Busch 1902, als er sich mit einer Bekanntmachung an die Einwohner von Cappenberg wandte. Dort waren wohl Anfang des Jahres viele bettelnde Männer und Frauen aufgefallen. Diese, so Busch, verständen es vorzüglich, Mitleid zu erheischen. Und wenn sie einige milde Gaben ergattert hatten, würden diese gleich für wüste Saufgelage verwendet. Die Polizeibeamten hatten den Auftrag, streng zu kontrollieren, doch nütze das wenig, wenn gutmüthige Leute fortfahren, dem verworfenen Pack die Umzüge lohnend zu machen.

In den folgenden Jahren bis 1909 gab Busch nur noch die Zahl der verhafteten Bettler an den Landrat weiter. Die Verhafteten übergab man an die Gerichte. Welche Strafen sie erhielten, konnte Busch nicht melden, denn die Ergreifungsbehörden wurden darüber nicht informiert. Pro Jahr kam es durchschnittlich zu zehn Verhaftungen wegen Bettelns.

April 2022
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1. Allerhöchste Verordnung vom 15. Dezember 1820, in: Amtsblatt der Königl. Regierung, Münster 1821, Nr. 7, Beilage, §. 7.
2. Amtsblatt der Königl. Regierung zu Münster, 1831, Nr. 36, S. 313.
3. Zitiert nach: Friedrich Keinemann, Westfalen im Zeitalter der Restauration und der Julirevolution, 1815-1833, Münster 1987, S. 78.
4. und folgende Zitate: Allerhöchste Verordnung vom 15. Dezember.
5. Stadtarchiv Selm, AB-1 – 460.
6. und folgende Zitate: Stadtarchiv Selm, AB-1 - 420.

 
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