aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Über die Gemeindevorsteher - speziell in Selm

Christel Gewitzsch  

Als 1864 die Gemeindevorsteher aus Vinnum und Olfen eine Eingabe an den Landrat richteten, fühlte der sich bemüßigt, über die Verpflichtungen der Gemeindevorsteher genauer aufzuklären. Zur Sicherheit schickte er eine Abschrift auch an den Amtmann in Bork.

1. Während nach § 41 der Landgemeinde-Ordnung vom 19. März 1856 der Gemeinde-Vorsteher unter Aufsicht des Amtmanns die Ortspolizei zu handhaben und zugleich als Hülfsbeamter der gerichtlichen Polizei zu fungiren hat überschreitet der Herr Amtmann Strietholt nicht seine Befugnisse, wenn er Ihnen die erste kurze Vernehmung von in dortiger Bauerschaft aufgegriffenen Bettlern und Vagabunden, zu welchen behufs er Ihnen auch Anleitung gegeben hat, aufträgt.
2. Wenn Sie auch gerade nicht die vorgeschriebene Controlle über die Gemeinde Einnahmen und Ausgaben zu führen haben, so erscheint es doch mit Rücksicht darauf daß Sie bei Ertheilung der Anweisungen auf die Gemeindekasse mit zu wirken haben, zweckmäßig, daß Sie Notiz über die ertheilten Anweisungen zurückbehalten, damit Sie fortwährend eine Uebersicht über den Stand der Gemeindekasse behalten.
3. Zur Beaufsichtigung und Leitung der Gemeindewegebauten, namentlich in dortiger Bauerschaft, dem Amtmann nach Kräften beizustehen, gehört unzweifelhaft zu Ihren dienstlichen Funktionen.
4. Daß die Melde-Register neu anziehender Personen von dem Gemeinde-Vorsteher persönlich zu führen sind, hat Königl. Regierung durch Instruction vom 11.7.1857 ausdrückliche vorgeschrieben.
5. Da Sie nach § 31 der Landgemeinde-Ordnung in der Gemeindeversammlung den Vorsitz zu führen haben, so muß auch von Ihnen die Einladung der Gemeindeverordneten zu dem Sitzungen ausgehen, und haben Sie ferner für Aufnahme der Protokolle in den Sitzungen zu sorgen.
Schließlich mache ich darauf aufmerksam, daß Differenzen unter den Gemeindebeamten am besten dadurch vermieden werden, daß jeder sich bestrebt unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen, namentlich der Landgemeinde-Ordnung, das wahre Interesse der Gemeinde nach Kräften zu befördern.
[1]

Die letzte Ermahnung allein rechtfertigte die Versendung an den Amtmann in Bork, denn Differenzen gab es zwischen Amtmännern und Gemeindevorstehern genug, besonders in der Gemeinde Bork.

In der Landgemeindeordnung von 1856 heißt es über den Gemeindevorsteher im Paragrafen 23: Die Gemeinde wird in ihren Angelegenheiten durch die Gemeindeversammlung und durch den Gemeindevorsteher vertreten; der Gemeindevorsteher ist die ausführende Behörde.
§ 31:
Der Gemeindevorsteher führt in der Gemeindeversammlung den Vorsitz mit vollem Stimmrechte, und bei Stimmengleichheit mit entscheidender Stimme. Der Amtmann kann, so oft er es für gut findet, den Vorsitz darin übernehmen; es gebührt ihm hierbei bei Stimmengleichheit die entscheidende Stimme, außerdem aber kein Stimmrecht. ...[2]

Wahlen

In der Akte über die Wahl und die Anstellung der Gemeindevorsteher und deren Stellvertreter beginnt alles mit den Sitzungen vom 26. September 1857, als in den drei Gemeinden des Amtes Bork die 6-jährige Wahlperiode der Gemeindevorsteher endete.

Sowohl in Bork als auch in Selm und Altlünen wurden die bisherigen Amtsinhaber wiedergewählt: Amtmann Hermann Foecker in Bork, Franz Schulze Weischer in Selm und Franz Heinrich Schulze Wethmar in Altlünen. Alle drei erhielten ohne Komplikationen die in der Landgemeindeordnung vorgeschriebene Bestätigung durch den Landrat, hier durch den Landratsamtsverwalter Franz Jakob Hilgers.

Der Selmer Gemeindevorsteher Weischer übte das Amt seit geraumer Zeit aus. Schon sein Vater Johann Heinrich Weischer war bei der preußischen Machtübernahme Schulze in Selm gewesen. In dem Protokollbuch der Gemeindeversammlungen von Selm, welches zwei Jahre nach der Einführung der Landgemeinde-Ordnung von 1841 begonnen und bis 1856 geführt wurde, taucht Franz Schulze Weischer während der ganzen Zeit als Vorsteher auf. 1829 war er zum Gemeindeverordneten gewählt worden und 1851 ehrte man ihn wegen seiner langjährigen Tätigkeit als Ortsvorsteher. Als 1857 die Selmer Gemeindevertretung beantragte, ihm eine weitere Dienstauszeichnung zukommen zu lassen, ist Amtmann Foecker in dem Antrag voll des Lobes über Weischer. Er habe sich stets um das Wohl des ganzen Amtsbezirks in Specie der Gemeinde Selm verdient gemacht, auch sich hat angelegen sein lassen, zur Verbesserung der Pferdezucht und der oeconomischen Verhältniße beizutragen, sich in den bewegten Jahren als ein loyaler und königlich gesinnter Gemeindebeamte bewiesen [... und er besitze] die Achtung der hiesigen Gemeinde-Eingesessenen im großen Maaße. Mit einer weiteren Dienstauszeichnung Allerhöchsten Orts ... werde ... sein Diensteifer in seinen alten Tagen zum Vortheil des Staates und der Gemeinde nicht allein erhalten, sondern noch erhöhet werden[3]. Ob der Antrag erfolgreich war, ist in der Akte nicht zu lesen.

In den o.g. Sitzungen von 1857 war nicht daran gedacht worden, Stellvertreter für die Vorsteher zu wählen. Amtmann Foecker versprach, dies in den nächsten Gemeinderatssitzungen nachzuholen.

Was ein leeres Versprechen war. Als im März 1861 der Selmer Gemeindevorsteher Schulze Weischer in Folge eines Schlaganfalls verstarb und als Nachfolger der Kolon Wilhelm Witthoff aus der Bauerschaft Ternsche gewählt wurde, schritt man zum ersten Mal zur Wahl eines Stellvertreters. Das stimmberechtigte Gemeindemitglied Wilhelm Pieper, Gastwirt in Selm, war dazu ausersehen. Während Witthoff wieder ohne Verzögerung die Bestätigung des Landrats erhielt, inzwischen Ignaz Freiherr von Landsberg-Velen, wurde sie dem Pieper verweigert. Laut Gemeindeordnung Paragraf 39 konnten Personen, welche die in dem Gesetz vom 7. Februar 1835 (GS. S. 18) bezeichneten Gewerbe betreiben, wie da wären Kleinhandel mit Getränken und Gast und Schenkwirtschaften, das Amt des Vorstehers und Stellvertreters nicht übernehmen. Also musste die Wahl wiederholt werden. Stellvertreter wurde Anton Hagen, genannt Göcke.

Die Gemeindevorsteher hatten Anspruch auf eine Entschädigung ihrer Dienstunkosten. Über die Höhe entschied der Landrat nach Anhörung der Gemeindeversammlung. In Selm waren Schulze Weischer und Witthoff 25 Taler zugebilligt worden. Zum Vergleich: Amtmann Foecker in Bork erhielt 50 Taler. Den Stellvertretern wurden nur ihre Barauslagen erstattet.

Als es Anfang 1868 in Selm zu Neuwahlen kam und der bisherige Stellvertreter Anton Hagen, gt. Göcke zum Vorsteher gewählt wurde (Stellvertreter Christof Spinn gt. Evert), meinten fünf von sieben Stimmberechtigten plötzlich, dem Gemeindevorsteher überhaupt keine Unkostenentschädigung mehr zahlen zu wollen. Im Interesse der Gemeinde solle dieser doch das Amt als Ehrenamt übernehmen, was hier bedeuten sollte: ohne jegliche Entschädigung. Weder Amtmann noch Landrat stimmten dieser Auffassung zu. Der Landrat ließ die Versammlung noch einmal ausdrücklich daran erinnern, dass laut Paragraf 40 der Landgemeinde-Ordnung die Dienstunkostenentschädigung von ihm festzusetzen sei. Die Versammlung ließ sich eines Besseren belehren und bewilligte dem neuerwählten Vorsteher die seither gewährte Dienstunkosten-Entschädigung im Betrage von 25 Talern pro Jahr.

Im Zusammenhang mit Hinweisen zur Amtsübergabe von Witthoff auf Göcke schrieb Amtmann Foecker an den scheidenden Vorsteher selten zu lesende, warmherzige Sätze. Er könne nicht umhin, ihm mitzuteilen, daß es mir nicht fremd geblieben, wie sehr Ihnen während Ihrer Dienstzeit das Wohl der Gemeinde Selm am Herzen gelegen, wie Sie stets für die Interessen der Gemeinde gewirkt und wie Sie keine Mühen und Kosten gescheut haben, wenn es galt, die Gemeinde zu vertreten, und daß ich Ihnen hierfür das größte Lob aussprechen muß.
Ich habe sie lieb gewonnen durch Ihren offenen und biederen Sinn und werde Sie stets in bestem Angedenken erhalten. Ich danke Ihnen für die Unterstützung, welche Sie mir in meinem Amte gewährt haben und bedaure, Sie aus dieser Stellung scheiden zu sehen, in welcher ich Sie gern erhalten hätte.

1874 ging auch die Amtszeit Göckes zu Ende. Für die nächste Wahlperiode bestimmte die Versammlung den vormaligen Stellvertreter Christoph Spinn gt. Evert zum Gemeindevorsteher. Neuer Stellvertreter wurde der Ökonom Andreas Witthoff. Sowohl Spinn Evert (50 Jahre alt) als auch Witthoff (44 Jahre alt) waren unbescholtene Männer, so dass die Zustimmung des Landrats nicht auf sich warten ließ. Nur der beschlossenen Erhöhung der Dienstunkostenentschädigung von 25 auf 35 Taler stimmte er zuerst nicht zu. Die kleine Gemeinde würde den Vorsteher nicht so sehr in Anspruch nehmen und angesichts ihrer schlechten finanziellen Verhältnisse müssten 25 Taler genügen. Nachdem die Gemeinde eine Erklärung nachgereicht hatte, die leider nicht in der Akte ist, genehmigte der Landrat die 35 Taler.

Nach Ablauf der Wahlperioden wurden beide Männer im Januar 1880 und 1886 wiedergewählt. 1892 wechselte der Stellvertreter. Die Gemeindeversammlung einigte sich auf den Kolon Louis Pentrup. Als der Landrat die Wahlen in Bork und Altlünen bestätigte, schrieb er ohne Kommentar: Ueber die Wahlen in Selm wird die Entscheidung vorbehalten. Drei Wochen später traf die Entscheidung des Landrats ein, die da lautete: Der Wiederwahl des Herrn Christoph Spinn Evert zum Gemeindevorsteher von Selm versage ich unter Zustimmung des Kreisausschusses hierdurch meine Genehmigung. Eine Neuwahl ist baldmöglichst anzuordnen.
Die Wahl des Colon Louis Pentrup zum Stellvertreter des Gemeinde-Vorstehers wird bestätigt.

Eine Begründung fehlt. In einer Ausführungsinstruktion heißt es dazu: Über die Gründe der Versagung einer Bestätigung hat der Landrat nur auf Erfordern der vorgesetzten Behörde Auskunft zu geben.[4]

Die Ersatzwahl fiel auf den früheren Stellvertreter Andreas Witthoff. Amtmann Döpper äußerte gegenüber dem Landrat wieder seine Bedenken, wie er es auch bei den meisten Borker Wahlen tat. Er schrieb: Witthoff ist am 11. März 1829 geboren, erfreut sich eines guten Rufes und mag als Verwalter seiner Besitzungen resp. als Landwirth tüchtig sein, - zur Verwaltung des Amtes eines Gemeinde-Vorstehers halte ich denselben nicht für befähigt.

Und wie in allen Borker Fällen auch, nahm der Landrat sich nichts von der Einschätzung Döppers an und bestätigte die Wahl Witthoffs. Dessen Dienstunkostenentschädigung betrug 105 Mark. Witthoff musste die seit einigen Jahren eingenommenen Posten als Amts- und Gemeindeverordneter abgelegen. Für ihn übernahmen die Ökonomen August Schulze Osterhaus und Wilhelm Große Holz.

1898 und 1903 wählte die Gemeindeversammlung erneut Witthoff und Pentrup. 1904 wurde Witthoff eine Erhöhung der Entschädigung zugebilligt. Er erhielt nun, wie auch der Borker Vorsteher, 150 Mark.

Am 2. Februar 1907 musste Amtmann Busch die Gemeindevertretung, den Schulvorstand und Vertreter der anderen Gemeinden darüber informieren, dass Witthoff verstorben war. Im Gegensatz zu Döppers Befürchtungen bei Witthoffs Amtsantritt äußerte Busch sich lobend über den Verstorbenen; lobender als es ein Nachruf erfordert hätte.  
Der Dahingeschiedene war seit langen Jahren seiner Gemeinde ein äußerst pflichtgetreuer und diensteifriger Vorsteher und der Amtsversammlung ein getreuer Berater.
Er hat sich nach allen Seiten hin der größten Achtung erfreut und im persönlichen Verkehr mit ihm ist stets seine außerordentliche Liebenswürdigkeit in den Vordergrund getreten, Sein Andenken bleibt ein ehrenvolles.

Andreas Witthoff jun. folgte seinem Vater als Gemeindevorsteher bis 1913. Louis Pentrup blieb Stellvertreter. Von 1913 bis zum Ende des Kaiserreiches übernahmen Clemens Spinne und Hubert Große-Holz die Positionen.

Zwischenzeitlich, nämlich 1891, hatte der Kreisausschuss es für zweckmäßig erachtet und angeordnet, in den Gemeinden Bauerschaftsvorsteher zu bestallen. Der Landrat ordnete die Wahlen an, doch Amtmann Döpper teilte ihm mit, daß die Gemeinde Vertretung von Bork sowohl als von Selm die Wahl von Bauerschaftsvorstehern abgelehnt hat.

Vielleicht fühlten sich die Gemeinden durch den Paragrafen 32 der Landgemeinde-Ordnung ermutigt, der mit dem Satz beginnt: Die Gemeindeversammlung hat, ohne daß ihre Mitglieder an Instruktionen oder Aufträge gebunden sind, über alle Gemeindeangelegenheiten zu beschließen, so weit diese nicht durch das Gesetz dem Gemeindevorstande ausschließlich überwiesen sind.[5] Was genau unter Gemeindeangelegenheiten zu verstehen war, mag im Einzelfall strittig gewesen sein. Im Fall der Bauerschaftsvorsteher gab der Landrat sich mit der Entscheidung zufrieden.

Schon 1888 hatte der Landrat bei allen Amtmännern eine möglichst übersichtliche Zusammenstellung aller dem Gemeindevorsteher obliegenden Geschäfte angefordert. Döpper schrieb daraufhin: Sowohl im hiesigen Amtsbezirke als auch in den meisten Andern werden die dem Gemeinde Vorsteher obliegenden Geschäfte von dem Amtmann verrichtet und ist daher eine scharfe Annahme und Trennung, was zu den Verrichtungen der Gemeinde-Vorsteher gehört, hier nicht vorgekommen.
Größtentheils ergeben sich diese Verrichtungen aus der Landgemeinde-Ordnung vom 19. März 1856 und ebenso enthalten die Gesetze über die Beurkundung des Personenstandes, die neuere Verwaltungs- und Zuständigkeitsgesetze pp manche Vorschriften, deren Ausführung zu den Obliegenheiten der Gemeinde-Vorsteher gehören.
Es ist mir daher nicht möglich, diese detallirt anzugeben, da viele Bestimmungen auf Ansichten basiren und viele hinsichtlich ihrer Ausführungspflicht noch der weiteren Auslegung bedürfen.

Ein weiterer Vorstoß zu einer Veränderung kam 1896 vom Regierungspräsidenten auf Veranlassung des Oberpräsidenten. Und zwar war die Frage aufgekommen, ob die Wahl des Gemeindevorstehers in Uebereinstimmung mit dem von der Wahl der Gemeindeverordneten handelnden § 28 der Landgemeindeordnung vom 19. März 1856 mündlich zu Protokoll, oder mittelst Stimmzettel geschehen solle, wie solches in den §§ 79 ff der Landgemeindeordnung für die östlichen Provinzen vom 3. Juni 1891 vorgeschrieben sei, oder endlich, ob die Entscheidung dieser Frage dem die Wahl leitenden Amtmann überlassen werden solle.

Busch berichtete: Die Stimmabgabe bei den Wahlen der Gemeinde-Vorsteher ist im diesseitigen Amtsbezirke seither mündlich zu Protokoll geschehen und haben sich, soweit ermittelt, bei diesem Wahlmodus bisher Mißstände nicht ergeben.
Zur Beseitigung von Zweifeln und Schwierigkeiten dürfte es allerdings vortheilhaft sein die Bestimmung zu treffen, daß auf Antrag auch nur eines Wahlmannes oder auch des Amtmannes die Wahl durch Stimmzettel erfolgen muß.

In der Akte selbst und auch in den Amtsblättern von 1896 und des folgenden Jahres findet sich keine Verfügung zu diesem Punkt.
Februar 2021
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[1] und folgende Zitate, falls nicht anders vermerkt: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 32.
[2] Die Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen vom 19. März 1856.
[3] Stadtarchiv Selm, AB-1 – 26.
[4] Bernhard von Kamptz, Die Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen, vom 19. März 1856, in ihrer heutigen Gestalt, Paderborn 1893, S. 35. http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de
[5] Kamptz, Die Landgemeindeordnung S. 31.

 
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