Verhandlungen der Gemeindeverordneten in Selm
Christel Gewitzsch
In der Landgemeindeordnung von 1841 war festgelegt worden, dass alle von einer Gemeindeversammlung getroffenen Beschlüsse und die Namen der dabei anwesenden Mitglieder vom Vorsitzenden in ein besonderes Protokollbuch geschrieben werden mussten. Drei dieser Bücher über die Gemeindeverordneten-Versammlungen der Gemeinde Selm liegen im Stadtarchiv vor. Das erste Buch beginnt im Dezember 1843 und endet 1856, das zweite wurde von 1870 bis 1894 und das dritte von 1895 bis 1900 geführt.
Gemeinden waren die Orte, die einen eigenen Haushalt für ihre Bedürfnisse hatten. Mitreden bei Gemeindeangelegenheiten durften die sogenannten Meistbeerbten. Die waren männlich, mindestens 24 Jahre alt, Gutsbesitzer, Hausbesitzer und andere, denen das Gemeinderecht verliehen worden war. In kleineren Orten kümmerten sich alle Meistbeerbten um die Gemeindegeschäfte, in größeren wurden Gemeindeverordnete gewählt. Die Besitzer der zur Gemeinde gehörenden Rittergüter gehörten ebenfalls zur Versammlung.
17 Paragrafen der Gemeindeordnung handeln Von dem Geschäftsverhältnisse des Gemeindevorstehers und der Gemeindeversammlung.(1) Tagesordnungspunkte resultierten häufig aus Verfügungen der Königlichen Regierung und/oder des Landratsamtes. Immer wenn örtliche Verhältnisse tangiert wurden, musste die Gemeindeversammlung gehört werden. Entscheiden durfte sie, wenn der Haushalt der Gemeinde betroffen war, wie z.B. bei der Festsetzung des Etats, Geschäften mit Gemeindegrundstücken oder außerordentlichen Geldbewilligungen.
Die Mitwirkung bei den Gemeindeangelegenheiten änderte sich durch die Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen vom 19. März 1856 (die von 1850 überspringen wir hier). Anstelle der Meistbeerbten wurden die stimmberechtigten Gemeindemitglieder anhand ihrer zu zahlenden Staats- und Gemeindesteuern in drei Klassen eingeteilt (Dreiklassenwahlrecht). Auf jede Klasse entfiel ein Drittel der Gesamtsumme der Steuern und jede Klasse durfte ein Drittel der Gemeindeverordneten wählen.
Etat
Wegen der eingeschränkten Befugnisse der Gemeindeversammlung finden sich in den Protokollbüchern immer wieder ähnliche Vorgänge. Der Etat sollte zweimal auftauchen, einmal bei der Vorlage des Entwurfs und dann bei der Revision. Im ersten Protokollbuch sind dann Sätze zu lesen wie: 2. es ward derselben der vom unterzeichneten Bürgermeister aufgestellte Haushaltsetat pro 1855 vorgelegt und letzterer in allen seinen Positionen genehmigt und zur Höhe von Tausend und 66 T aufgestellt.(2)
Die Regelmäßigkeit ließ, besonderes im ersten Buch, zu wünschen übrig. Es gab Anlaufschwierigkeiten. Anfang 1845 hört sich das im Protokollbuch so an: In Gemäßheit Verfügung des Herrn Landrath G v Schmising vom 24.9.v.J. Nr. 472C ward der heute zusammen getretenen Gemeindeversammlung von Selm bemerklich gemacht, daß höheren Orts gerügt worden, daß die Verwaltung und Buchführung in Betreff der Amts- und Gemeindefonds noch nicht nach Vorschriften der Land-Gemeindeordnung vom 31. Oktober 1841 und die Anweisung für das Etats, Kassen- und Rechnungswesen von 20. Januar 1844 geschehe. Den Grund für die Versäumnisse sahen die Gemeindeverordneten in den nicht pünktlich vorgelegten Instruktionen.
In den im ersten Protokollbuch behandelten 12 Jahren tagte die Gemeindeversammlung fast siebzig Mal. Gemeindevorsteher Weischer fand sich langsam in die geforderte Art der Protokollierung ein. Zu Beginn verzichtete er auf die Nennung der Anwesenden und begann für jeden Tagesordnungspunkt ein neues Protokoll. Die meisten Niederschriften verfasste Weischer eigenhändig. Dass seine Generation mit dem Schreiben noch auf Kriegsfuß stand, ist dabei unübersehbar. Die Amtmänner (Bürgermeister) machten so gut wie immer von ihrem Recht Gebrauch, den Vorsitz über die Gemeindeversammlung zu übernehmen. Im Zeitraum des ersten Buches war das Carl von Stojentin, im zweiten Ludwig Döpper und im dritten Hermann Busch. In den in den Büchern festgehaltenen 42 Jahren finden sich über dreihundert Protokolle.
Die Formulierungen zu den immer wiederkehrenden Verhandlungspunkten wurden im Laufe der Jahrzehnte routinierter und standardisierter. So heißt es zum Etat in der Sitzung vom August 1873: 1. der von dem unterzeichneten Amtmann mit dem Gemeinde Vorsteher entworfenen Etat für 1874/76 nebst Erläuterungsprotocoll vorgelegt. Versammlung fand gegen die ausgeworfenen Beträge der einzelnen Titel und Positionen nichts zu erinnern. Der Etat schließt mit der gleichen Einnahmen und Ausgaben von 3760 Thlr. – Die Versammlung beschloß, daß das Deficit von 3469 Thlr. auf die Klassen und Einkommen, Grund- und Gebäude Steuer vertheilt aufgebracht werden soll, und zwar derart, daß die Klassen und Einkommenssteuer im Ganzen mit 100 Prozent Beischlägen belegt und das übrige Deficit nach gleichen Prozenten auf die Grund und Gebäude Steuer verteilt werden solle.
Im September 1875 musste vorzeitig ein neuer Etat aufgestellt werden. Viele Veränderungen waren eingetreten, aber besonders die Umstellung von Taler auf Mark machte dieses Vorgehen nötig. Der neue Etat belief sich über Einnahmen und Ausgaben in Höhe von 12.900 Mark für 1876/78. Das Defizit von 12.000 Mark sollte, außer dass die Gewerbesteuer mit 50 Prozent hinzugenommen wurde, wie oben aufgebracht werden.
Der letzte Etatentwurf in den Protokollbüchern wurde von Amtmann Busch der Versammlung am 19. Januar 1900 vorgelegt. Er umfasste über 22.300 Mark. Das Defizit betrug aufgerundet 16.152 Mark.
Wahlen
Ebenso regelmäßig wie die Etatfragen musste die Wahl von Gemeindeverordneten auf die Tagesordnung gesetzt werden. Aus den Reihen der Meistbeerbten (später: stimmberechtigten Gemeindemitglieder) waren, je nach Größe der Gemeinde, sechs bis 18 Gemeindeverordnete auf sechs Jahre zu wählen. Die Gewählten mussten sich zur christlichen Religion bekennen.(3) Alle drei Jahre (später alle zwei) schied die Hälfte der Männer aus, eine Wiederwahl war möglich. Die Wahlverhandlungen waren zum Abschluss dem Landrat vorzulegen. Er hatte, wenn gegen die Legalität des Verfahrens und die Qualifikation der Gewählten nichts zu erinnern(4) war, grünes Licht für die Amtseinführung zu geben.
Das gab es für die Ergänzungswahl der Gemeindeverordneten 1847 nicht. Die Versammlung in Selm hatte die Vorschriften über die zu Wählenden nicht berücksichtigt. Sie hatte Franz Ophus und Wilhelm Evert gewählt, die aber nicht über die Gemeinderechte verfügten. Nach Intervention des Landrats verliehen die Gemeindeverordneten ihnen dieses Recht, da die genanten durch daß Sich erworbene besondere vertrauen Einer Solchen Vergünstigung durchaus würdig Seyen. So konnten die Gewählten in das Verzeichnis der Meistbeerbten aufgenommen und eine erneute Ergänzungswahl vermieden werden.
Wahlen standen in den Versammlung noch für andere Ämter an. So mussten Schiedsmänner, Mitglieder verschiedener Kommissionen, z.B. der Klassensteuerveranlagung, Waisenräte, Amtsverordnete, Delegierte zu Berufsgenossenschaften u.a. gewählt werden.
Personalangelegenheiten
Fragen rund um das Personal bedurften häufig einer Entscheidung. Sehr oft ging es um Anträge der Lehrerinnen und Lehrer auf Zulagen und Zuschüsse, z.B. für die Pensionskasse, von Alterszuschlägen, Heizkostenzuschüssen oder die Beteilung an Kurkosten. Auch der Zustand der Dienstwohnungen stand zur Debatte. Musste ein neuer Anstrich her? Waren Reparaturen notwendig? Konnte die Wohnung wegen Familienzuwachses vergrößert werden? Wie hoch war die Gartennutzung zu bewerten?
Hin und wieder bezogen sich die Schreiben der Lehrpersonen auf erforderliche Ergänzungen der Sachmittel (Tinte, Wandkarten, Bücher) oder Reparaturen an und in den Schulgebäuden.
In diesem langen Zeitraum ging es wegen steigender Schülerzahlen und veränderter Vorschriften auch um die Einrichtung neuer Klassen und den Neubau von Schulen. Diese Aufgaben belasteten den Etat der Gemeinde sehr. Mit einer neuen Klasse lud man sich gleichzeitig neue Personalkosten auf. Deshalb schoben die Verordneten diese Entscheidungen meistens lange vor sich her, verwiesen auf den dürftigen Gemeindeetat und baten bei den vorgesetzten Behörden um Nach- und Einsicht.
Neben den Lehrern standen besonders die Polizeidiener, da auch sie nur sehr mäßig bezahlt wurden, mit Bitten um zusätzliches Entgelt vor der Tür. Wegen der allgemeinen Teuerung, wegen eines zu schnellen Verschleißes der Uniform oder wegen der bevorstehenden Kosten für eine Hebamme kamen sie um Unterstützung nach und erhielten sie meistens auch. Nur bei dem zu schnellen Austausch von Kleidungsstücken, dem teuren Wintermantel zum Beispiel, zeigten sich Verordneten eher spröde.
Straßen und Brücken
Um viel Geld ging es immer wieder beim Wege- und Brückenbau. Mal musste „nur“ repariert werden, größere Kopfschmerzen machten die gewünschten Ausbauten, z.B. von Selm nach Nordkirchen, Südkirchen, Bork und Olfen. Der Geldmangel wurde vereinzelt durch Privatkredit überbrückt. Für die Südkirchener Strecke schlug 1844 der Kolon Spinne vor, das in der Gemeindekasse zu diesem Zwecke etwa nicht vorräthige Geld bis zum nächsten Jahre vorzuschließen, wenn solches dann aufgebracht und ihm wieder ausgezahlt werde. Die Versammlung nahm das Angebot dankbar an.
Der Plan für eine Neutrassierung der Strecke von Selm nach Bork kam aus der Mitte der Versammlung. Schon lange sei im Publicum der Wunsch laut geworden, die Landstraße, wenn thunlich bei Schulze Weischer und vor Botzlar her, wo sich jetzt nur ein Privatfahrweg befinde, zu verlegen. Im selben Jahr legte der Amtmann eine Liste mit den im Jahr 1846 vorzunehmenden Wegebauten zur Begutachtung vor. Dem streckenweisen Ausbau der Wege stimmte die Versammlung zu, wie und wann dies geschehen sollte, ließ man erst noch offen. Ein Jahr später stand nur noch der Weg nach Nordkirchen auf dem Plan, der 1851 in Angriff genommen wurde.
1847 erschien der Beschluss der Gemeinde Bork auf der Selmer Tagesordnung, die Strecke von Bork nach Lünen chausseemäßig auszubauen. Die Frage an die Gemeindeverordneten war, ob Sie für Föderung des Fraligen Projetes es im inträße der Gemeinde Selm hielten wen zu diesem Bau Eine Nahmhaft Summ bewilliget würde. Einstimmig begrüßten die Gemeindevertreter dieses Vorhaben und beschlossen, freiwillig 1.000 Taler in Raten von 100 bis 200 Talern dazuzugeben. Damit war es für Selm nicht getan. Das Chausseebauprojekt, das sich im Endausbau von Lüdinghausen bis Lünen erstreckte, belastete die Gemeindekassen bis in die 70er Jahre.(5)
Nachdem die Hauptstrecken ausgebaut waren, verringerten sich die Mühen um den Zustand der Straßen nicht sehr. Instandsetzungen und Nachbesserungen waren eine Daueraufgabe, Bepflanzungen standen zur Diskussion, Randstreifen für Fußgänger sicherte man mit Pfählen, die Eingesessenen musste man für die Sauberhaltung der Straßen gewinnen.
Das Wasser machte immer wieder Probleme. Starke Regenfälle beschädigten die Wege bis zur Unpassierbarkeit. Deshalb stand die Pflege der Gräben ganz oben an, auch Durchlässe und die Profilierung der Chausseen halfen, das Wasser abzuleiten. 1895 fragte die Versammlung beim Landrat an, ob nicht bei Gelegenheit der bevorstehenden Neupflasterung der Dorfstraße durch die Kreis-Bauverwaltung eine Kanalisation der Straße ausgeführt werden könne. Die Unzuträglichkeiten wegen der Wasserverhältnisse auf dieser Straße seien wie genügsam bekannt, ganz ungeheuere und den ganzen Verkehr störende. Falls der Kreis die Kosten nicht ganz übernehmen wolle, wären die Gemeinde und sicher auch die Anwohner bereit, ihr Scherflein dazu beizutragen. Vielleicht konnten auch die seit den 80er Jahren bereitgestellten Mittel zur Förderung des kommunalen Wegebaus beantragt werden.
Parallel zu den Wegeplanungen und -sicherungen liefen die Arbeiten an den Brücken. Reparaturen waren auch hier immer wieder nötig. Mit einem Brückenbau 1844 gab es längeren Ärger. Bauinspektor Dykhoff rügte die Arbeit des Lüner Unternehmers Robbert an der Brücke über die Funne auf dem Weg nach Nordkirchen. Die Gemeinde forderte vom Unternehmer Nachbesserungen oder eine Bürgschaft. Zur Klärung musste der Landrat eingeschaltet werden. Er bestärkte die Gemeinde in ihrem Bemühen um Abhilfe. Es sei unbestreitbar, daß die von dem p Robbert erbaute Brücke nicht dem Erfordern entspricht. Es dauerte bis 1850, bis Robbert die Kaution über 150 Taler zurückbekam, weil nun mit dem Auftauchen neuer Mängel infolge einer schlechten Bauausführung nicht mehr gerechnet wurde.
Neubauten
Bauanträge der Eingesessenen machten der Gemeindeversammlung über die Jahre hin wenig Probleme. In den meisten Fällen wurden sie zügig bewilligt.
Bei der Genehmigung des Antrags des Wilhelm Leifeld aus Beyfang 1844 stellten die Verordneten plötzlich Bedingungen. Ihnen war zu Ohren gekommen, dass Leifeld einen förmigen Handel mit Seinen grund stücken treibt und sie nahmen nicht an, dass er bei der Auswahl möglicher Käufer das Große und Ganze der Gemeinde im Auge behalten würde. Sie befürchteten, Mitbewohner zu bekommen, die es an Fleiß fehlen ließen, verarmten und unterstützt werden müssten. Leifeld sollte sich deshalb über den Lebenswandel des Käufers informieren und mit der Gemeinde einen notariellen Vertrag schließen, in dem er sich verpflichtete, drei bis vier Jahre dafür zu bürgen, dass der Käufer armuthshalber hiesiger Gemeinde nicht zur Last falle.
Diese Bedingungen hielten der Überprüfung höheren Orts nicht Stand, denn ein paar Monate später beantragten die Gemeindeverordneten, dem Gesuchsteller den Bauconsens zu dem beabsichtigten Bau höheren Ortes zu erteilen. Nun waren die Verordneten von der Zahlungsfähigkeit des Leifeld zum Bau eines Hauses und Errichtung einer Wirtschaft überzeugt und hatten auch gegen das Wohlverhalten desselben nichts einzuwenden.
Erst rund dreißig Jahren später taucht eine erneute Absage in den Protokollen auf. Der Holzschuhmacher Heinrich Brembecker hatte den Wiederaufbau seines abgebrannten Hauses beantragt und erhielt eine Abfuhr. Die Versammlung erklärte den Bauplatz als zu klein für ein ordentliches Wohnhaus. Kirchhof und Kreisstraße seien schon in der Vergangenheit zu stark durch Holz- und Düngerlagerungen eingeengt und der Verkehr dadurch behindert worden. Die vorgesehenen Viehställe würden Geruchsbelästigungen und gesundheitsbelastende Auswirkungen mit sich bringen. Außerdem sei wegen einer zu engen Bebauung die Brandgefahr zu hoch. Ob dieses Bauverbot durchgesetzt werden konnte, bleibt offen.
Feuerlöschwesen
Die Bekämpfung und Vermeidung von Bränden lag im ureigensten Interesse der Gemeinde. Für die Anschaffung, Reparatur und Wartung von Feuerspritzen, Leitern, Löscheimern, Pumpen und Spritzenhäuser war regelmäßig Geld zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus waren Schornsteinfeger zu bezahlen, Versicherungsbeiträge abzuführen und Prämien auszuloben für die Eingesessenen, die aus größerer Entfernung zur Brandstelle eilten. Großen Handlungsspielraum gab es bei diesen Entscheidungen nicht. Wenn Ausgaben gescheut wurden, konnten sie höchstens für eine Weile verschoben werden.
Unterstützungen
Regelmäßig lagen auf den Tischen der Gemeindeverordneten Anträge von Eingesessenen auf Unterstützung. Viele Witwen waren darunter, denen mit kleinen Geldbeträgen geholfen wurde, häufig bekamen sie Mietzuschüsse. Familien von Tagelöhnern konnten oft ihre alltäglichen Bedürfnisse nicht befriedigen. Kam eine Krankheit hinzu, gerieten die Leute schnell in eine aussichtslose Notlage. Familien von Landwehrmännern mussten bei Mobilmachungen regelmäßig unterstützt werden.
Den meisten Antragstellern wurden Hilfen gewährt. Ob sie notwendig und gerechtfertigt waren, entschieden die Verordneten ehe nach Hörensagen, Gutdünken und Leumund der Bittsteller. Ganz vorurteilsfrei ist die Entscheidungsfindung nicht immer abgelaufen. Mal wurde einer Witwe Eigensinn unterstellt, da sie angeblich Wohnung und Unterhalt bei ihrem Sohn bekommen könnte; mal wurde eine beschlossene Unterstützung vorerst einbehalten; mal forderte die Versammlung eine Unterstützungsbedürftige und -berechtigte auf, nach Selm zu ziehen, um vor Ort zu ihrem Recht zu kommen; mal war ein Antragsteller laut Protokoll arbeitsunwillig und zänkisch.
Andrerseits geschah es einmal auch, dass eine Unterstützung wegen mangelnder Armut zwar verweigert, aber aus der Versammlung heraus privat 20 Mark gespendet wurden.
Skepsis war bei manchen Anträgen sicher angebracht. In einem Fall beantragte ein Maurer die Unterbringung seiner Ehefrau in einer Heilanstalt auf Gemeindekosten, weil sie geisteskrank sei. Das müsse erst einmal offiziell festgestellt werden, meinten die Vertreter, denn sie glaubten, dass das Verhalten der Frau von der unwürdigen Behandlung durch den Ehemann herrühre.
Einzelthemen
Neben den immer wiederkehrenden Tagesordnungspunkten standen die seltener zu behandelnden Themen, wie: Zuarbeiten zu Militärübungen, Jagdverpachtungen, Marktregelungen, die Hundesteuerfrage, das Nummerieren der Wohnhäuser, die ersten Straßenlampen, die Nutzung der Straße von Selm nach Südkirchen für die Anlage einer Telegrafenverbindungen u.a.m.
Zwei Fälle ragen aus dem Üblichen heraus. In der Sitzung der Gemeindeversammlung vom 6. Juli 1892 befasste sich der erste Tagesordnungspunkt mit der beabsichtigten Anlegung einer Transportbahn auf dem Banquett der Landstraße von Selm nach Olfen mit Dampfbetrieb. Die Bahn sollte dem Transport von Geräten und Baumaterial für den Kanalbau in Olfen dienen. Gegen eine Entschädigung von jährlich 300 Mark bekam der Bauunternehmer, unter einigen Auflagen, das Plazet für die Anlage. Der Verkehr auf der Chaussee musste während der ganzen Betriebszeit ungehindert fließen können. Wenn Fuhrwerke entgegenkamen, durfte die Signalpfeife nicht benutzt und Dampf nicht abgelassen werden. Befanden sich scheue oder unruhige Pferde auf der Straße, war der Zug anzuhalten, bis der Pferdewagen vorüber war.
Jeder Baum, der wegen der Trasse entfernt wurde, war vom Unternehmer mit 2 Mark zu vergüten. Das Chausseebankett und die Gräben mussten tadellos wieder hergestellt werden. Neben diesen Auflagen der Gemeinde war vor Baubeginn und Inbetriebnahme außerdem die Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde einzuholen.
Der zweite Falle erwuchs aus dem ersten. Als im August 1899 der Kanal in Anwesenheit Kaiser Wilhelm II. feierlich in Betrieb genommen wurde, wollten auch die Selmer dabei sein. Die Schulen und der Kriegerverein stellten Delegationen zusammen, die mit insgesamt fünf Fuhren zum Kanal transportiert wurden. Die Gemeindeversammlung genehmigte den Herren Wörmann, Droste, Walter, Wacker und Bergmann je 10 Mark für Wagen und Fahrt.
Anhang: Liste der Selmer Gemeindeverordneten >
März 2022
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1. Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen vom 31. Oktober 1841, S. 312.
2. Stadtarchiv Selm, AB-1 – 696. (1. Protokollbuch) – Alle weiteren Zitate, falls nicht anders vermerkt, sind aus diesem oder dem 2. AB-1 – 680 oder 3. Protokollbuch AB-1 – 681.
3. LGO 1841, §. 53.
4. LGO 1841, §. 60.
5. Siehe dazu: Dieter Gewitzsch, Plattes Land sucht Anschluss. Die Chaussee von Lüdinghausen über Selm und Bork nach Lünen 1850-1870, Selm 2013.