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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Verhütung des Kindbettfiebers

Christel Gewitzsch

Warum ist die Todesrate auf den Entbindungsstationen, auf denen Medizinstudenten lernen, größer, als auf den Abteilungen, wo die Hebammenschülerinnen arbeiten? – Diese Frage stellte sich der junge Assistenzarzt Ignatz Semmelweis im Wiener Allgemeinen Krankenhaus in den 1840er Jahren. Und warum schnellte die Sterbequote beim Kindbettfieber, die um 1800 bei einem Prozent lag, in den Geburtsstationen der Krankenhäuser auf zwanzig Prozent hinauf? Man bemerkte es, hatte aber keine Antwort parat.

Von Bakterien wusste man noch nichts, Desinfektion war ein Fremdwort und noch nicht einmal das gründliche Händewaschen war selbstverständlich. Ignatz Semmelweis, der selber in der Pathologie arbeitete, sah die Ursache in den an der Hand klebenden Cadavertheile[n](1), die von der einen in die andere Abteilung getragen wurden und das Fieber auslösten. Von ihm kam die Empfehlung, Ärzte und Medizinstudenten, die aus der Anatomie kommen, und dann auf die geburtshilfliche Station wechseln, mögen sich bitte und unbedingt die Hände waschen. Und zwar mit Chlorkalk. Das war damals ein sehr probates Mittel, um dann eben die Untersuchung der Frauen vorzunehmen. Diese Kontaktinfektion der Gebärmutter war wirklich ein sehr ernsthaftes Problem, was sich mit den Chlorwaschungen in den Griff bekommen ließ.

Semmelweis‘ Einschätzung wurde nicht von allen geteilt. Die mangelnde Anerkennung kränkte ihn. Seine Ergebnisse veröffentlichte er erst 1861. Staatliche Instruktionen und konkrete Hygiene-Anweisungen für die Hebammen in den Gemeinden kamen erst spät in den 80er Jahren.

Staatliche Regelungen

Die umfangreiche Verfügung des Herrn Ministers der geistlichen pp Angelegenheiten vom 6. September 1883, die das Hebammenwesen insgesamt regelte, befasste sich in erster Linie mit dem Zugang zu dem Beruf, der Ausbildung und der Stellung der Hebammen. Von einem stärkeren Achtgeben auf hygienische Zustände ist da noch nicht ausdrücklich die Rede. Man verwies aber darauf, dass sich die Frauen streng an die Anweisungen des Hebammen-Lehrbuchs zu halten hatten und alle Ergänzungen und Abänderungen ebenso bindend waren wie die Ursprungstexte. Als weitere Verpflichtung wurde ihnen auferlegt, ihre Instrumente und Gerätschaften in gutem Zustande zu halten und stets die erforderlichen Desinfektionsmittel bei der Hand zu haben. Alle Fälle von Kindbettfieber und alle Todesfälle bei den Gebärenden waren dem Kreisphysikus anzuzeigen.

1885 erinnerte die Regierung in Münster auch die Ärzte an ihre Verpflichtung, alle Fälle von Wochenbettfieber, bezw. einer entzündlichen Erkrankung des Unterleibs im Wochenbett,(2) unverzüglich der Ortspolizeibehörde zu melden und auch die Hebammen, falls sie hinzugezogen worden waren, darüber zu informieren.

In der Anweisung für die Hebammen zur Verhütung des Kindbettfiebers(3) vom Dezember 1888 wurde das Ministerium sehr konkret und gab in 18 Paragrafen genaue Anleitungen für die Praxis. In Paragraf 1 heißt es: Die Hebamme befleißigt sich zu jeder Zeit und in allen Stücken der größten Reinlichkeit. Insbesondere beobachte sie dieselbe streng in jedem Gebär- oder Wochenbettzimmer und namentlich an ihren Händen, Armen und Oberkleidern. Die genaueren Instruktionen folgten im Anschluss. So sollten die Ärmel der Kleider so beschaffen sein, dass sie bis zur Mitte des Oberarms aufgerollt werden konnten. Und zusätzlich zu den in den Lehrbüchern und vorherigen Instruktionen vorgeschriebenen Gerätschaften wie Mutterspritze, Klistierspritze etc. sollte die Hebamme stets die folgende Ausrüstung bei sich haben:
a) eine reine, waschbare, nach dem letzten Waschen noch nicht gebrauchte hellfarbige Schürze, mit welcher die ganze vordere Hälfte des Kleides bedeckt werden kann;
b) Seife zum Reinigen der Hände und Arme;
c) eine geeignete, reingehaltene Hand- und Nagelbürste zu demselben Zweck;
d) ein reines, nach dem letzten Waschen noch nicht gebrauchtes Handtuch;
4) 90 Gramm verflüssigter reiner Karbolsäure (acidum carbolicum purum liquefactum der Pharmakopoe) in einer Flasche, welche die deutliche und haltbare Bezeichnung „Vorsicht! Karbolsäure! Nur gehörig verdünnt und nur äußerlich zu gebrauchen!“ stets haben und stets dicht verschlossen gehalten werden muß, nebst einem geeigneten Gefäß zum Abmessen von je 15 und 30 Gramm der genannten Säure.

Ein Thermometer, das früher nur wo möglich mitgeführt werden sollte, musste nun ständig zur Hand sein; die mitzuführende Spülkanne (Irrigator) soll 1 Liter halten, eine geeignete Marke zur Abmessung von ½ Liter haben und mit einem passenden Kautschukschlauch von 1 bis 1 ½ Meter Länge versehen sein.

Den Hebammen wurden detaillierte Anweisungen für das Verhalten bei und nach den Untersuchungen bei Schwangeren, Kreisenden und Wöchnerinnen und Verhaltensregeln zum Umgang mit der Karbolverdünnung gegeben. Die Gefahren durch Ansteckungen, die bei den von Abteilung zu Abteilung wechselnden Studenten und Ärzten in den Krankenhäusern zu stark steigenden Krankheitsfällen geführt hatten, machten die Instruktionen auch den Hebammen deutlich, damit sie die notwendigen Reinlichkeits-  und Desinfektionsregeln beachteten. Von Leichen und deren Bekleidung mussten sie sich fernhalten.

Diese letzte Vorschrift hatte die Regierung im Dezember 1883 schon einmal deutlich herausgestrichen, als sie von dem Brauch in einzelnen Orten des Regierungsbezirks erfahren hatte, die Hebamme als sogenannte Lichtmutter(4) einzusetzen. Dabei kümmerte sie sich um die Vorarbeiten zu einer angemessenen Beerdigung, um das, was heute der Bestatter erledigt. Die von diesem Brauch betroffenen Ortspolizeibehörden wurden angewiesen, den Hebammen aufs strengste zu verbieten als Todtenfrau oder als Lichtmutter irgendwo thätig zu sein, widrigenfalls sie den gesetzlichen, ... Strafen verfallen würden.

Informationsvermittlung

Von der Beilage des Amtsblatts verschickte die Regierung Anfang 1889 Sonderdrucke an die Landratsämter mit dem Auftrag, sämtlichen Hebammen des Kreises sowohl den Bezirks- als auch den frei praktizirenden Hebammen je ein Exemplar gegen Empfangsbescheinigung zur strengsten Nachachtung und zur Aufbewahrung in ihrem Lehrbuche behändigen zu lassen. Um den neuen und ergänzenden Regelungen Nachdruck zu verleihen, machte sie dieses Thema bei den Wiederholungsprüfungen zur Pflicht und kündigte an, auch den Verbrauch der Desinfektionsmittel zu überprüfen. Das Engagement der Behörden beflügelte die Regierung mit dem Hinweis, dass hier mit geringen Mitteln einer weit stärkeren Belastung der Armenpflege in Fällen, in denen der Tod oder das Siechthum der Frau zu materiellem Elend der Familie führt, vorgebeugt werden kann.

Erste Überlegungen im Ministerium, die schon praktizierenden Hebammen schnell durch Artikel in den Kreisblättern zu informieren, scheiterten an elf Familienvätern aus dem Kreis Tecklenburg und an den Regierungen in Erfurt und Minden. Diese hatten Bedenken gegen eine Veröffentlichung der detailreichen Beschreibung der Maßnahmen bei der Geburt und der Pflege der Wöchnerinnen geäußert und fürchteten, das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl der Bevölkerung(5) zu verletzen und Kinder und Jugendliche zu gefährden.

Dagegen war der Kreisphysikus Ende 1888 mit seinem Vorschlag erfolgreich, für alle Hebammen einen Hülfs- und Schreibkalender(6) zu kaufen. Er wollte diese Kalender, da sie durch Belehrung der Hebammen ein wirksames Mittel zur Verhütung von Wochenbett-Erkrankungen bieten und auch die richtigen Anweisungen für die Pflege der Säuglinge verbreiten. Da das Landratsamt die Ortsbehörden aufforderte, das Erforderliche zu veranlassen, bestellte Bork – allerdings erst im März – ebenfalls sechs Exemplare. Auch später taucht die Bestellung dieser Kalender hin und wieder in der Akte auf.

Ausrüstungsmängel

Wie in all den Jahren vorher, scheiterte die genaue Umsetzung aller Vorschriften häufig an der unvollständigen Ausrüstung der Hebammen. Als Kreisphysikus Dr. med. Hövener im Jahr 1887 sämtliche Hebammen im Kreis Lüdinghausen überprüfte, fiel die Mängelliste bei den im Amtsbezirk  Bork tätigen Hebammen besonders lang aus. Bei sechs Hebammen fehlten vier Mess-Gefäße, zwei Schläuche für den Irrigator, drei Nagelbürsten, zwei Taschen für die Instrumente, zwei Tagebücher, zwei Milchpumpen und ein Thermometer. Zwar wurden die Utensilien immer recht schnell ergänzt, weil die Kreisärzte sich um die Beschaffung kümmerten, doch findet sich nur einmal ein  Hinweis, dass eine Hebamme selbst einen Mangel meldete. Im Oktober 1890 informierte Maria Glowsky den Kreisphysikus, dass sie anstatt eines Irrigators nur die Kanne bekommen [habe], ohne Schlauch und Ansatzrohr. Der Kreisarzt erklärte daraufhin dem Amtmann: Ein Irrigator besteht aus Kanne, Gummischlauch und Ansatzrohr von Glas ... Es wird also die nachträgliche Beschaffung eines Gummischlauches mit den Ansätzen von Glas als Klistir- und Mutterrohr nothwendig sein.

Die Hebamme bemängelte außerdem die gelieferte Flasche für die Karbolsäure. Laut Vorschrift mussten diese Flaschen folgende Aufschrift tragen: „Vorsicht! Karbolsäure! Nur gehörig verdünnt und nur äußerlich zu gebrauchen!“ Auf der neuen Flasche stand nur Karbolsäure. Amtmann Döpper bestellte bei der Firma Middendorf in Münster nach und reklamierte die Flasche, woraufhin von dort die etwas indignierte  Antwort kam: Die Flaschen zu Carbolsäure habe [ich] für viele Kreisphysikate in dieser Form geliefert u. sind auch niemals von den Herrn Kreisphysici beanstandet worden. Für andere Lieferanten war es allerdings selbstverständlich, für eine Mark und zehn Pfennig die vorschriftsmäßige Flasche zu liefern.


Die Handhabung und Beschaffung der Karbolsäure, die für die Desinfektion der Hände, Unterarme und Gerätschaften gebraucht wurde, war immer mal wieder Thema. Lange Zeit wehrte sich Amtmann Döpper dagegen, die Säure für die Hebammen zu besorgen. Die Frauen kauften sie selber in der Apotheke und konnten das Geld aus der Gemeindekasse zurückfordern. Die Gemeinden, so schrieb Döpper an den Kreisphysikus, hätten sich nie geweigert, die Rechnungen zu begleichen. Bei den Hebammen schien dies aber nicht von vornherein bekannt gewesen zu sein. Nachdem der Landrat den Amtmann daran erinnerte, dass die Säure auf Kosten der Gemeinden den Hebammen zu liefern sei, beauftragte Döpper die Apotheker Vahle in Olfen und Thiemann in Lünen, den Hebammen die Säure in 500 Gramm Einheiten gegen Empfangsbestätigung auszuhändigen und die Rechnungen an die Gemeindekassen zu schicken.

Als alle Rechnungen für das Jahr 1890 eingereicht waren, wunderte sich Döpper sehr über die unterschiedlichen Mengen. Frau Heitkamp in Bork hatte für 42 Mark Karbolsäure gekauft, während in Selm und Altlünen die Hebammen Glowsky und Rieger nur 7,50 beziehungsweise 7,70 Mark ausgegeben hatten. Döpper bezweifelte die Richtigkeit der Rechnungen, räumte ein, es könne sich um einen Irrtum handeln, wollte aber vom Landrat weitere Informationen, um die Rechte und Interessen der Gemeinden des hiesigen Amts wahrzunehmen. Den mit der Antwort betrauten Kreisphysikus beunruhigten die unterschiedlichen Zahlen nicht, es hinge eben immer von den Umständen ab, wie viel Säure gebraucht würde. Trotz dieser Auskunft erscheinen die Unterschiede nicht plausibel. Die Zahlen der zu behandelnden Schwangeren lagen nicht so weit auseinander und jede Hebamme war verpflichtet, vor der Untersuchung zwei Liter Karbolverdünnung herzustellen, wofür sie 60 Gramm Karbol benötigte; 90 Gramm musste sie immer dabei haben. Wenn der Kreisphysikus schrieb, manchmal würden nur 30 Gramm gebraucht, war dieses Vorgehen nicht regelgerecht. Landrat und Amtmann akzeptierten diese Erklärung und die Rechnungen der Apotheker wurden bezahlt.

Insgesamt zeigte sich der Regierungspräsident Ende November 1890 nicht zufrieden mit der Umsetzung der neuen Anweisungen und drängte auf eine stärkere Beachtung der Instruktionen. Die Ortsbehörden wurden verpflichtet, den Hebammen nochmals die strengste Befolgung der Vorschriften ans Herz zu legen. Gleichzeitig kündigte er an, künftighin jeden etwa auftretenden  Fall einer derartigen Erkrankung zum Gegenstande eingehender Untersuchung zu machen und jede irgend nachweisbare Pflichtwidrigkeit auf das Schärfste zu ahnden. Den Landräten gab der Regierungspräsident auf, auch künftighin bei jedem zur Anzeige gelangenden Falle einer Kindbettfieber-Erkrankung von vornherein möglichst genau über die obwaltenden Umstände und über das Verhalten der Hebammen [zu] berichten.

Als 1897 die Verfügung über die Anzeigepflicht bei jedem Auftreten einer ansteckenden Krankheit aufgehoben wurde, blieben Cholera-, Pocken- und Kindbettfieber-Erkrankungen davon ausgenommen. Ab 1902 reichte es aus, Fälle von Kindbettfieber sofort den Kreisärzten mitzuteilen; die Landratsämter mussten nicht mehr informiert werden.

November 2023
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1. und folgendes Zitat: Ulrike Burgwinkel, Kindbettfieber – Eine einst gefürchtete Krankheit – deutschlandfunk,de.
2. StA Selm, AB-1 – 484.
3.  Besondere Beilage zu Stück 51 des Amtsblatts der Königlichen Regierung zu Münster, 1888.
4.  und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 484.
5. Reinhold Zilch, Das preußische Kultusministerium und die amtlichen Hebammenlehrbücher 1815-1904. In: Daniel Schäfer (Hg.), Rheinische Hebammengeschichte im Kontext, kasseluniversitypress GmbH, Kassel 2010, S. 186.
6. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 484.


 
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