aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

"Deutsch-Athen" - Charles Geisberg engagiert sich im Milwaukee Musikverein

Dieter Gewitzsch

Reisende, die Amerika in den frühen 1850er Jahren besuchten, haben in beachtlicher Zahl auch Milwaukee besucht und ihren Eindruck festgehalten, dass die Stadt offenbar mehr echten deutschen Geist und mehr deutsche Einheit versprühte, als jede andere amerikanische Gemeinde. Das brachte der Stadt den Titel "Deutsches Athen" ein. Kathleen Neils Conzen(1) untersucht, worauf sich diese Marke stützt und welche Verhältnisse speziell in der deutschen Gemeinschaft so bezeichnet werden. aktenlage.net folgt Conzens 1976 erschienenen Studie(2) und zieht für die einleitenden Bemerkungen die mit größerem zeitlichen Abstand gemachten Feststellungen den zeitgenössischen Berichten vor.

Die frühen Besucher beschreiben ein freundliches, behagliches Erscheinungsbild der Stadt und erleben eine überall strahlende, "gemütliche" Atmosphäre, die sogar die "American society" angesteckt habe, deren steifer und eisiger Ton unter dem Einfluss deutscher Bräuche einigermaßen aufgetaut sei. Die in den späten 1840er Jahren entstandenen kulturellen und intellektuellen sowie politischen und sozialen Vereinigungen strukturierten das Leben der deutschen Einwanderer.



"Der Volksfreund" vom 6.Februar 1850

"Der Volksfreund" vom 23. Dezember 1847

Auch Conzen konstatiert, dass die Einführung klassischer Musik und Theater, liberaler Reformgruppen und Bildungsvereinigungen vornehmlich von der deutschen Gemeinschaft angestoßen und betrieben wurde. Allerdings erreichten die kulturellen Annehmlichkeiten nicht alle Teile der deutschen Gemeinschaft in gleichem Umfang und es traten Spaltungen zu Tage, die in der Pionierzeit durch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit verdeckt waren.  Milwaukees Deutschtum war im letzten Jahrzehnt vor dem Bürgerkrieg (1861-1865) von Klassen- und Bildungsunterschieden sowie religiösen Unterschieden geprägt.

Die zunehmende Differenzierung der Stadtgesellschaft und der kulturelle Aufschwung wurden mit Blick auf die deutschen Gemeinschaften oft dem Einfluss politischer Flüchtlinge zugeschrieben, die im Zuge der europäischen Revolutionen ihre Heimat verließen. Dem hält Conzen entgegen, dass die Siedlungen schon vor dem Eintreffen der "Forty-Eighters" zu handlungsfähigen Kommunen gereift waren mit Bürgern, die Mittel, Interesse und die Fähigkeiten hatten, kulturelle Aktivitäten zu unterstützen. Charles Geisberg befand sich in deren Gesellschaft, umgeben von Angehörigen der etwa gleichen Klasse mit vergleichbaren Ausbildungen und ähnlichen Idealen. Sie mussten nicht fliehen, ihr Austritt aus Europa war freiwillig. Diese Menschen kamen mehrheitlich ohne den Gedanken an eine spätere Rückkehr in  ihr Herkunftsland nach Amerika und waren bereit, hier eine neue Heimat zu finden.

Conzen spricht von einer "group of early leaders", und benennt einen Kreis der "Gründerväter"(3) der Stadt, die die deutsche Gemeinschaft sowohl kulturell als auch die politisch und sozial prägten. Einige gehörten zweifelsfrei zum persönlichen Umfeld Charles Geisbergs.

Und weil die Geschichte mit der Betrachtung der "Leader", "Gründerväter" oder allgemein der Männer, nicht vollständig erzählt ist, sei schon an dieser Stelle auf Anke Ortlepps Studie "Auf denn, Ihr Schwestern!" - Deutschamerikanische Frauenvereine in Milwaukee, Wisconsin, 1844-1914, verwiesen. Da kommt dann auch Marie Becker vor - die Charles Geisberg geheiratet hat - und andere Frauen, von denen eine zeitweise in Münster, in der Nachbarschaft der Familie Geisberg gelebt hat.

Der Musikverein - „The Milwaukee Musical Society“

Der Musikverein von Milwaukee 1850-1900, eine Chronik, Hg. Musikverein, Milwaukee 1900.

Die zum 50jährigen Bestehen des Musikvereins herausgegebene Chronik sieht die Anfänge der in Vereinen organisierten Pflege der Musik in Milwaukee im Jahr 1847, als sich ein deutsches Männerquartett, bestehend aus den Herren Dr. Hübschmann, F. Schlömilch, Charles Geisberg und H. Niedecken konstituierte und sich bald zu einem größeren Verein erweiterte, der im Februar 1848 sein erstes öffentliches Konzert veranstaltete. Mit der Verpflichtung eines jungen Böhmen als Dirigenten gewannen die Musikliebhaber ein Jahr später die Person, die geeignet war, alle vorhandenen Kräfte zu einem großen Ganzen zusammenzufassen.






Die musikalische Leitung

Hans Balatka war von Hause aus Jurist und ein vollständig theoretisch und praktisch gebildeter Musiker, der nicht nur mehrere Instrumente spielte, sondern auch vortrefflich sang. Hermann Kemper (der – wie Charles Geisberg - gut vernetzt dem Kreis der „Deutsch-Athener“  zuzurechnen ist) hatte Balatka im Norden entdeckt, wo dieser einige Zeit als „lateinischer Farmer“ lebte. Ins aufblühende Milwaukee gelockt, sah Balatka bald, dass sich in der jungen Stadt … viel brauchbares, musikalischen Talent zusammengefunden hatte und entschlossene, aktive Bürger auf ihn warteten. Zu den treibenden Kräften gehörten … und Jacob Mahler und Theodor Wettstein, in dessen Lokal beschlossen wurde, die Gründung eines musikalischen Vereins unter Balatka’s Leitung zu betreiben.

Die Vereinschronik von 1900 vermerkt, dass das obenerwähnte Männerquartett an der Spitze der Versammelten gestanden habe. Die offizielle Gründung des „Musikvereins“ folgte am 1. Mai 1850. Um auch die anglo-amerikanische Bevölkerung zur Theilnahme heranzuziehen, lief der Verein auch unter dem Namen „The Milwaukee Musical Society“.

Charles Geisberg wurde zum Schatzmeister des Vereins gewählt, der zur Zeit der Gründung 45 Mitglieder hatte; die Zahl stieg aber schon in den ersten Wochen auf 80. Die musikalische Begeisterung war groß, die Beteiligten ließen es an rühmlichen Eifer nicht fehlen, so dass das erste Konzert des Musikvereins bereits am 25. Mai 1850 stattfinden konnte.

Das Konzert soll einen „enthusiastischen“ Erfolg gehabt haben, wie besonders die Verdienste des jugendlichen Dirigenten ihre volle Würdigung fanden. Der Musikverein gab monatlich ein Konzert und brachte schon beim dritten Termin die ganze erste Szene aus „Don Juan“ auf die Bühne. Ouverturen und Chöre aus Opern standen regelmäßig auf dem Programm, dazwischen Aufführungen von Streichquartetten und Gesangsvorträge einheimischer Solisten. Im ersten Jahr seines Bestehens weihte der Verein im November 1850 sein neues Domizil mit einem Ball ein. Im März 1851 feierte man den ersten Stiftungstag des Quartettvereins mit einem Kammermusikkonzert und Anfang Mai das eigene Stiftungsfest mit der Aufführung von Weber’s Jubelouvertüre und dem Hallelujah-Chor aus Haendel’s Messias. Zu alledem hatte der Verein im Februar 1851 eine Gesangsschule unter Balatka’s Leitung ins Leben gerufen.

Haydn: "Die Schöpfung"

Die anhaltende Bereitschaft von weit über einhundert Frauen und Männern, sich singend und musizierend in die Projekte einzubringen, ermutigte den Verein zur ersten künstlerischen Großthat, die Aufführung der „Schöpfung“ von Haydn. Zu Jahresbeginn 1851 starteten die Vorbereitungen mit der Suche nach einem geeigneten Lokal für die Aufführungen, wobei man bald erkannte, dass die bisher genutzten Gebäude zu kein waren und nur einige der Kirchen genug Platz boten. Es gab Gezerre, ob man „profane Aufführungen“ in Gotteshäusern erlauben dürfe, fand aber schließlich in der Methodistenkirche ein geeignetes Lokal. Zur Premiere am 2. Juli 1851 brachte der Musikverein etwa 130 Leute auf die Bühne: Das Orchester bestand aus 30 Mann …, der Chor aus nahezu 100 Personen; die Solopartien waren durch einheimische Kräfte vertreten u.z. Gabriel (Frau Mahler), Eva (Frl. Marie Becker), Adam (H. Niedecken), Raphael (Charles Geisberg), Uriel (A. J. Biedermann).

Unter den in der Chronik von 1900 namentlich genannten aktiven Mitgliedern des Musikvereins sind wieder Personen zu finden, die – wie Charles Geisberg - schon mit anderen Aktivitäten innerhalb der deutschen Gemeinschaft auffielen. Conzen stellt allgemein fest, dass es men of prominence (Männer von Bedeutung) gab, die ihre herausgehobene Stellung bewusst durch soziales Engagement pflegten. Allen voran diejenigen, die nach Berufsmerkmalen als Geschäftsleute gesehen wurden.(4)

Lortzing: "Zar und Zimmermann"

Das Jahr 1853 bildet einen weiteren Glanzpunkt in der Geschichte des Vereins. Ein Unternehmen bereitete sich vor, welches dem Vereine neue Lorbeeren bringen und seinen Ruhm weit über die Stadtgrenzen von Milwaukee tragen sollte: es war die vollständige Bühnen-Aufführung einer Oper: "Zar und Zimmermann" von Albert Lortzing. - Bei aller Begeisterung, die fast fünfzig Jahre später noch in der Vereinschronik zum Ausdruck kommt, waren sich die Verantwortlichen des finanziellen Risikos bewusst. Um die Vereinskasse zu schonen, übernahmen  Balatka und andere aktive Mitglieder Kosten in Höhe von zweihundert Dollar, auf das allen Hindernissen und Anfeindungen zum Trotz am 8. April 1953 Lortzings "Zar und Zimmermann" in Gardiner's Halle gegeben werden konnte. Die einheimische wie die auswärtige Presse war des begeisterten Lobes voll und es war tatsächlich besonders, dass erstmals im Nordwesten der Vereinigten Staaten eine deutsche Oper erklang.(5)


In Koss' "Milwaukee" wird die Aufführung und die Resonanz ausführlich beschrieben und eine Szene im Bild festgehalten:
Die gelungenste Erscheinung von Allen aber war wohl die des Cantors und Schulmeisters, dargestellt von Th. Wettstein, in urkomischer Grandezza an der Spitze der Dorfjugend daherschreitend mit seinem in den kühnsten Windungen sich durch die Lüfte schlängelnden ellenlangen Haarzopfe, in grotesker Allongenperücke und ungeheurer Brille, wie er vor dem Bürgermeister die Probe der von letzterem gedichteten und von ihm componirten Cantate abhält: 

Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen -
Dideldum - dideldum - dideldum...
(6)

Charles Geisberg und H. Niedecken sangen im Chor in den Reihen der Bässe. Im Mai des Jahres wurde H. Niedecken Vizepräsident des Musikvereins. Charles Geisberg gehörte nicht mehr zu den "Beamten", aber zu den aktiven Sängern und gab im Dezember 1853 im Rahmen der zweiten Operninszenierung, Lortzings  "Der Waffenschmied", den Grafen Liebenau und den Gesellen Conrad. Der Bassist war ein Jahr später in der Oper "Der Freischütz" mit der Rolle des Caspar vertreten und sang im April 1855 die Partie des Orovist aus Bellinis "Norma". Die Rolle eines der Banditen fiel Charles Geisberg im März 1856 zu, als der Verein Flotows "Alessandro Stradella" aufführte.

Eine Wiederholung der "Norma" mit Fräulein Becker in der Titelrolle gehörte zu den musikalischen Ereignissen des Jahres 1857. Im März 1858 erfolgte die Erstaufführung der "Zauberflöte" mit Frl. Becker (Königin der Nacht), Frau Balatka (Pamina und Papgena), Herrn Jacobs (Tamino), Geisberg (Papageno) und Niedecken (Sarastro).

Im Sommer 1858 schwächelte der Verein. Die Chronik registrierte, dass übelwollende Kritiker... einen Leichengesang anstimmten, der aber den Musikverein aus seiner Lethargie aufrüttelte. Ein Promenadenkonzert, welches großen Anklang fand, wurde als Zeichen neuerwachten Lebens gewertet und schließlich brachte am 21. September die Saisoneröffnung mit Haydns "Schöpfung" dem Verein die alte Sympathie wieder zurück. Eine treffliche Aufführung, in der u.a. Fräulein Becker und Geisberg sangen. Beim inzwischen 90. Konzert stand wenige Tage vor Weihnachten 1858 Rossinis "Stabat Mater" mit Frau Geisberg (dem ehemaligen Frl. Becker) auf dem Programm.

Marie und Charles Geisbergs Beteiligungen werden auch für das Jahr 1859 erwähnt, sie als Solistin bei Mendelssohns "Lobgesang", er mit einer Hauptrolle in Sobolewskis "Mohega, die Blume des Waldes". Beim 100. Konzert des Musikvereins im Dezember des Jahres sangen beide Geisbergs im Rahmen der Hauptnummer des Programms:  Rombergs "Glocke" nach Friedrich von Schiller.

Nach dem 107. Konzert des Musikvereins Milwaukee, nahm der musikalische Leiter Hans Balatka nach einem Benefizkonzert im Oktober 1860 seinen Abschied, um nach Chicago zu gehen, wo man ihm die Leitung einer im Entstehen begriffenen Philharmonischen Gesellschaft angeboten hatte.

Im Anhang seiner Chronik veröffentlichte der Musikverein u.a. eine umfassende Statistik der Konzerte mit Namen der Solistinnen und Solisten. Marie Geisberg sang demnach 1861 in Mendelssohn "Der 95. Psalm". 1862 hatten beide Geisbergs eine Rolle in Rossinis "Barbier". 1866 wurde Marie Geisberg für das Finale des "Freischütz" besetzt und im selben Jahr auch für das Finale "Ernani". 1868 trat Frau Geisberg in der Introductions-Scene... aus "Templer und Jüdin" von Marschner auf. 1869 gehörte Charles Geisberg in der Rolle des "Matteo" zum Ensemble der Opernaufführung "Fra Diavolo" von Auber, die bis in Jahr 1870 hinein begeistert aufgenommen wurde. (a.a.O., S. 56)

Mai 2024
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Bildnachweise:
alle Anzeigen: newspapers.com, besucht am 6.02.2021 2021, Copyright ©
1  "Benefiz-Ball" Der Volksfreund (Milwaukee, Wisconsin) · Wed, Feb 6, 1850 · Page 3, 
2  "Großen Masken-Ball" Der Volksfreund (Milwaukee, Wisconsin) · Wed, Feb 6, 1850 · Page 3
3  "Deutscher Männer-Gesang-Verein" Der Volksfreund (Milwaukee, Wisconsin) 12.23., 1847
4  Der Musikverein von Milwaukee 1850-1900, eine Chronik, Hg. Musikverein, Milwaukee 1900. - Umschlag, Ausschnitt, Foto: dg.
5  Collage "Männerquartett" - alle Abb. aus der Chronik, s. Anm. 4, Repros, Bearbeitung und Montage: dg.
6  "Hans Balatka", Wikimedia Commons.
"Creation" Chronik, s. Anm. 4.
"Zar und Zimmermann" Koss, Milwaukee, a.a.O., Blatt o. Seitenzählung, folgt S. 416.
9  "Ehepaar Geisberg", Collage, Abb. aus Chronik, s. Anm. 4,  Repros, Bearbeitung und Montage: dg.

Quellen und Literatur:
(1) Ergänzende Informationen zur Autorin: https://idw-online.de/de/news?print=1&id=34225 und https://history.uchicago.edu/directory/kathleen-neils-conzen zuletzt besucht am 26.03.2024.
(2) Kathleen Neils Conzen, Immigrant Milwaukee, Havard Unversity Press, Cambridge, Massachusetts and London, England 1976. S. 172ff.
(3) Vgl. Conzen, Immigrant..., a.a.O., S. 173: Dr. Franz Hübschmann, Moritz Schöffler, Alexander Conze, Karl Julius Kern, Karl Winkler, Ferdinand Kühn, Dr. Stadtler, Dr. Lüning, Dr. Wunderly, Henry Niedecken, Frederick Fratny, August Greulich, A. Henry Bielfeld und die Herren Wiesner, Stein und Trayser.
(4) Conzen, Immigrant..., a.a.O., S. 284, Anmerkung 27.
(5) Chronik Musikverein, a.a.O., S. 19: ... nur Baltimore war mit einer Aufführung der "Zauberflöte" und New York mit Scenen aus einzelnen Opern vorausgegangen.
(6) Koss, Milwaukee, a.a.O., S. 416.

 
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