aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Vom Umgang mit den Leichen

Christel Gewitzsch

Ein empörter Pfarrer Pröbsting forderte im Juli 1853 Bürgermeister Stojentin auf, vier Männer aus Netteberge auf das Amtsbüro zu zitieren, um sie amtlich zu vernehmen. Was hatten sie gemacht? – Oder besser, was hatten sie nicht gemacht?

Sie waren nicht zur Beerdigung des Johannes Lahr, genannt Beckensträter, am Morgen des 12. Juli auf dem Borker Kirchhof erschienen. Der Sohn der Witwe hatte sie termingerecht  zum Friedhof bestellt und als Nachbarn, so der Pfarrer, wären sie verpflichtet gewesen, die Leiche des Lahr zu Grabe zu tragen. Sie hätten weder abgesagt, noch für einen Ersatz gesorgt, so dass, wenn sich nicht andere, welche die Leiche zum Grabe begleiteten, als Träger gutwillig gestellt hätten, die Leiche eineinhalben Tag auf dem Kirchhofe hätte stehen müssen, bis polizeilich die Träger wären herbeigeschafft worden.[1] Der Pfarrer empfahl eine Verurteilung der vier Nachbarn zu einer Geldstrafe an die Armen-Kasse.

Stojentin kamen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens und fragte beim Landrat nach. Landrat Schmising teilte seine Bedenken und schrieb zurück: Der Gebrauch, daß die Nachbarn die Leiche zum Grabe tragen, beruht meines Erachtens auf keiner Verpflichtung, und können deshalb auch diejenigen, welche sich weigern, dazu nicht polizeilich angehalten werden.

Schaustellung von Leichen

Ortsübliches Verhalten musste in einem anderen Fall regelrecht verboten werden. 1880 noch schickte Landrat Wedel an sämtliche Ortsbehörden eine Verfügung aus dem Jahre 1801, nachdem es nicht geduldet werden durfte, kurz vor einer Beerdigung den geöffneten Sarg auf die Straße und die Leiche somit zur öffentlichen Schau zu stellen. Auch bei der Begräbniszeremonie dürfe dies nicht passieren. Diese Unsitte rufe nicht nur bei Passanten einen geradezu peinlichen Eindruck hervor, sondern sei auch aus sanitätspolizeilichen Rücksichten durchaus zu verhindern, indem, ganz abgesehen von dem häufig abschreckenden und widerlichen Anblick der Leichen, durch die, gleich nach aufhören des Lebens beginnende, bei Zutritt der Luft immer rascher vor sich gehende Zersetzung derselben, besonders im Sommer, nicht nur sehr unangenehme, sondern auch sehr schädliche Ausdünstungen sich entwickeln.

Der Landrat forderte vom Amtmann, nach Beratung mit den Gemeindevorständen eine Polizeiverordnung dazu zu erstellen. Döpper glaubte, davon absehen zu können, da dieses Verhalten in seinem Bezirk unüblich sei. Der Landrat belehrte ihn eines Besseren und beschuldigte ihn, hinsichtlich der Kirchen-Gemeinden Selm und Cappenberg nicht richtig informiert zu sein. Unverzüglich solle er sich über die Gepflogenheiten in den beiden Gemeinden Gewissheit verschaffen und wenn nötig, die Polizeiverordnung erarbeiten.

Die Polizeidiener von Selm und Bork, Schroer und Leismann, hatten wohl ausgesagt, dass Särge geöffnet wurden. Auf Döppers Nachfrage erklärten allerdings beide, dass das derzeit nicht mehr stattfände. Doch sicherheitshalber erließ Döpper die vom Landrat geforderte Verordnung:
§.1
Das Oeffnen der Särge und die Schaustellung von Leichen bei Beerdigungen an Wegen und Straßen wird hiermit polizeilich untersagt,
§. 2
Zuwiderhandlungen dieses Verbots zieht eine Polizeistrafe von 3 bis 15 Mark Geldstrafe event. eine Haft von 1 bis 3 Tagen nach sich.
Bork, den 12.12.1880

Leichenschau

Im Mai 1904 fragte der Regierungspräsident Landräte, Oberbürgermeister und Amtmänner, was sie zu dem Entwurf einer Polizeiverordnung über Einführung der obligatorischen Leichenschau zu sagen hätten. Besonders interessierte er sich für die Zweckmäßigkeit der Vorschriften und ihre Durchführbarkeit. Neben der Verordnung legte er ein Muster für den Totenschein und eine Anweisung für die nichtärztlichen Leichenbeschauer bei.

Des Amtmanns Busch Meinung dazu war eindeutig. Seine Stellungnahme lautete:
Für die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer allgemeinen Leichenschau weiß ich absolut keinen Grund anzuführen, wohl aber weiß ich aus Erfahrung, die ich in einer größeren Stadt und in einem größeren Amtsbezirk des Regierungsbezirks Arnsberg gesammelt habe, daß die Durchführung der event. Vorschriften auf große Schwierigkeiten stößt und daß die Bevölkerung, welche durchweg auf dem naheliegenden Standpunkte beharrt, daß eine derartige Zwangsmaßregel nur zur Förderung der finanziellen Interessen der Aerzte bestehe, sich nur sehr ungern fügt. Hier in dem ländlichen Bezirke aber würden bei der vielfach recht sporadischen Lage der Wohnungen durch die Einführung der Leichenschau sehr große Schwierigkeiten und Belästigungen entstehen.
Der Anstellung nichtärztlicher Leichenbeschauer kann man nur recht ernstlich widerraten, weil sich
1. für einen solchen Posten ordentliche Leute nicht finden,
2. eine sogenannte Ausbildung einen Laien nie und nimmer genügend befähigen kann und
3. durchaus keine Garantie dafür vorhanden ist, daß nicht durch das Verhalten der Leichenbeschauer die Empfindlichkeiten der Angehörigen der Verstorbenen verletzt werden.

Dass Busch sich gar keinen Grund für eine obligatorische Leichenschau vorstellen konnte, verwundert angesichts der Ängste vor einem Scheintod und der damit verbundenen Vorstellung, lebendig begraben zu werden. Auch der Pfusch eines Arztes oder ein Tötungsdelikt würden eher aufgedeckt. Buschs Skepsis gegenüber einem nichtärztlichen Leichenbeschauer ist allerdings nachvollziehbar.

Zunächst kam es nicht zu einer verpflichtenden Einführung der vorgeschlagenen Verordnung. Der Regierungspräsident fragte 1907 noch einmal nach. Aus Bork kam eine Fehlanzeige.

Leichenpässe

Sollte ein Verstorbener außerhalb des Kirchsprengels, in dem er gestorben war, beigesetzt werden, musste für den Transport ein sogenannter Leichenpass ausgestellt werden. Grundlage dafür war die 1858 im Amtsblatt erschienene Verordnung der Königlichen Regierung. Im Wesentlichen ging es darum, einen ordentlichen Totenschein beizubringen, mit der Erklärung des Arztes, dass keine sanitäts-polizeilichen Bedenken dem Transport entgegenstünden. Die Leiche war in einem möglichst luftdichten Kasten in den Sarg zu legen, der wiederum gut verpicht (mit Pech verklebt) sein musste. Ein zuverlässiger Begleiter war dafür verantwortlich, dass der Sarg nicht vom Wagen genommen wurde, der Wagen bei notwendigen Pausen abseits im Freien stand und am Ort der Beerdigung sofort zum Friedhof gebracht wurde. Aus Orten, in denen eine ansteckende Krankheit wütete, durften keine Transporte stattfinden.

1901 schlug der Landrat von Beckum eine Änderung der grundsätzlichen Bestimmung zur Ausstellung dieses Papiers vor. Er stellte dar:
Es kommt nun nicht selten vor, daß Schwerkranke durch den Arzt veranlaßt würden, sich in ein benachbartes Krankenhaus zu begeben und daß sie dort verstürben. Die Hinterbliebenen wünschen regelmäßig die Beerdigung im Heimathsorte und bedürfen dann – wofern Krankenhaus und Begräbnisstätte nicht im gleichen Kirchensprengel lägen – zu einem oft nur 3-4 klm weiten Transport der Leiche des theuren Leichenpasses, während innerhalb desselben Kirchensprengels Leichen oft 15 und mehr klm weit, nach dieser Richtung kostenlos, überführt werden könnten.
Den Hinterbliebenen, welche durch den Todesfall selbst häufig schon in pekuniäre Bedrängnis geriethen, entständen so noch erhebliche Kosten durch Beschaffung des Physikats-Attests und des Leichenpasses sowie durch die dieserhalb nöthigen Gänge Geldverluste infolge Zeitversäumnis.

Der Regierungspräsident wollte von allen Landräten wissen, welche Erfahrungen sie gemacht hatten. Die Amtmänner wurden wieder zur Berichterstattung aufgefordert und Amtmann Busch schrieb, die Anregung des Herrn Landrat von Beckum kann nur freudig begrüßt werden. Hier kommt es auch vor, daß Eingesessene der Gemeinde Bork die Leichen in Lünen im Krankenhause verstorbener Angehörige hier beerdigt haben möchten, und dann aber um so mehr auf Schwierigkeiten stößt, als der behandelnde Arzt und die zur Ausstellung des Leichenpasses zuständige Behörde in Dortmund domiciliren.

Für den Amtsbezirk Bork konnten sich diese Fälle in den Krankenhäusern von Lünen, Kirchderne, Olfen, Lüdinghausen und Werne ereignen. Im Pfarrbezirk Altlünen sei alles noch viel komplizierter, da er zu einem Teil zum Stadtbezirk Lünen (Regierungsbezirk Arnsberg) und zum anderen Teil zum Gemeindebezirk Altlünen (Regierungsbezirk Münster) gehöre. Busch schlug deshalb vor, den Transport der Leichen von Nachbarorten zu Begräbnißplätzen auf eine Entfernung von etwa 20 km ohne Leichenpaß zu gestatten, wenn eine Bescheinigung des Arztes welcher den Verstorbenen behandelt hat, beigebracht würde, daß der Verstorbene nicht einer ansteckenden Krankheit erlegen ist und auch am Nachbarorte ansteckenden Krankheiten nicht herrschen.

Von einer Veränderung der Bestimmungen ist nichts zu lesen. Dem Amt Bork wurde aus anderen Städten, z.B. Münster, Dortmund, Bochum, in der Zeit von 1853 bis 1910 insgesamt zehn Mal die Ausstellung eines Leichenpasses angekündigt.

Beerdigung armer Leute und Strafgefangener

Wenn Leute verstarben, aus deren Nachlass die Beerdigung nicht gezahlt werden konnte und es auch keinen Angehörigen gab, der für die Bezahlung aufkommen musste, wurden die Kosten üblicherweise von den örtlichen Armenkassen übernommen. Das war auch in den Gemeinden des Amtes Bork so. Pfarrer Pröbsting schrieb auf die Anfrage des Landrats: Diejenige Verstorbene, die aus Armen-Mitteln Unterstützung erhalten hat, wird auch arm begraben, d.h. der Pfarrer und Küster erhalten für das Begraben keine Vergütung; die Kosten jedoch, welche für die Verfertigung des Sarges, für das Auskleiden der Leiche und für den Todtengräber erwachsen, werden aus der Armen-Kasse gedeckt.
Ist der zu Beerdigende im Gefängnisse als Polizei-Gefangener gestorben, so ist der Armenverband nicht auf die Kosten der Beerdigung eingetragen; die Kosten werden dann als Polizei-Unkosten behandelt.
Pfarrer von Wieck aus Altlünen ergänzte, dass auch das Totenkleid aus dem Armenfonds bezahlt werde.

Als es häufiger vorkam, dass von den Ortsarmenverbänden dem Landesarmenverband die Kosten für die Beerdigung unbekannt gebliebener Leichen in Rechnung gestellt wurden, verfügte der Landeshauptmann 1906, daß möglichst alle in der Provinz Westfalen auskommenden Leichen unbekannter Personen und solcher landarmer Personen, bei denen es nach Lage des Falls angezeigt erscheint, an das anatomische Institut der Universität von Münster geschickt werden sollten. Sämtliche Kosten dafür übernahm das Institut.

Anfang 1907 hatte die Universität Münster alle Einrichtungen, die bis zum fünften Semester des Medizinstudiums benötigt wurden, eingerichtet. Nun galt es, Vorsorge dafür zu treffen, daß dem anatomischen Institut ... das zum lehrplanmäßigen Unterricht in der Anatomie ... unentbehrliche Leichenmaterial in ausreichender Vollständigkeit zur Verfügung gestellt werde. Angeordnet wurde, verstorbene Strafgefangene, unbekannte Personen, Einsitzende in Besserungsanstalten, Arbeits- und Armenhäusern und eventuell Verstorbene aus öffentlichen Krankenhäusern dem Institut zu überliefern. Teilweise musste das Einverständnis der Angehörigen eingeholt werden. Innerhalb einer Frist von 24 Stunden musste sie sich entscheiden, ob sie die Beerdigung selbst übernehmen wollten. In den Sommermonaten fand keine Überführung an das Institut statt. Litten die Verstorbenen an ansteckenden Krankheiten, durften sie nicht nach Münster geschickt werden.

Nachdem die Leichen als Unterrichtsmaterial gedient hatten, organisierte das Institut eine christliche Bestattung auf dem Zentralfriedhof in Münster. Verabredungen mit der evangelischen Kirchengemeinde und dem katholischen Kirchenvorstande von Überwasser (Liebfrauenkirche hier) waren darüber getroffen worden.

August 2020
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[1] und folgende Zitate: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 279.

 
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