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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Über die Lage der Industrie - 1898

Christel Gewitzsch

Ganz ergebenst bat Amtmann Busch im November 1898 die Besitzer, bzw. Direktoren von acht Industrieunternehmen um Informationen über ihre Betriebe. Eigentlich hätte er noch kleinere Brötchen backen müssen. Ihm war die Aufforderung des Landrats Graf von Wedel zu der neuen schematischen Berichterstattung am 1. November zugegangen, die Unternehmer schrieb Busch am 7. des Monats an, obwohl sein Bericht am 10. im Landratsamt eintreffen sollte.

Der Landrat führte das Schema ein, weil er sich nicht genügend für die von ihm abzuliefernde  Berichterstattung informiert sah. Zu oberflächlich wären die Berichte bisher ausgefallen, Veränderungen unzureichend dargestellt, so dass ein deutliches Bild über die Lage der Industrie in den einzelnen Amtsbezirken nicht[1] gewonnen werden konnte.

Um die Anforderungen des Landrats erfüllen zu können, schrieb Busch an die Firmen:
Ich habe über die Lage der Industrie Bericht zu erstatten und bitte ich ganz ergebenst, mich dazu durch möglichst umgehend gefällige eingesandte Mittheilungen unter Benutzung des anliegenden Formulars in Stand setzen zu wollen. Der Bericht soll sich über den gegenwärtigen Stand der einzelnen Industriezweige verhalten unter Hervorhebung der Veränderungen der Lage gegenüber dem Vorjahre und der Aussichten für die nächste Zukunft und besonders für den Schluß des Winters. Ferner habe ich im Einzelnen darüber zu berichten, ob und in welchem Umfange In- und Außerbetriebstellungen, Arbeiterentlassungen, Verkürzungen der Löhne und der Arbeitszeiten stattgefunden haben oder in naher Aussicht stehen, ferner über den Umfang der Produktion u. dergl.

Zum Schluss bat er um eine umgehende Erfüllung seines Anliegens und obwohl die meisten Antworten ziemlich postwendend in Bork eintrafen, überschritt Busch seinen Termin um vier Tage.

Adressaten

Angeschrieben wurden die Firmen Ludwig Moll (Dampfsägewerk, Holzhandlung und Sandgrubenbetreiber), Robbert (Ringofenziegelei), Haarmann, Kapp und Co. (Holz- und Lederpappen), Reygers (Dampf-Ringofen-Ziegelei), Gräflich Kielmansegge’sche Brauerei (Brauerei mit maschinellem Betriebe verbunden mit Landwirtschaft), Gewerkschaft Eisenhütte Westfalia (Eisengießerei und Maschinenfabrik), Fluhme und Lenz (Eisengießerei, Maschinenfabrik und Modellschreinerei) und Schulze-Berge und Schutz (Glasbrennerei und Schleiferei).

Das vorgegebene Schema begann mit der Bezeichnung der Anlage: dem Namen der Firma und dem Gegenstand des Gewerbebetriebes. Es folgten Rubriken für die Zahl der Arbeiter, die tägliche Arbeitszeit der Erwachsenen in Stunden und den gezahlten Wochenlohn entweder pro Arbeiter oder als Gesamtsumme. In die letzte Spalte „Bemerkungen“ sollten Angaben über den Umfang der Produktion, über Zu- oder Abnahmen und den weiteren in dem Anschreiben angesprochenen Gesichtspunkten eingetragen werden.

Betriebsauskünfte

Die Zahl der Arbeiter in den Betrieben reichte von 13 bei Schulze-Berge bis 296 auf der Eisenhütte Westfalia. Diese 296 unterteilten sich in 29 jugendliche Arbeiter unter 16 Jahren, 46 von 16 bis 21 Jahren und 221 Erwachsene. Bei der Brauerei wurde unterschieden zwischen Brauerei- (23) und landwirtschaftlichen Arbeitern (27 bis 32). Die anderen Unternehmen hatten 20 (Robbert), ca. 30 (Moll), 44 (Haarmann) und 80 (Fluhme) Arbeiter. Bei der Ziegelei Reygers ist das ein bisschen komplizierter, weil von 24 aufgelisteten Namen nur fünf Leute in der gesamten zugrunde liegenden Zeit von April bis November arbeiteten. Bei den anderen schwankte die Zeit der Beschäftigung von 11 bis 141 Tagen, von sechs Arbeitern im November bis 17 im September.

Der Wochenlohn in den Betrieben lag im Durchschnitt bei 17,80 Mark, bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 10,8 Stunden. Die Löhne für die Jugendlichen unter 16 Jahren (5,39 Mark) und die der landwirtschaftlichen Arbeiter bei der Brauerei (7,70 Mark) wurden dabei nicht berücksichtigt.

Die letzte Rubrik „Bemerkungen“ gibt, wenn die Ausfüllenden sich nicht zu kurz fassten, einigen Aufschluss über die Situation der einzelnen Firmen.

Emil Rosenkranz schrieb für die Firma Ludwig Moll: In der Produktion ist eine allgemeine Zunahme zu verzeichnen, Die Aussichten für die nächste Zukunft, besonders für den Schluß des Winters sind gut. Es sind mehr Aufträge vorhanden als fertig gestellt werden können. Arbeiterentlassungen, Verkürzungen der Löhne & Arbeitszeit haben nicht stattgefunden & stehen auch nicht in naher Aussicht. Man kann also im Allgemeinen sagen, daß die Lage des Geschäftes augenblicklich und auch für die nächste Zeit eine gute ist.


W. Kapp, von dem Betrieb Haarmann, Kapp & Co. teilte mit: Production wie bisher, Aenderungen treten darin zunächst nicht ein. Jahresproduktion circa 1 000 000 kg. Zum Schluß des Winters betreffend die Prod. läßt sich Nichts im Voraus sagen, weil dieses vom Wasserstande abhängt. Arbeiterentlassungen & Verkürzungen der Löhne & Arbeitszeiten haben nicht stattgefunden, hingegen ist Lohnerhöhung für die Arbeiter eingetreten.

Bei der Eisenhütte Westfalia sah man auch nicht besorgt in die Zukunft: Die Gesammtproduktion beträgt in diesem Jahre durchschnittlich 205 Tonnen pro Monat und bleibt den zwei vorhergehenden Jahren gleich. Speziell in der Maschinenfabrikation ist in diesem Jahre ein Aufschwung wahrzunehmen. Wenn die Verkaufspreise auch wohl für einzelne Produkte etwas angezogen, so steht dies doch nicht im Verhältnis zu den um mindestens 10% erhöhten Löhnen und Erhöhung sämmtlicher Rohmaterialien.
Der Betrieb ist in vollem Umfange aufrecht erhalten und haben Arbeiterentlassungen, wie Verkürzungen der Arbeitszeit zu keiner Zeit stattgefunden. Dagegen macht sich ein großer Arbeitermangel fühlbar und ist die Arbeitszeit in der Maschinenfabrik durch Einlegen von Ueberstunden für die erwachsenen Arbeiter fast durchgängig verlängert worden. Da Anfragen und Aufträge genügend eingehen, steht nicht zu erwarten, daß in nächster Zeit eine Stockung stattfindet.

Robbert schrieb kurz und knapp: ca. 1 ¾ -2 Millionen Steine; In diesem Jahre Zunahme, im nächsten Jahre voraussichtlich Abnahme der Produktion bei stets steigenden Löhnen.

Für die Eisengießerei Fluhme und Lenz sah es folgendermaßen aus: für 1897 860.000 kg. Die Produktion hat sich für 1898 nicht erhöht, wohl aber die Löhne, wie aus nebenstehenden Zahlen ersichtlich.

Die Glasbrennerei Schulze-Berge und Schutz konnte nicht viel schreiben, denn das Geschäft war noch jung und deshalb hatten sie natürlich eine Zunahme der Produktion zu verzeichnen. Zu Beginn des laufenden Jahres hatten [sie] 7 Arbeiter, sodaß 6 Arbeiter rsp. zum Teil jugendliche Arbeiter neu eingestellt wurden. Verkürzung der Arbeitslöhne & Arbeitszeiten haben nicht stattgefunden.

Die Cappenberger Brauerei gab folgendes Bild ab: Der Umfang aus dem abgelaufenen Geschäftsjahr pro 97 – pro 98 hat sich gegen das Vorjahr etwas gehoben. Ueber den Umsatz des kommenden Geschäftsjahres läßt sich noch kein Urtheil bilden. Vorerst sind die Aussichten für den Winter nicht gerade günstig.
Außerbetriebstellungen, Arbeiterentlassungen und Verkürzungen von Löhnen und Arbeitszeiten haben nicht stattgefunden. Die Löhne haben im Gegentheil durchgehend eine Aufbesserung erfahren.


Einbettung

Als Landrat Wedel mit seinem Verlangen nach detaillierteren und aussagekräftigeren Informationen an die Ortsbehörden herantrat, befand sich das Reich auf einem Weg in die Hochkonjunktur. Seit der Gründerkrise in den 70er Jahre hatten konjunkturelle Schwankungen die Entwicklung der Industrie zwar immer wieder gebremst, aber die eigentliche Verschiebung von der agrarisch geprägten Gesellschaft in eine industrielle nicht gestoppt. Unterstützung fand dieser Weg durch eine stärkere Einmischung des Staates. Mit Patentschutz, Zöllen, Verkehrsmaßnahmen, internationalen Staatsverträgen u.a beteiligte sich der Staat aktiv an der Gestaltung der wirtschaftlichen Entwicklung. Auf ihn richteten sich die Erwartungen und Hoffnungen, die bis dahin dem Markt gegolten hatten.[2]

August 2024
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1. Und alle weiteren Zitate: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 628.
2. Rudolf Boch, Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, München 2004, S. 37.

 
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