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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Henriette Bruns, geb. Geisberg – von Oelde nach Amerika 1836

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Dieter Gewitzsch

Wie schon berichtet, zog die Witwe des Cappenberger Rentmeisters Franz Heidenreich Geisberg, Marianne geb. Westendorf, im Frühjahr 1826 mit ihren Kindern nach Münster. Die „Cappenberger“[1] wohnten unter der Adresse Domhof oder Domplatz, vermutlich in dem Haus Nr. 17. Ein Jahr später folgen die „Oelder“ Kinder. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter ziehen auch sie nach Münster, unweit vom Domhof, zu Onkel und Tante in das Haus in der Neubrückenstraße 22.[2] Nach dem Alter reichte die Spanne unter den dreizehn Vettern und Cousinen von der eben geborenen Therese (Oelde) bis zum 19-jährigen Franz (Cappenberg). Henriette Geisberg erzählt von den familiären Kontakten der nach Münster gekommenen Kinder untereinander und mit den schon in Münster lebenden sechs Kindern der „Tante Boner“ (Ursula Geisberg, verheiratet mit Max Boner).[3]  

Bis 1825, als noch alle Elternteile der drei Familien lebten, trafen sich die in etwa gleichaltrigen Vettern und Cousinen über mehrere Jahre hinweg im September zur Erholung in der Vakanz [Schulferien] in Oelde. Mehrmals nahm Jettes Vater den Nachwuchs mit auf die Runde des Steuerempfanges nach Liesborn und Jettes Cousine Marie (Cappenberg) und der Vetter Max Boner (Münster) durften dabei sein. Eine andere Tour führte nach Münster und war äußerst ergötzlich. Diesmal wurde Jette von ihren beiden Brüdern (vermutlich Franz und Heinrich) und den Vettern August Boner und Carl Geisberg begleitet. Auf ihre Kindheit in Oelde zurückblickend, schreibt Jette 1868: Wir Kinder hatten eine glückliche Jugendzeit.

Jettes Erziehung war sicher von den Standards ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit bestimmt, wäre aber mit typisierenden Begriffen wie „höhere Tochter“ oder „Mädchen aus besserem Hause“ zu allgemein beschrieben. Im Folgenden sollen deshalb die schulischen und erzieherischen Elemente aufgeführt werden, die für Jettes Ausbildung überliefert sind.

In der Schule lernte ich, glaub‘ ich, gut, erinnert sich Jette, die mit dreizehn Jahren aus der Elementarschule entlassen wurde. Bis dahin interessierte sie sich zu Hause für die Pflanzen im Garten und die häusliche Musik; sie lernte früh, ein Instrument zu spielen und wurde im Gesang unterrichtet. Die Großmutter hatte einen Flügel hinterlassen und Jette sang mit ihrer Mutter im Duett. Sie denkt zurück an den ernsten Vater, der viel las und über eine bedeutende Bibliothek verfügte. Gärtnerische Techniken vermittelte auch die Schule; die größeren Knaben und Mädchen [wurden] im Bäumepfropfen unterrichtet. Die Kinder lernten nach Noten zu singen und unterstützten den Gesang im Gottesdienst. Mit der Literatur kam Jette über den Umgang mit den Töchtern eines Chrirurgus in Kontakt, dessen Witwe immer Bücher zum Lesen hatte. Wenn auch Manches über unsren Horizont ging, findet sie später, hätten die Mädchen doch von dem Angebot profitiert. 

Um die Jahreswende 1827/28 wurde Henriette (Jette) dann zur höheren Ausbildung nach Münster geschickt und zog bei Onkel Adolf Geisberg und Tante Therese Lohkampf in das Haus in der Neubrückenstraße 22 ein. Jette lernte nähen und hatte bei einem Kaplan mit fünf anderen Mädchen Privatunterricht in Weltgeschichte, Geographie und Aufsatz. Auf dem Weg zum Aegidi-Pastorat traf sich die Gruppe zunächst bei Marie Geisberg auf dem Domhof. In der Martinischule wurden sie in Französisch, Musik und Zeichnen unterrichtet. Im Winter standen Tanzstunden auf dem Plan und im folgenden Jahr lernte Jette morgens kochen. – Die älteste der Oelder Geisbergs blieb zwei Jahre in Münster. Wenn sie sich einsam fühlte, suchte sie ihre Verwandten auf, ging dann zu Boners oder den Kappenberger Geisbergs. Mit ihrer ein Jahr älteren Cousine Marie verband sie nach eigenen Worten eine enge Freundschaft. Wir waren immer zusammen.

Über die damalige „Töchter-Erziehung“ schreibt Friedrich Kohlrausch[4], der bis 1830 Schulrat in Münster war, auch er habe, weil es eine öffentliche höhere Töchterschule noch nicht gab, den Unterricht für seine Töchter durch Privatlehrer ertheilen lassen. Es sei ihm wichtig gewesen, dass die Familien der Mitschülerinnen, ähnlichen Sinnes waren und seine Liebe für das Einfache und Natürliche teilten. Privatinstitute lehnte Kohlrausch ab, sie seien zu teuer und es herrsche in ihnen ein verwöhnter Sinn, der Ueberschätzung der Aeußerlichkeiten, Eitelkeit und Hochmut begünstige. Freilich hätten seine Töchter dabei manche Luxusartikel im weiblichen Unterrichte ... nicht mitbekommen, sich aber stattdessen einen lebendigen Trieb zum Wissen bewahren können.[5]

Bevor Henriette Geisberg nach Oelde zurückkehrte, legten Onkel und Tante Wert darauf, die Nichte auf eine Art Bildungsreise mitzunehmen. Immer extra Post sei man gereist, erinnert sich Jette fast vierzig Jahre später. Von Köln aus habe man den Rhein hinauf alles Sehenswerte ... mitgenommen: Stolzenfels, Bingen, Rüdesheim und schließlich Mainz. Die Reisenden verweilten zur Messezeit etwas länger in Frankfurt, wo Paganini ... seine weltberühmten Konzerte [gab]. Letzte Station war Kassel. Doch so sehr sie die Erlebnisse auch beeindruckten: Jette fühlte sich in Oelde wohler, wo sie leicht bekannt war und intensiver am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Offenbar zog sie ein Dabeisein im kleinstädtischen Format dem Bemühen um Akzeptanz bei den besseren Kreisen der Provinzhauptstadt vor. Auch damit erfüllte die junge Dame die unterschwelligen Erwartungen der Verwandtschaft hinsichtlich ihrer gesellschaftliche Positionierung nicht so ganz. Die Diskrepanzen traten deutlicher zutage, als im Frühjahr 1830 bekannt wurde, dass die junge Frau „Umgang“ mit Dr. Bernhard Bruns habe und nicht abgeneigt sei, den fünfzehn Jahre älteren Mann zu heiraten. In Jettes Erinnerung blieb haften, dass sie von ihrem Onkel Caspar[6] bitter mit dem Hinweis getadelt wurde, wie sie, ein 16-jähriges Mädchen, ... [sich] mit solchem Umgang schade. Das müsse aufhören, habe der Onkel gefordert und auch ihrem Vater entsprechend zugesetzt. Warnend führte man an, dass der Tod ihrer Mutter auch einer frühen Heirat zuzuschreiben sei.

Cousine Marie wurde geschickt, um Jette auf andere Gedanken [zu] bringen, aber die Freundin wechselte die Seiten und stützte die Pläne der Heiratswilligen. Den Sommer über rahmte eine Schar junger Damen die „bedrohte“ Jette ein, vielleicht von sorgender Hand arrangiert, jedenfalls gesellschaftlich akzeptiert. Den Winter 1830/31 sollte sie dann bei Tante Therese in Münster verbringen, damit sie etwas von der Welt sehe. Für den „guten Zweck“ strengte sich die Familie schon an: Jette wurde ausstaffiert und kam häufig aus. Mit Marie ging sie zum Musikverein und mit Onkel und Tante zum Civilclub. Onkel Caspar beschenkte uns oft mit Billets für die Oper, notiert sie später und kommt zu dem Schluss: Es wurde alles getan, um mich aufzumuntern.

Alle Versuche, die junge Frau in eine „standesgemäße“ Richtung zu dirigieren, scheiterten, halfen nicht, den gewählten Partner aus dem Spiel zu bringen, oder wie Jette es ausdrückte: Die Opposition brachte mehr Bestimmung in unser Verhältnis. Und bevor es richtig Winter wurde, machte der Tod des Vaters im November 1831 den Plänen der Verwandtschaft ein Ende. Die Geschwister aus Oelde waren jetzt Vollwaisen. Die Vormundschaft teilten sich Heinrich Hüffer (Bruder der Mutter) und Caspar Geisberg (Bruder des Vaters).

Die nur wenige Tage nach dem Tod des Vaters 18 Jahre alt gewordene Jette Geisberg ließ keine weitere Zeit verstreichen und ging gegenüber der Verwandtschaft in die Offensive. Noch im Dezember des Jahres bestätigte sie dem Vormund Caspar Geisberg ihre Absicht, Dr. Bernhard Bruns zu heiraten. Jette versicherte, dass beide in ihren Plänen nicht unbedachtsam, sondern mit ruhiger Überlegung zu Werke gegangen sind. Ihnen sei klar, dass sie wenig Vermögen hätten, aber Bruns habe ihr versichert, dass er genug zu leben habe und hinlänglich eine Frau ernähren könne. Es sei gewiss nicht der leichte Entschluß eines Augenblickes.[7]

Inzwischen gingen auch die Vormünder davon aus, dass Jette im kommenden Frühjahr heiraten werde. Ihre Übereinkunft fasste Heinrich Hüffer zusammen:[8] Der Haushalt in Oelde sollte so lange fortbestehen, bis Jette ihn übernehmen könne, zumal sie darauf dringe, später die beiden Geschwister – Johanna u. Wilhelm bei sich zu behalten. Falls gewünscht, boten Hüffers an, Jette bis dahin zu sich nehmen. Andererseits müsse die junge Frau Oelde nicht verlassen, da die Demoiselle Piepmeyer ihr im aelterlichen Hause zur Seite stünde. Oheim Hüffer versicherte, dass man auf mütterlicher Seite allgemein glaube, dass Jettens Aufenthalt daselbst nicht anstößig sein könne. Der gute Ruf der Heiratswilligen war gesichert.

Anfang Februar 1832 bestätigt Jette der väterlichen Seite noch einmal ihren Entschluss, Bruns zu heiraten und bittet ihren Onkel Caspar um Rat, welcher Termin wohl der geeignete sei.[9] Nach der Verbindung wolle man das Haus und ein oder zwei Gärten übernehmen. Eine Inventur sei gemacht worden und sie (Jette) nähme als „Aussteuer“ die zu einem einfachen Haushalte erforderlichen Sachen zu einem günstigen Preis. – Henriette Geisberg heiratete am 24. Mai 1832 den Arzt Dr. Bernhard Bruns aus Oelde.

Der Absprache der Vormünder entsprechend blieben die jüngeren Geschwister Johanna und Wilhelm bei den Bruns‘ und um die jüngste Schwester kümmerte sich Tante Therese (Lohkampf), die angeboten hatte, die kleine Therese ganz zu sich zu nehmen. Um die älteren Jungen – Franz, Heinrich, Bernhard – kümmerte sich Caspar Geisberg, den Jette in ihren Erinnerungen als „treusorgend wie ein Vater“ beschreibt, und in dem sie später einen Halt für die Geschwister sieht, als sie selbst fern war.[10]

Sicher, es gab Meinungsverschiedenheiten, aber die Familie duckte sich nicht vor ihrer Verantwortung gegenüber den elternlosen Nichten und Neffen weg. Doch noch kamen die Onkel und Tanten („Elterngenration“) nicht zur Ruhe. Nur fünf Monate nach Jettes Hochzeit im Mai 1832 und den für die Oelder Geisbergs getroffenen Regelungen, starb am 17. Oktober 1832 die Witwe des Cappenberger Rentmeisters im Alter von 56 Jahren. Marianne (Jenny) Geisberg geb. Westendorf hinterließ weitere vier minderjährige Waisen: die 20jährige Marie (*1812), die 16jährige Johanna (*1816), den 15jährigen Carl (*1817) und die 13jährigen Antonie (*1819).  Wieder war in erster Linie Onkel Caspar Geisberg gefragt. Im Dezember des Jahres verpflichtete das „Pupillen-Collegium Münster“ den Ober-Landes-Gerichts Archivarius [Caspar] Geisberg als Mit-Vormund über die minderjährigen Kinder des verstorbenen Rentmeisters Lieut. Franz Geisberg.[11] Zu diesem Zeitpunkt rückt Carl Geisberg, der Patensohn des Freiherrn vom Stein wieder ins Blickfeld, dessen Weg als „Charles Geisberg“ später ausführlich verfolgt werden soll.

Verweilen wir noch eine Weile in Oelde. Bruns war als Arzt nötig, und ich bemühte mich die Hausfrau vorzustellen, erinnert sich Jette an die Anfänge ihrer Ehe. Ihre Gemeinsamkeit empfand sie als glücklich, wozu nicht wenig beitrug, dass ihr Mann den Geschwistern so gut war. 1833 kam ihr erstes Kind, Hermann[12], zur Welt. Die Praxis war noch sehr weitgehend und Bruns durfte sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen, es blieb aber eine gewisse Unzufriedenheit, deren Ursache Jette darin sah, dass Dr. Bruns sein Einkommen von armen Leuten einfordern musste. Damals sei Auswanderungslust in der Luft gewesen, befördert durch die Berichte von Duden, v. Martels, Löwe [d.i. Gustav Löwig] und anderen[13]. Bruns habe sich vermehrt darüber unterrichtet und sie beide hätten viel davon gesprochen.[14]

Auswandern wurde für die junge Familie eine Option und aus Jettes Briefen wissen wir, was den Arzt Dr. Bernhard Bruns 1835 bewegte, seine Zukunft im fernen Missouri zu suchen. Zu Beginn des Jahres 1835 schreibt die 21jährige Jette ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Heinrich Geisberg und zeigt dabei ein klares Empfinden für die eigene Lage und eine realistische Einschätzung der sie umgebenden Verhältnisse. 

Die Geisberg aus Oelde flohen nicht aus Angst vor eigener Armut. Ein absolutes Müssen bewege sie nicht, über Auswandern nachzudenken, schreibt Jette. Bruns habe eine gute Praxis und sitze dort keineswegs still. Er ließe sich auch nicht so leicht verdrießen, habe es aber satt, seinen Verdienst zu erpressen. Dass seine Patienten nicht zahlen können, belaste den gut beschäftigten Arzt nicht nur finanziell. Ihn bedrücke, dass er fast die Hälfte, der mit dem Betrieb der Praxis verbundenen Mühe darauf verwenden müsse, Geld einzutreiben. Und wenn gezahlt werde, dann wisse Bruns nur zu gut, dass der arme Schuldner an Mangel leide, und sich oft das Wenige entziehen müsse, was ihn früher gegen Not schützte. Hoffnung auf Besserung hegten Jette und Bernhard Bruns angesichts der der verbreiteten Armut nicht, sie fürchteten eher eine Verschlimmerung der Lage. Zurzeit könnten sie recht anständig leben, ohne gerade Überfluß zu haben, versichert Jette ihrem Bruder, aber die Aussichten empfand die junge Frau entmutigend. Zu sehr sei die Zukunft der Familie von der Gesundheit des Mannes abhängig.

Jette sorgt sich um ihr Kind und künftigen Nachwuchs: Oder auch, wir haben Hermann! Ich wünsche und hoffe auch, daß uns der liebe Gott mit noch einigen Kindern beglücken werde! Was haben wir für Aussichten, diese, oder wäre es auch Hermann allein, diese standesmäßig erziehen zu lassen und ihn ebenso versorgt zu wissen? Dies allein müßte uns bewegen; denn wie lange Jahre damit hingehen, ehe ein junger Mann einen eigenen Herd haben kann, nachdem er die erforderlichen Studien vollendet hat, sei es in jedem erdenklichen Fache, weißt auch Du, vielleicht besser als ich; und wie manche Eltern seufzen schon bei der Wiege und sind besorgt, wie sie die Kleinen heran bringen sollen. Dies Alle ist nun nichts besonderes, und sagt es wohl jeder Auswanderer Dir vor. Aber ich wollte nur damit sagen, daß man auch ohne dürftig zu sein, wohl hinlänglichen Grund hat, diese Reise zu unternehmen; und ohne gerade ein glänzendes Loos zu suchen und zu erwarten. Ich kann sagen, daß meine Erwartungen nicht zu hoch gespannt sind, Wenn ich mir nur denke, daß man dort 1stens fast Steuer frei ist, dann sich billig ankaufen und anbauen kann, daß der fruchtbare Boden den Bedarf der Haushaltung hinlänglich liefert, daß die übrigen Bedürfnisse ganz nach eigenem Gutdünken eingerichtet werden können, ohne sich um Stand und Verhältnisse zu kümmern. Dann finde ich wenig mehr zu besorgen, und die Praxis hielte uns für dies Wenige, was übrig bliebe, hinlänglich schadlos. Ich meine doch immer, es kann uns bei unsern bescheidenen Wünschen nicht übel gehen.[15]

1835 bereitete Bernhard Bruns eine Reise nach Amerika vor. Der Arzt aus Oelde wollte zunächst allein nach Amerika reisen, um die Lage dort zu erkunden und im günstigen Fall den Nachzug seiner Familie vorzubereiten. Ihre Pläne wollten Bruns und Jette nicht an die große Glocke hängen, mussten aber bald erfahren, dass alles, was sie dem Onkel in Münster anvertrauten, bald in der Familie die Runde machte. Selbst die Äußerungen Caspar Geisbergs enthielten genug Mißbilligendes, klagt Jette ihren Bruder[16], und einiges berühre sie empfindlich, doch sei sie nicht wankend geworden. Ende Mai erhielt Bruns seinen Pass und damit war das größte Hindernis für die Reise aufgehoben, von der in Oelde inzwischen jeder wusste und über die Jette jetzt auch offen sprach. –  Dr. Bernhard Bruns reiste auf der „Elise“, verließ am 12. Juni 1835 Bremen und erreichte am 6. August des Jahres Baltimore.[17]

Jettes Überlegungen bezogen immer die Geschwister ein, für die sie sich eine gesicherte Zukunft wünschte und die sie am liebsten alle mit nach Amerika genommen hätte. Anfang Juli 1835 schreibt sie Ihrem Mann[18], der noch auf dem Schiff unterwegs war, dass selbst Onkel Caspar damit rechne, dass einige Geschwister mitgehen und die 13-jährige Johanna wolle auch gleich mitkommen. Ernsthafter bittet sie ihren Mann, die Aussichten für ihren Bruder Heinrich zu erkunden. Bruder Bernhard, um den sie sich besonders sorgt, sei erst einmal bei Herrn von Bruchhausen gut aufgehoben und wenn er ihnen später folge, sei er geborgen.

Im Herbst 1835 hatte Bernhard Bruns den Ort gefunden der ihm ganz und gar gefiel und von dem er glaubte, dass er auch seiner Frau zusagen wird. Im Staate Missouri, dreißig Stunden von St. Louis entfernt an einem Fluss, so groß wie die Ems bei Warendorf, hatte ihm die Landschaft so gefallen, dass er beschloss, dort mit seiner Familie wohnen zu wollen. Das Angenehme des Platzes, berichtet er Jette, sei der fruchtbare Boden, die Lage am Fluss, Brenn- und Bauholz und gutes Quellwasser. Er werde als Arzt viel Arbeit bekommen, weil die ganze Gegend bei ihm bleiben wolle und der nächste Arzt fünfzehn Meilen entfernt in Jefferson wohne. Und was für Dich sehr angenehm sein wird, es wohnen rund um uns herum mehrere deutsche Familien. Er wolle im Januar (1836) zurück sein und bis dahin ein Wohnhaus bauen, ein gutes Gebäude mit einem Garten dran.[19]

Bruns kehrte am 13.01.1836 von seiner Erkundungsreise zurück und seine Berichte fanden auch bei denen großes Interesse, die America nichts angeht, wie Jette meinte. Sie sprach von ungewohntem Treiben im Hause und fürchtete, dass ihr Mann zu viel in Anspruch genommen werde.[20] Dr. Bernhard Bruns hatte sich im Westphalia Settlement Missouri eingekauft und folgte damit auch dem Beispiel und dem Werben seines Bruders[21], der sich auch für die Gegend entschieden hatte. 

Ihren Brüdern Franz und Heinrich offenbart Jette, wie ihr Bruns‘ Dispositionen gefielen:
Ich hätte es mir da, wo Bruns sich angekauft hat, wohl bequemer und lebhafter gedacht, aber obschon rund herum auch Amerikaner wohnen, so sind gerade da, wo wir wohnen werden, nur deutsche Ankömmlinge zusammen. Aus Allem geht aber hervor, daß eine große Einheit da herrschen muß, und zu leben hatten Alle genug. Die Entbehrungen, deren es anfangs viele gab, trugen sie gemeinschaftlich, hatten tausend Spaß dabei, manche frohe Stunde verlebten sie in reger Thätigkeit zusammen. Eine Kirche wird den Mittelpunkt bilden, ein deutscher Geistlicher den Gottesdienst verrichten. Einen Lehrer gibt’s auch schon und einen Schuhmacher. Wenn wir ankommen, wird unser Haus schon in etwa eingerichtet, obschon Bruns, um Kosten zu sparen, es langsam treibt und nur ein Zimmermann Kolk aus Lohne, Keiser aus Boesfeld (Kirchspiel Herzebrock) mit dem Bruder daran beschäftigt sind. Mir ist Alles recht. Ich glaube, daß ich mich recht gut begnügen kann.[22]

Als Jettes eigene Abreise näher rückte, bestätigt sie ihrem Onkel Caspar, dass sie die Brüder Franz und Bernhard mitnehmen wolle. Heinrich sei fast erwachsen, er soll dem Onkel bei der Aufgabe die anderen Geschwister zu versorgen und zu betreuen, zur Hand gehen. Schließlich bittet sie um Verzeihung, dass sie ihrem Mann folge und sich der Verpflichtungen entziehe, die sie als Aelteste und AlleinVersorgte gegenüber ihren Geschwistern habe. Ihr Brief vom 28. April 1836 endet mit den Zeilen: So leben Sie nun wohl, theurer Onkel, stets werde ich Ihrer gedenken. Vergessen Sie, nochmals bitte ich, meine Geschwister nicht und halten Sie lieb
Ihre von ganzem Herzen liebende Cousine Jette[23]

Bei aller Herzlichkeit, drei Wochen später musste Jette ihren Bruder Heinrich bitten, dem Ohm Caspar ihre Bedenken bezüglich Ausstattung und Versorgung des behinderten Bruders Bernhard schonend beizubringen. Der Vormund ging offenbar davon aus, dass die auswandernden Geschwister mit eigenen Mitteln reisen und sich etablieren können, um dann von ihrer Erwerbsarbeit zu leben. Beides war aber von Bernhard nicht zu erwarten, der nach Jettes Worten doch immer Minorenne bleibe. Also habe Bernhard Anspruch auf einen Teil der „Masse“, die für die Versorgung der noch minderjährigen Geschwister zur Verfügung stünde. Der ältere Bruder Franz bestreite die Reisekosten vom Seinigen und könne ebenso wenig wie sie selbst für Bernhard aufkommen. Unter diesen Umständen wäre es ihr nie eingefallen, einen aller Ausbildung noch bedürfenden Bruder wie Bernhard mitzunehmen. Ebenso fern sei es ihr jedoch, Bernhard jetzt sitzen zu lassen.[24]

Am 12. Juli 1836 trat die Gruppe um Jette mit der Brigg Ulysses die Reise von Bremerhaven nach Baltimore an, wo sie am 19. September ankamen. Am 2. November des Jahres 1836 erreichte mit ihrer Familie Westphalia in Missouri.[25]

Carla Schulz-Geisberg[26] schreibt über die Auswanderung ihrer Vorfahren: Als sie sich 1836 in die unbekannte Welt aufmachten, überwogen sicherlich wirtschaftliche und existenzielle Überlegungen. Aber damals lag auch die Lust, sein Glück in der neuen Welt zu suchen, in der Luft. ... Jettes Mann (Dr. Bruns) steckte voller Abenteuerlust, und seine politische Neigung, nach Freiheit strebend, bestärkte ihn gewiß darin. Seine liberale Gesinnung bekannte er, als er am 28. Oktober 1848 an [seinen Schwager] Heinrich schrieb: „Bei Gott, es tut mir leid die Idee ausgesprochen zu sehen, daß Ihr noch keine Republik vertragen könnt. Solange noch nicht, bis politische Freiheit alle wahrhaft freigemacht und der Unterschied der Länder, der Stände, der Bildung in etwa ausgeglichen, – nein, das ist zu arg, wenn ihr darauf warten wolltet.“[27]

Oktober 2020
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Abbildungen:
Alle Reproduktionen (Ausschnitte und Bearbeitungen): Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, Ein Auswanderinnenschicksal in Briefen und Dokumenten - Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf, Band 21, Warendorf 1989. 

[1] Henriette Bruns, „Jette“, verwendet „Cappenberger“ als Sammelbegriff für ihre Vettern und Cousinen, mit denen sie familiäre Kontakte unterhält. – Die Bezeichnung wird zur Vereinfachung übernommen, ebenso wie „Oelder“ als Bezeichnung für die Kinder des Max Friedrich Geisberg.
[2] Unter „Haus Nr. 192“ sind die Brüder Caspar (*1782) und Bernhard Geisberg (*1776) und deren Schwägerin, die Witwe Adolf Geisbergs, Therese Lohkampf (*1788) im „Einwohnerverzeichnis“ eingetragen. Hier wohnten auch die Kinder des ältesten Bruders Max Friedrich (*1774, †1831): Heinrich (*1817), Wilhelm (*1824) und Therese (*1826). – Das Haus befand sich in der Neubrückenstraße 22, als Eigentümer wird der „Domainen-Rentmeister Adolph Geisberg“ genannt. – StA Münster, Bestand Stadtregistratur, Fach 16 Nr. 8b, Einwohnerverzeichnis der Stadt Münster nach Leischaften.
[3] Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, Ein Auswanderinnenschicksal, a.a.O., S. 365ff. – Lebenserinnerungen – verfaßt um 1868. Wenn nicht anders zitiert, folgt die Darstellung folgt diesem Text.
[4] Heinrich Friedrich Theodor Kohlrausch (*15.11.1780, †30.01.167) Pädagoge, 1818 Schulrat in Münster, 1825 – 1829 Direktor des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Münster. – 1830 berief die hannoversche Regierung Kohlrausch als Oberschulrat und Generalinspektor der gelehrten Schulen, später Königlich Hannoverscher Generalschuldirektor.
[5] Kohlrausch, Friedrich, Erinnerungen aus meinem Leben, Hannover 1863, S. 323.
[6] Caspar Geisberg (*1782, †1868) wohnte als Junggesell im Hause seines Bruders Adolf (…) in der Neubrückenstraße und war damals Ingrossator und Archivar am Oberlandgericht in Münster. – Stein, BuaS Bd. 6, S. 948.
[7] Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, a.a.O., S. 46 ff. – Brief vom 10.12.1831.
[8] Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, a.a.O., S. 48 f. – Brief vom 15.12.1831.
[9] Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, a.a.O., S. 52 ff. – Brief vom 06.02.1832.
[10] Schütter (Hrsg.), Carla Schulz-Geisberg, a.a.O., S. 372.
[11] LAV NRW W – Sammlungen / Nachlässe, Geisberg (Dep.) Nr. 214 – Urkunde vom 11.12.1832.
[12] Zitat bei Schütter, Schulz Geisberg, Ein Auswanderinnenschicksal, a.a.O., S. 57: (2) Jettes Sohn Hermann wurde am 20. Oktober 1833 in Oelde geboren.
[13] Duden, Gottfried, Bericht einer Reise zu den westlichen Staaten Nordamerikas, Elberfeld 1829; Martels, Heinrich v., Briefe über die westlichen Theile der vereinigten Staaten von Nordamerika, Osnabrück 1834; Löwig, Gustav (Kaufmann in Philadephia), Die Freistaaten von Nord-Amerika. Beobachtungen und praktische Bemerkungen für auswandernde Deutsche, Heidelberg und Leipzig 1833.
[14] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 372.
[15] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 56 f.
[16] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 57 f. – Brief vom 18.03.1835.
[17] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 58, Anm. 2.
[18] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 59 f. – Brief vom 05.07.1835.
[19] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 62 f. – Brief vom 03.10.1835.
[20] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 66 f. – Brief vom 18.01.1836.
[21] Hermann Bruns (*1811, †1876), Farmer in Westphalia, Missouri, ∞ 1840 mit Anna Lückenhoff (*1819, †1859).
[22] Schütter, Schulz Geisberg, Ein Auswanderinnenschicksal, a.a.O., S. 66 f. – Schreiben vom 18.01.1836. Dazu Anm. 2: Theodor Kolk, der 1835 Land in Osage County erwarb, und Bernhard Kayser (oder Keiser) wurden zusammen mit dem Bruder von Bernhard Bruns, Gerhard Hermann Bruns ... auf der Schiffsliste der Elise geführt, die 1835 von Bremen nach Baltimore fuhr und dort am 6. August des Jahres ankam.
[23] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 67 f. – Brief vom 28.04.1836.
[24] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 67 f. – Brief vom 18.05.1836.
[25] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 9.
[26] Carla Schulz Geisberg ist die Enkelin Heinrich Geisbergs (*1817, †1885). Henriette Geisberg ist die Großtante der Herausgeberin ihrer Briefe.
[27] Schütter, Schulz Geisberg, a.a.O., S. 10 f.

 
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