Die verheerendste aller Krankheiten - Tuberkulose
Christel Gewitzsch
Beim Kampf gegen die Tuberkulose gab der Regierungsbezirk Münster kein gutes Bild ab. In der Todesursachenstatistik für 1902 lag der Bezirk mit knapp 28 Sterbefällen pro 10.000 Einwohner an der Spitze aller Regierungsbezirke des Deutschen Reiches. Die übrigen lagen zwischen 13 und knapp 25 Todesfällen und konnten seit einigen Jahren erhebliche Rückgänge verzeichnen. Im Regierungsbezirk waren also stärkere Bemühungen vonnöten.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten hatte sich schon im August 1900 an alle Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in Berlin mit folgendem Schreiben gewandt:
Die Tuberculose, namentlich in Form der Lungenschwindsucht ist, wie bekannt, die verbreitetste und verheerendste aller Krankheiten; es giebt kein anderes menschliches Leiden, welches bis in die Neuzeit hinein Familienglück und Volkswohl in gleichem Maße geschädigt hätte. Die neuere ärztliche Wissenschaft hat indessen erkannt, daß die Krankheit, welche sie seither für unheilbar gehalten hatte, einer Besserung und selbst einer vollständigen Heilung sehr wohl zugängig ist. Nicht minder wichtig war die Erfahrung, daß die Verhütung der Tuberculose d. h. der Schutz vor einer Uebertragung des Krankheitskeimes und die Vernichtung des letzteren durch verhältnißmäßig einfache, mehr oder weniger Jedermann zu Gebote stehende Mittel gefördert werden kann.
Um diese Kenntnis in weiteren Schichten der Bevölkerung zu verbreiten ist im Kaiserlichen Gesundheitsamt unter dem Titel „Tuberkulose-Merkblatt“ eine gemeinfaßliche Belehrung über das Wesen und die Bekämpfung der Lungenschwindsucht ausgearbeitet worden.[1]
Ein Informationsblatt
Dieses Merkblatt, vom Verlag Julius Springer in Berlin zum Preis von 3 Mark für hundert Exemplare, bzw. 25 Mark für tausend zu beziehen, verschickte der Regierungspräsident in mehreren Exemplaren an die Landräte mit dem Auftrag, sie an die Ortsbehörden weiterzuleiten. Die zugespitzte Lage im Regierungsbezirk erhoffte man durch eine gründliche Information aller Schichten der Bevölkerung zu verbessern. Um alle zu erreichen, ordnete die Regierung an, daß die Kreisschulinspectoren im Verein mit den Kreisphysikern den Inhalt des Merkblattes auf der nächsten Kreiskonferenz zum behuf der Belehrung der Schuljugend zu einem besonderen Gegenstand der Besprechung machen. Darüber hinaus setzte sie sich mit dem Vorstand der Ärztekammer ins Benehmen, um auf diesem Wege die Mitwirkung der Ärzte zur Verbreitung der ihnen zugehenden Tuberkulosemerkblätter anzuregen.
In Bork bestellte Amtmann Busch für die drei Gemeinden hundert dieser Merkblätter. Auf vier Seiten informierte das Kaiserliche Gesundheitsamt darüber, was Tuberkulose ist, wie die Ansteckung erfolgt, wie man sich vor der Krankheit schützt, welche Personen besonders gefährdet sind und worauf erkrankte Personen zu achten haben.
Als Beispiel hier das erste Kapitel:
A. Was ist die Tuberkulose?
Die Tuberkulose ist die verderblichste aller übertragbarer Krankheiten. Sie befällt die verschiedensten Theile des Körpers, meist aber die Lungen; sie verschont kein Land, kein Lebensalter, keinen Beruf, keine Volksklasse. In Deutschland sterben daran jährlich über 100.000 Menschen, die Zahl der Kranken wird auf das zehnfache geschätzt. Jeder dritte, im Alter von 15 bis 60 Jahren sterbende Mensch erliegt der Tuberkulose.
Die Tuberkulose wird verursacht durch den von Robert Koch entdeckten Tuberkelbazillus, ein winziges, nur bei sehr starker Vergrößerung sichtbares Lebewesen niederster Art, welches am besten bei Blutwärme (etwa 37 Grad Celsius) gedeiht und sich im Innern des Körpers vermehrt. In die Außenwelt gelangt es hauptsächlich mit dem Auswurf kranker Menschen und mit der Milch kranker Thiere.
Jeder Mensch ist der Gefahr ausgesetzt, den Keim der Tuberkulose in sich aufzunehmen, und mancher beherbergt ihn seit langer Zeit, ohne es zu wissen.1) Jedermann muß sich daher auf den Kampf mit diesem Feinde einrichten.
Der Tuberkelbazillus wird am sichersten vernichtet durch hohe Hitzegrade bei Anwesenheit von Feuchtigkeit, also durch Kochen oder durch strömenden Wasserdampf. Dem Sonnenlichte widersteht er nicht lange. Andere Desinfektionsmittel, z. B. Kresolwasser, Karbolsäurelösung, Formaldehyd, bedürfen zu wirksamer und gefahrloser Anwendung besonderer Vorkenntnisse.
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1) Ein Viertel der Leichen von Personen, die an anderen Krankheiten gestorben sind, zeigt im Innern Spuren überstandener Tuberkulose.
Zwei Jahre später legte die Landesversicherungsanstalt Westfalen mit dem Rathgeber für Lungenkranke nach. Noch etwas ausführlicher stellt sie den richtigen Umgang mit der Krankheit dar und warnt zum Schluss ausdrücklich vor Betrügern, die mit der Anpreisung von Geheimmitteln Wunder versprachen. Deshalb nicht einen Pfennig verausgaben für derartige nutzlose und gefahrbringende Mittel, trotz aller Lockungen, welche das Gepräge des Schwindels an der Stirn tragen und nur darauf gerichtet sind, den Kranken die Groschen aus der Tasche zu holen.
Der „Ratgeber für Lungenkranke“ wurde auf Anweisung des Landrats Anfang 1907 mit je einem Exemplar an die Schulen von Alstedde und Netteberge, mit zwei Exemplaren jeweils für die Knaben- und Mädchenoberklasse in Bork, Nordlünen, Selm, Wethmar und Cappenberg ausgegeben. Darüber hinaus erhielten die Schulen 18 Exemplare; je eines für die Schulbibliotheken, die anderen zur Verteilung an die Schulkinder.
Vereinsunterstützung
1904 erhielt Amtmann Busch die Aufforderung des Landrats Wedel, für den „Verein zur Fürsorge für Lungenkranke“ Mitglieder zu gewinnen. Der Regierungspräsident Gescher selbst hatte sich mit einem Aufruf um Unterstützung an alle Eingesessenen des Regierungsbezirks gewandt. Der Verein setzte sich die Bekämpfung der Krankheit zum Ziel. Er beabsichtigte, schwächliche und zur Schwindsucht veranlagte Kinder in Bäder zu entsenden, vorgeschrittene Krankheitsfälle in Krankenanstalten behandeln zu lassen und Neuerkrankte in Heilstätten, Bädern und Sommerfrischen unterzubringen.
Nachdem ein gutes Vierteljahr ins Land gezogen war, musste Busch melden, niemanden gefunden zu haben, der den Verein unterstützen wollte. Er selbst sei mit einem Jahresbeitrag von 3 Mark Mitglied geworden und er versprach, sich weiter zu bemühen.
Der Anstoß für ein weiteres Bemühen musste aber vom Regierungspräsidenten kommen. Im August 1905 schrieb er an Busch:
Wie aus den Mitgliederverzeichnissen ersichtlich, ist weder von Eingesessenen des Amtes noch vom Amte selbst bisher ein Beitrag für den Verein zur Fürsorge für Lungenkranke gezahlt worden. Mit Rücksicht auf den äußerst guten Zweck des Vereins, durch Entsendung zur Heilstätte oder durch Bewilligung einer Unterstützung an bedürftige Personen tunlichst Hülfe zu bringen, bitte ich doch im allgemeinen Interesse Sich in den Dienst der Sache zu stellen und nach Möglichkeit für Beitrittserklärungen Sorge zu tragen.
Einige Aufrufe, Mitgliederlisten, Statuten pp sind zur Weiterverteilung beigefügt.
Spätestens Ende Oktober bitte ich um kurze Anzeige über den Erfolg Ihrer Bemühungen.
Ende Oktober und keinen Tag früher meldete Busch: An die Privatwohltätigkeit werden hier ziemlich hohe Anforderungen gestellt, trotzdem haben mir aber noch verschiedene Eingesessene ihren demnächstigen Beitritt in Aussicht gestellt.
In dem Nachweis über die Mitglieder und deren Beitrag (Mindestjahresbeitrag für Einzelpersonen 3 Mark, für juristische Personen 50 Mark) finden sich
1. Amtsverband Bork, Bork, 50 M
2. Busch, Hermann Amtmann, Bork, 3 M
3. Rudolph Carl Dr. med., Bork, 3 M
4. Gewerkschaft Eisenhütte Westfalia, Wethmar 100 M
5. Bergwerks Gesellschaft Hermann, Bork, 50 M
6. Janssen, Heinrich Bergassessor, Cappenberg, 20 M
7. Schulze Berge Hermann Fabrikbesitzer, Nordlünen, 10 M
8. Schulz Otto, Fabrikbesitzer, Nordlünen, 10 M
9. Fluhme Lenz Lüner Eisengießerei, Nordlünen, 10 M
10. Moll Ludwig Sägewerk-Besitzer, Nordlünen, 10 M
11. Gräfin von der Gröben, Cappenberg, 50 M.
Nicht alle beeilten sich mit ihrem Beitritt. Im Laufe des Jahres 1907 trudelten die ersten ein, doch die Bezahlung der Beiträge lief nur stockend an. Die Mitgliederzahlen schwankten leicht; 1910 notierte Busch 15 Mitglieder, die Beiträge in der Höhe von 382 Mark zahlten. Im Vergleich zur ersten Liste waren der Bergwerksdirektor Wiskott, Pastor Schräder, Kaplan Wörmann und eine weitere Lüner Eisengießerei hinzugekommen .
Der Kassenabschluss des Vereins für das Jahr 1905 fiel noch deutlich zu Gunsten der Einnahmenseite aus. Knapp 40.000 Mark Einnahmen standen etwas mehr als 16.000 Mark Ausgaben entgegen. Da noch ein Bestand aus dem Vorjahr von rund 36.000 Mark vorhanden war und Zinsen hinzukamen, endete das Rechnungsjahr Ende 1905 mit einem Gesamtbestand von 62.177,79 Mark. Trotz aller Bemühungen überschritten aber schon die Kosten für das Jahr 1908 die Einnahmen. 34.000 Mark Einnahmen standen 38.000 Mark Ausgaben gegenüber. Nur durch die großzügige Stiftung eines unbekannten Wohltäters über 4000 Mark konnte dies ausgeglichen werden.
Immer wieder ergingen Aufrufe, weitere Mitglieder zu werben. In Ascheberg war die Spar- und Darlehnskasse Mitglied geworden und Busch schrieb die Kassen von Bork und Selm an und bat sie, dem Beispiel zu folgen. Antwortschreiben liegen nicht vor, aber 1909 erwähnte Busch den Beitritt der Borker und kündigte die Selmer an.
Um mehr Geld einzunehmen, genehmigte der Oberpräsident 1908 die Abhaltung einer Hauskollekte. Über die Auswahl der Einsammler hatte man sich besondere Gedanken gemacht. Die Generalversammlung des Vereins empfahl, nicht die Polizeidiener von Haus zu Haus zu schicken, sondern nach Möglichkeit Vereinsmitglieder dafür einzusetzen. Und auch Amtmann Busch beabsichtigte, in jeder Bauerschaft einen angesehenen Eingesessenen bereit zu machen. Das Sammelergebnis wird nicht genannt.
Hilfen durch den Verein
Wenn tuberkulöse Kinder auf Kosten des Vereins in Heilanstalten untergebracht werden sollten, mussten bis April jeweils die Anträge mit einem Attest des Kreisarztes in Münster eingehen. Zu Beginn meldete Amtmann Busch niemanden an. Erst 1908 reichte er eine Liste mit Namen von 15 Kindern ein, die nach den Angaben der Ärzte ausgesucht wurden, weil für sie notwendig im laufenden Jahre etwas getan werden musste. Die Eltern der Kinder, so Busch, waren durchweg einfache Leute, von denen nur wenige etwas zu den Kosten beitragen konnten. Doch hoffte er, dass die Gemeinden etwas geben werden, wenn die der Fürsorge am dringendsten bedürfenden Kinder ausgewählt sind.
Sieben Kinder von der Liste fanden im August Aufnahme in der Kinder-Heil- und Pflegeanstalt in Werne. Und so wie oben beschrieben, lief das Verfahren in jedem Jahr ab. 1909 ist von acht Kindern aus dem Amt Bork die Rede. Lehrer Kauling aus Nordlünen meldete noch ein Kind, was vom Kreisarzt nach einer Schuluntersuchung als unbedingt hilfsbedürftig benannt worden war. 1910 musste ein Kind, für das eine Freistelle in Werne beantragt worden war, abgewiesen werden, weil alle Mittel erschöpft waren. Das kann sich auf die Mittel beziehen, die vom Amt, bzw. den Gemeinden an den Verein gezahlt worden waren, denn diese sollten für die „eigenen“ Kinder verwendet werden.
Außer in die Kinderheilanstalt nach Werne kamen Hilfsbedürftige aus dem Amtsbezirk nach Bad Lippspringe oder ins Krankenhaus nach Dortmund. Ein besonders langwieriger Fall war der des 1894 geborenen Hubert Prott, der wegen tuberkulöser Hüftgelenksentzündung vom 22. Juni bis 27. November 1908 im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Dortmund behandelt wurde. Im Januar 1909 stand eine Erneuerung des Gipsverbandes an, wofür wieder ein Antrag an den Fürsorgeverein gestellt werden musste. Dreimal wurde das Kind 1909 ins Dortmunder Krankenhaus gebracht, vierzig Tage insgesamt. Der Verein bewilligte 15 Mark für den Verband, der Vater erklärte sich bereit, täglich 50 Pfennig, also 20 Mark, zu übernehmen und die Gemeindevertretung von Selm zahlte die restlichen 25 Mark. Im September 1909 konnte Amtmann Busch die endgültige Erledigung melden.
Schuster Hermann Schulte
Eine bange Zeit musste die Familie des Schusters Hermann Schulte in Bork im Sommer 1909 überstehen. Der Mann war als Reservist vom Militärarzt bei der Aushebung als zur Aufnahme in die Liste der Lungenkranken geeignet bezeichnet worden und hatte daraufhin die Kur in Lippspringe vorläufig auf eigene Kosten sofort angetreten. Amtmann Busch setzte sich dafür ein, dass er nicht auf diesen Kosten hängen blieb. Schulte sei verheiratet, Vater von 2 Kindern und ohne Vermögen. Außer einem kleinen, mit Schulden belasteten Häuschen im Dorf besaß die Familie nichts.
Busch versuchte, die Kostenübernahme durch den Fürsorgeverein für Schulte dadurch zu befeuern, indem er auf die werbende Wirkung von geleisteter Hilfe verwies. Doch hatte er damit wenig Erfolg. Er musste nachhaken und bat nach einigen Wochen, ihm hochgeneigtest irgendwelchen Bescheid erteilen zu wollen, damit er den sich stets und ständig wiederholenden Anfragen der Angehörigen des Schulte begegnen könnte.
Der Landrat dokumentierte die Mühen der Bearbeitungen: Zuerst sollte der Kreisarzt den Schulte untersuchen. Der verwies auf den Arzt in Lippspringe, wo sich Schulte schon aufhielt. Der Landrat schrieb mit diesem Anliegen die Brunnen-Administation an. Die informierte im Gegenzug darüber, dass dem Arzt die Papiere übermittelt worden waren. Der Landrat erhielt das gewünschte Attest und die Arztrechnung. Nun wandte er sich an den Verein wegen der Übernahme der Kosten für die sechswöchige Kurbehandlung. Der Verein genehmigte. Die Brunnen-Administration wurde informiert und sieben Tage danach auch der Amtmann. Am 2. Juli 1909 hatte Busch sein erstes Schreiben an den Landrat aufgesetzt; am 11. August konnte er die Angehörigen informieren und ihnen die Befürchtung, für alles allein aufkommen zu müssen, von den Schultern nehmen.
Erfolge
Auf der Jahresversammlung des Vereins zur Fürsorge für Lungenkranke vom 15. April 1909 strich Regierungspräsident Gescher die Bedeutung des Vereins heraus. Während die örtlichen Organisationen den Schwerpunkt der Arbeit übernahmen, hielt die Zentrale in Münster Kontakt zur Wissenschaft und der ärztlichen Praxis, nahm die Anträge für Heilverfahren entgegen und kümmerte sich um die Unterbringung in den Heilstätten. Medizinalrat Dr. Krummacher informierte über die stark angestiegene Zahl der Heilanträge, 556 im abgelaufenen Jahr. Der Prozentsatz der Todesfälle durch die Tuberkulose hatte sich von 27,52 Prozent – auf 10.000 Lebende bezogen – im Jahr 1902 auf 20,85 Prozent 1907 reduziert. Man sei auf dem richtigen Weg, meinte der Medizinalrat.
In einem Artikel in der „Lüdinghauser Zeitung“ vom Januar 1909, der in die Akte eingeheftet wurde, wehrt sich der ungenannte Verfasser gegen die Übernahme der statistischen Angaben für den Regierungsbezirk auf die Kreisverhältnisse. Auch zieht er die Aussagefähigkeit des gesamten vorliegenden statistischen Materials in Frage, weil die Anzeigepflicht bei den übertragbaren Krankheiten sich noch nicht überall herumgesprochen hatte. Doch räumte er ein, daß auch im Kreis Lüdinghausen die Tuberkulose noch viel zu viel Opfer fordert, und daß darum der Kampf gegen diese grausame Volksseuche auch im hiesigen Kreise mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu führen ist.
Mai 2023
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1. und alle folgenden Zitate: StA Selm, AB-1 – 511.