aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Schulpflicht und Schulversäumnisse

Christel Gewitzsch

„Wir haben bald Geburtstag, wir brauchen dann nicht mehr zur Schule zu gehen.“ So oder ähnlich müssen sich die beiden Knaben Heinrich Böcker aus Ternsche und Heinrich Prott an der Funne gegenüber ihrem Lehrer Schwenniger geäußert haben. Die Schulpflicht ging bis zum vollendeten 14. Lebensjahr und da sie dieses im November, beziehungsweise Dezember 1863 erreichten, fühlten sie sich frei.

Der Lehrer sah das ganz anders. Der gesamte Winterkursus 1863/84 sei von den beiden zu besuchen, der Geburtstagstermin sei kein Entlassungstermin. Schwenniger informierte Pfarrer Evers, der als ständiges Mitglied des Schulvorstands die Aufsicht über die inneren Angelegenheiten der Schule führte, damit dieser auf die Eltern der Sprösslinge einwirke. Doch der Pfarrer fragte lieber erst einmal beim Amtmann an, der sich auch nicht entscheiden konnte und den Landrat anschrieb. Landrat Landsberg bestätigte die Auffassung des Lehrers und auf dem Dienstweg erhielt der Pfarrer den Auftrag, die Eltern der beiden Jungen aufzuklären und ihnen im fortgesetzten Verweigerungsfalle Polizeimaßnahmen anzudrohen und eventuell Anzeige zu erstatten.[1]

Wann muss das Kind in die Schule?

In den vorhergehenden Jahrzehnten waren sich die Eingesessenen weniger über das Ende als über den Beginn der Schulpflicht uneins. Im Frühjahr 1828 war im Amtsblatt die Regelung des Ministeriums in Berlin für alle Teile der Provinz Westfalen veröffentlicht worden, dass die Schulpflicht in Städten und in geschlossenen Dörfern vom vollendeten sechsten und in zerstreuet liegenden Ortschaften, wo die Kinder zu weit von der Schule entfernt wohnen, vom vollendeten siebenten Lebensjahre an gerechnet werden solle.[2] Und sofort wurde diskutiert,  was denn unter der Formulierung zu weit von der Schule entfernt zu verstehen sei. Zu diesem Zeitpunkt wollte man sich auf eine bestimmte Entfernung nicht festlegen. Die unterschiedliche Beschaffenheit der Schulwege, der körperliche Zustand der betroffenen Kinder und andere Gesichtspunkte sollten bei der Terminfestlegung berücksichtigt werden. Die Entscheidung, wie vor Ort verfahren werden sollte, überließ man dem jeweiligen Schulvorstand. Wenn der noch nicht installiert war, bestimmten im Zweifel der Pfarrer und der Bürgermeister den Termin des Schulbeginns.

Der Lehrer Schwenniger und die Lehrerin Zurbrüggen mussten in dieser Angelegenheit im Frühjahr 1864 Alarm schlagen. In den Selmer Bauerschaften hatte sich die Auffassung festgesetzt, alle ihre Kinder müssten erst mit Vollendung des 7. Lebensjahres in die Schule. Zwar hatte der Oberpräsident schon im Juli 1828 klargestellt, dass die Verordnung so nicht zu verstehen sei und Kinder, welche nicht zu weit von der Schule entfernt wohnen[3] vom vollendeten sechsten Jahre schulpflichtig seien, doch schienen einige Eltern dies ignorieren zu wollen. In Selm wurde daraufhin an vier aufeinanderfolgenden Sonntagen die offizielle Bekanntmachung des Amtmanns Foecker publiziert, die festsetzte, daß aus nachfolgenden Bauerschaften der Gemeinde Selm mit Beginn des nächsten Schuljahrs die 6 Jahre alt gewordenen Kinder die Schule besuchen müssen.
1, sämmtliche Kinder aus der Bauerschaft Ternsche mit Ausnahme der des Schäfers Fohrmann
2, desgleichen aus der Bauerschaft Beifang und der Selmer-Heide
3, desgleichen aus der Bauerschaft Ohndrup mit Ausnahme der Kinder des Colon May und Kötters W. Dornhege
4, desgleichen aus der Bauerschaft Westerfelde mit Ausnahme der Kinder der Kötter Kramer, Böcker, Beer, Tinsloe und Albert und deren Wirthsleute, der Colonen Spinn, Kaldewey, Kordt, Schwenken und Brosterhaus, - ferner die Bewohner der beiden Güter Buxfort und des Colonats Hölscher.
Die Vorbenannten müssen aber, sobald die Kinder 6 ½ Jahre alt geworden, dieselben zur Schule schicken.
Indem ich die Eingesessenen von dieser Festsetzung hierdurch Kenntniß gebe, bemerke ich, daß gegen die renitenten Eltern unnachsichtig die gesetzlichen Strafen verhängt und damit so lange fortgefahren wird, bis sie dieser Anordnung Folge geben.

1879 kam Münster auf die Verordnung von 1828 zurück und bezweifelte die weitere Notwendigkeit für die Rückstellung der Kinder aus zerstreut liegenden Ortschaften. Inzwischen seien viele neue Schulen gebaut worden und auch die Wegeverhältnisse hätten sich deutlich verbessert. Außerdem ließe sich die neue Verordnung über eine achtjährige Regelschulzeit mit der Beibehaltung der alten Bestimmung nicht erfüllen. Der zuständige Minister genehmigte die Vorschläge des Oberpräsidenten und so konnten Anfang 1880 neue Vorschriften über den Beginn der Schulpflicht erlassen werden. Nach diesen Bestimmungen[4] durfte eine spätere Aufnahme in die Schule nur für Kinder ausgesprochen werden, die außerhalb des Schulortes mindestens zwei Kilometer von der Schule entfernt wohnten und erst in den letzten drei Monaten vor dem Aufnahmetermin das sechste Lebensjahr vollendet hatten. Auch in allen diesen Fällen wurde eine Zurückstellung nur bis zu dem nächstfolgenden Aufnahmetermin zugelassen. Die Mindestentfernung von zwei Kilometern durfte aber nicht so verstanden werden, dass damit eine automatische Zurückstellung verbunden war. Bei günstigen Wegeverhältnissen oder einer fortgeschrittenen körperlichen Entwicklung des betreffenden Kindes sollte dieses termingerecht mit der Schule beginnen.

1880 gingen beim Amt Bork zwanzig Anträge auf Zurückstellung vom Schulbesuch ein, von denen zehn genehmigt wurden. In den darauffolgenden sechs Jahren fragten knapp vierzig Erziehungsberechtigte um eine Genehmigung nach, rund der Hälfte davon – die Angaben sind nicht vollständig – wurde stattgegeben. Die Gründe für einen verspäteten Schulbeginn sind meistens nicht angegeben. Der Kreisschulinspektor verpflichtete aber den Amtmann, in den Fällen, wo nicht durch eigene Anschauung des Praeses oder der Mitglieder des Schulvorstandes die Angaben der Eltern über den körperlichen Zustand der Kinder bestätigt werden können, ärztliches Zeugniß von den Eltern zu verlangen und mit einzusenden.[5] In zwei Fällen, in denen als Grund eine schwere, beziehungsweise schwache Aussprache  angeführt wurde, genehmigte der Inspektor die Rückstellung nicht, denn, so schreibt er: Es kommen viele Kinder mit schwerer Aussprache in die Schule und lernen dort sprechen.

Kann das Kind vorzeitig entlassen werden?

Eine wahre Flut von Anträgen über eine vorzeitige Beendigung des Schulbesuchs erreichte in den 70er Jahren das Amt. 1873 baten die Eltern der Maria Franziska Althoff um die Entlassung ihrer Tochter, weil sie ihre kränkliche Mutter bei der Hausarbeit unterstützen sollte. Der Gutspächter Hugo Brüning wandte sich ein Jahr später im Namen der Eltern des Theodor Borgmanns an den Amtmann. Der Onkel des Jungen hatte sich bereit erklärt, ihn auf einige Jahre unentgeldlich in die Lehre zu nehmen wenn er gleich eintreten[6] könne. Andernfalls sah dieser sich gezwungen, einen anderen Lehrling für das Weberhandwerk einzustellen. Theodor müsste dann später zu fremden Leuten gegeben werden, denen außerdem Lehrgeld zu zahlen sei.

Ende 1874 beklagte die Regierung die beträchtliche Zunahme an Gesuchen um vorzeitige Entlassung und verlangte, sie nur in den dringendsten Fällen positiv zu entscheiden. Der jeweilige Schulvorstand solle die Anträge sorgfältig beraten, den Lehrer dazu anhören und das Gesuch, falls es nicht sofort abgewiesen werden musste, mit der auf dem Rande vermerkten gutachtlichen Aeußerung des Schulvorstandes an den Schulinspector zu befördern.[7] Ab 1874 durfte dieser dann die endgültige Entscheidung fällen, vorher hatte er die Anträge an die Regierung weiterzuleiten.

Bis 1882 gingen beim Schulvorstand in Selm insgesamt 26 Anträge auf vorzeitige Entlassung ein, die  mit einer Empfehlung weitergereicht wurden. Der Amtmann bekam über den Kreisschulinspektor Wallbaum die Entscheidung mitgeteilt. Von diesen 27 Anträgen wurden nur zwei abgelehnt. Im Fall der Schülerin Anna Homann erklärte der Kreisschulinspektor, daß in dem Umstande, daß das Mädchen jetzt das Nähen lernen kann, ein hinreichender Grund für die Entlassung nicht liegt.[8] Auch die für das Mädchen Josephine Schönewald angegebenen Gründe wurden von Wallbaum als nicht dringlich eingestuft, weshalb er das Gesuch nicht genehmigte. Von allen Anträgen bezogen sich insgesamt zwanzig auf Schülerinnen und neun auf Schüler. Die Entscheidung im Fall Constantin Dörlemann gehörte sicher zu den leichteren. Der Vater hatte versprochen, seinen Sohn zur weiteren Ausbildung eine Ackerschule besuchen zu lassen.[9]

Was geschieht bei Schulversäumnissen?

Schulversäumnisse wurden mit Strafgeldern belegt, die im Armutsfall in Gefängnisstrafen umgewandelt werden konnten. Ein Taler Strafe wurde zum Beispiel nach einer Liste des Landrats von 1834 mit eineinhalb Tagen Gefängnis abgegolten. Man hoffte, die Eltern durch die Strafandrohung zu einer verstärkten Befolgung der Schulpflicht zu veranlassen. Deshalb sollten die Schulversäumnisse auch sofort nach Erhalt der monatlichen Absentenlisten geahndet werden, wobei mehrere Fälle zu einer Strafverfügung zusammengefasst wurden. Auf keinen Fall sollten die Fehltage oder -stunden über einen längeren Zeitraum gesammelt und die Einzelstrafen addiert werden, da man so den Zweck der Besserung nicht erreichen konnte.

Für die Jahre 1838/39 werden in Selm neunzehn Schulversäumnisse mit Geldstrafen zwischen einem Silbergroschen und einem Taler belegt. Später konnte es teurer werden. Aufgrund des Paragrafen 5 der Polizei-Verordnung betreffend die Beförderung eines regelmäßigen Schulbesuchs und die Bestrafung der Schulversäumniss3[10]  aus dem Jahre 1877 konnte jedes Fehlen ohne ausreichende Entschuldigung mit einer Strafe bis zu fünfzehn Mark (ein Taler = drei Mark) geahndet werden. Diese Gelder flossen in die Schulkassen.

Da in diesem Paragrafen aber keine Frist angegeben wurde, innerhalb derer die Entschuldigung für das Fehlen des Kindes eingereicht werden musste, befürchtete die Regierung ein paar Jahre später,  daß der wegen unentschuldigter Schulversäumniß seines Kindes mit Polizei-Strafen belegte Vater pp., wenn er auf gerichtliches Gehör antrage, noch in dem gerichtlichen Termin den Nachweis der Entschuldbarkeit der Schulversäumniß seines Kindes führen könne und dürfe. Das gerichtliche Verfahren mit Zeugenvernehmungen pp., sei dann also unnöthigerweise in Bewegung gesetzt; denn der in Strafe genommenen Vater pp. würde, wenn er der Polizeibehörde den Nachweis der Entschuldbarkeit der Schulversäumniß erbracht hätte, in eine Polizei-Strafe nicht genommen worden sein.[11] Die Abteilung des Innern schlug daraufhin vor, eine Frist von acht bis vierzehn Tagen vorzuschreiben und forderte die Landräte auf, dazu Stellung zu nehmen. Wie meistens in solchen Fällen fragten die Landräte bei den Ortsbehörden nach. Amtmann Döpper begrüßte den Vorschlag und sprach sich für eine achttägige Frist aus.
Dezember 2019
______________________________ 

[1] StA Selm, AB-1 – 253.
[2] StA Selm, AB-1 – 212a.
[3] StA Selm, AB-1 – 253. Ebenso die folgenden Zitate.
[4] StA Selm, AB-1 - 212a.
[5] StA Selm, AB-1 - 224 und folgendes
.
[6] StA Selm, AB-1 – 253.
[7] StA Selm, AB-1 – 212a.
[8] StA Selm, AB-1 – 253.
[9] StA Selm, AB-1 – 212a.
[10] StA Selm, AB-1 – 219.
[11] StA Selm, AB-1 - 212a.


 
Email