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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Leo Geisberg, geb. 1863 in Milwaukee

Dieter Gewitzsch

Leo Geisberg wurde am 18. November 1863, abends um 20 Uhr in der Stadt Milwaukee geboren. Die Geburt wurde am 18. Juni 1878 in die „Registration of Births“ aufgenommen und von einem Dr. Kissling als wahr bestätigt. Der Name der Mutter wurde mit Maria Anna Becker angegeben und als Vater der Händler Carl Geisberg eingetragen.(1)

Die Ausstellung eines amtlichen Dokuments wurde wohl von Charles Geisberg betrieben. Als seine Geburt registriert wurde, lebte Leo Geisberg schon zwei Jahre in Europa; er hatte als Zwölfjähriger im Mai 1876 mit seiner Mutter die Vereinigten Staaten verlassen. Leo lebte in Bonn und besuchte die „Kortegarn’sche Realschule“. Im Programm des Jahres 1878 wird er als Schüler der „Unter-Tertia“ mit dem Eintrag *83. Leo Geisberg aus Milwaukie aufgeführt. Das Sternchen zeigt an, dass er als Zögling in den Institutsgebäuden wohnte. Im Berichtsjahr hatte die Schule 156 Schüler, 72 evangelisch, 71 katholisch und 13 israelitisch. 104 Schüler besuchten nur den Unterricht, 52 waren Internatsschüler. Nach der Herkunft war die Schülerschaft „international“, der Amerikaner Leo Geisberg war nicht der einzige Ausländer. Die Privatschule bestand seit 38 Jahren, war über zwanzig Jahre eine höhere Handelsschule und 1878 im Begriff, als „Realschule erster Ordnung“ anerkannt zu werden.

Im März 1891 beantragt Leo Geisberg beim amerikanischen Konsulat in München einen Pass und erklärt, dass er der Sohn des in die USA eingebürgerten Charles Geisberg sei und auf dieser Grundlage als amerikanischer Staatsbürger anerkannt werden wolle.(2) Bis 1876 habe er sich ununterbrochen in Milwaukee aufgehalten. Danach habe er in verschiedenen Teilen Europas gelebt und wohne zurzeit in München. Den Pass benötige er für Reisen und denke, im Laufe eines Jahres in die Staaten zurückzukehren, um dort zu wohnen und den staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen. Der Vorgang wird unter Nr. 836 von der amerikanischen Botschaft Berlin abgewickelt.

Leo Geisberg heiratet in erster Ehe Elisabeth Kietz (1891)

Leo Geisberg war bei Antragstellung 26 Jahre alt und stand kurz vor seiner Vermählung, die knapp zwei Monate später, am 22. Mai 1891 in Dresden stattfand. Dort heiratete der 
Tonkünstler Leo Geisberg, *18. Nov. 1863 zu Milwaukee in Nordamerika, altkatholischer Religion, Sohn des Kaufmanns Karl Geisberg (verstorben zu Boppard am Rhein) und dessen Ehefrau Maria Anna geborene Becker (wohnhaft zu München) die
Haustochter Johanna Dorothee Elisabeth Kietz, *14. Sept. 1863, evangelisch-lutherischer Religion,... wohnhaft zu Dresden, Wintergartenstraße 3, Tochter des Bildhauers, Professor Gustav Adolf Kietz und dessen Ehefrau Maria Wilhelmine geborene Bickelmann, beide wohnhaft zu Dresden.


Ein gutes Jahr später, im Juni 1892, kam Tochter Eva in München zur Welt. 


Gustav Adolf Kietz war ein anerkannter Künstler, der in den frühen 1840er Jahren an der Dresdner Kunstakademie studierte, bei Gottfried Semper das Fach Architektur belegte und sich dann dem Modellieren und der Bildhauerei zuwandte. Sein Lehrer war Ernst Rietschel. Gustav Adolf Kietz war u.a. an der Schaffung bekannter und bedeutender Denkmale beteiligt. Mit Blick auf den Schwiegersohn könnte interessant sein, dass Kietz schon früh mit Richard Wagner bekannt war und  ihn und dessen Familie wiederholt porträtiert hat.(3)

Das Foto stammt aus der Bildersammlung des NÁRODNÍ MUZEUM in Prag. Es dürfte sich um Leo Geisberg handeln, der eines seiner Kinder hält.


Im November 1895 beantragte Leo Geisberg beim Konsulat der Vereinigten Staaten einen Pass für seine inzwischen vierköpfige Familie.(4) Er beruft sich auf das 1891 für ihn ausgestellte Papier und erklärt, dem Text des Vordrucks folgend, dass er in den Staaten ansässig sei und seinen ständigen Wohnsitz in Milwaukee habe. Er sei vorübergehend in Zürich und benötige den Pass, um hier mit seiner Familie zu wohnen. Zur „Familie“ zählte Leo Geisberg seine (Ehe-?) Frau Elisabeth, das Mädchen Eva, geboren am 19. Juni 1892 in München, und einen gerade erst am 11. Oktober 1895 in Zürich geborenen Knaben, den er als „Sohn“ in das Formular eintrug.

Leo Geisberg war im Herbst 1895 (noch) mit Johanna Dorothee Elisabeth Kietz verheiratet, aber lebte er noch mit seiner Frau zusammen? Dagegen spricht die Geburt seines Sohnes Hans Werner Geisberg, der am 11. Oktober 1895 in Zürich das Licht der Welt erblickte und als dessen Eltern Elisabeth Fischer und Leo Geisberg eingetragen sind. Die Tochter Eva aus erster Ehe war offenbar beim Vater und dessen Lebensgefährtin Elisabeth (Fischer), mit der er den wenige Tage alten Sohn hatte. - Leo Geisbergs erste Ehe war gescheitert und wurde am 13. Oktober 1896 durch „rechtskräftige Erkenntnis“ des Landgerichts München geschieden.

Elisabeth Fischer heiratet Leo Geisberg, den Vater ihres Kindes  (1897)

Elisabeth Fischer wurde am 17. September 1871 in Dresden als Tochter des Obersten Friedrich Fischer und seiner Ehefrau Maria Elisabeth geb. Blankensteiner geboren und gehörte der evangelisch-lutherischen Kirche an. Am 8. Februar 1897 heiratete sie den Vater ihres Kindes, den Tonkünstler Leo Geisberg, der ebenfalls das evangelisch-lutherische Bekenntnis angenommen hatte. Bis dahin hatte Paar zwar ein gemeinsames Kind, lebte aber (unverheiratet) getrennt: Elisabeth bei ihren Eltern in Dresden, Oberer Kreuzweg 8 und Leo bei seiner Mutter in Salzburg, Tirol.

1900 beantragte Leo Geisberg eine Pass für sich, seine Frau und zwei Kinder im Alter von drei und sieben Jahren, ohne Namen zu nennen oder Geburtsdaten einzutragen. 1913 war er mit Frau und Sohn Hans Werner unterwegs und 1915 wünschte er die Ausstellung von Papieren nur für sich und seine Frau und nicht für minderjährige Kinder.

Leo Geisberg und der "Bayreuther Kreis" um Richard Wagner

Den eingesehen Dokumenten ist zu entnehmen, dass der Sohn sangeslustiger Eltern aus Milwaukee sein Geld als „Tonkünstler“, „musician“ oder allgemein als „artist“ verdiente.

Über den Musiker Leo Geisberg wurde bisher wenig geschrieben. Zu den Engagements oder Festanstellungen konnten keine Einzelheiten ermittelt werden, aber es gibt Hinweise, dass Richard Wagner im Leben des Leo Geisberg einen erwähnenswerten Platz einnahm.

Leo Geisberg wird im 14. Jahrgang (1891) der "Bayreuther Blätter" Blätter in der Liste der Leser der "Bayreuther Blätter" seit ihrer Begründung 1878 genannt und gehört acht Jahre später mit drei Beiträgen selbst zum Kreis der "Mitarbeiter"(5).

„I. Wagner in Amerika.” (Bayreuther Blätter) 22 (Jg.) 4-5 (Nr., Apr. Mai 1899. 120-126 (S.)
„II. Wagner in Deutschland. Fromme Wünsche eines ‚Fanatikers‘.“ (Bayreuther Blätter) 22 (Jg.) 4-5 (Nr., Apr. Mai 1899. 127-131 (S.)
„Vom Bayreuther Wotan.“ (Bayreuther Blätter) 22 (Jg.) 8-9 (Nr., Aug. Sept. 1899. 285-292 (S.)

Im selben Jahr (1899) veröffentlichte er im „Musikalischen Wochenblatt“ ein von Leo Geisberg verfasstes Gedicht „Zum 22. Mai“, dem Geburtstag Richard Wagners.(6)  

1905 wandte sich eine "Ortsausschuss München" unter dem Motto "Nationaldank für Richard Wagner" mit einem Spendenaufruf an die Bevölkerung. Es ging um die Finanzierung der im Jahre 1913 anstehenden Säkularfeier der weltbefreienden Völkerschlacht bei Leipzig als nationalen Ruhmestag der schönsten Art die mit der Feier des hundertsten Geburtstag Richard Wagners im selben Jahr zusammenfiel. Die Grundlagen für die Verwirklichung dieser schönen Idee seien in der "Richard Wagner-Stipendien-Stiftung" gegeben. - Deren Münchener Ortsausschuss gehörte auch der Tonkünstler Leo Geisberg an.(7)

Der „Bayreuther Kreis“ um Richard Wagner und die „Bayreuther Blätter“ sind Gegenstand zahlreicher Studien, von denen hier zwei erwähnt werden sollen, in denen Leo Geisberg vorkommt.
Winfried Schüler findet seinem 1971 erschienen Buch über den Bayreuther Kreis, dass mehrere noch ungenannte Mitarbeiter der Bayreuther Blätter … größere Ausführlichkeit beanspruchen könnten und nennt an dieser Stelle u.a. Leo Geisberg.(8) Auch die Studie von Annette Hein »Es ist viel 'Hitler' in Wagner« zählt Leo Geisberg zu den fast 450 Mitarbeitern der 1878 von Richard Wagner gegründeten Zeitschrift und listet die oben genannten Beiträge auf.(9)

Leo Geisberg gibt Kurse im Dienst der Werke Richard Wagners

Von 1902 bis 1919 erschienen in der "Allgemeinen Zeitung" und den "Münchener Neuesten Nachrichten" regelmäßig Ankündigungen, dass Herr Leo Geisberg, Tonkünstler und Schriftsteller, in seiner Wohnung, Kaulbachstraße 36/III... Einführungskurse... in den Gehalt und die Form der Wagnerschen Dramen veranstaltet. Die redaktionellen Texte vermitteln eine über die Jahre hinweg beständige Wertschätzung des freiberuflich angebotenen Unterrichts. In späteren Jahre machten der Künstler und hinzugekommene Veranstalter auf die Einführungsvorträge am Klavier aufmerksam.




Elisabeth Geisberg geb. Kiez und ihre Tochter Eva

Die Münchener Neuesten Nachrichten melden in ihrer Ausgabe vom 8. August, dass der Augenarzt Dr. Fritz Engelbrecht in Erfurt mit Fräulein Eva Geisberg in Leipzig, Tochter des Tonkünstlers Leo Geisberg hier, vom Standesamt aufgeboten sind. In Erfurt hatte ein Dr. med. Kurt Engelbrecht in der Marktstraße 11/13 als Augenarzt eine Praxis (Privatklinik).(10)


Evas Mutter, Elisabeth Geisberg, geb. Kietz, arbeitete zu der Zeit als praktische Assistentin der Universitäts-Augenklinik und wohnte in Connewitz in der Mühlholzgasse 40 I., vermutlich mit ihrer Tochter.(11) Später zog Elisabeth Geisberg innerhalb Connewitz um und wohnte als „Privata“ in der Elisenstraße 147.



Hans Werner Geisberg

Kommen wir abschließend noch einmal auf Hans Werner Geisberg, den Enkel des auf Cappenberg geborenen Carl (Charles) Geisberg, zurück. Im Februar 1907 ließ Vater Leo Geisberg die Geburt seines Sohnes in Wisconsin registrieren. Die Behörde bestätigte die eidesstattliche Erklärung des Vaters zur Geburt des inzwischen elfjährigen Hans Werner als direktem Nachkommen eines US-Amerikaners.

Im März 1915 beantragte der inzwischen 19jährige Hans Werner Geisberg beim Generalkonsulat der Vereinigten Staaten ein „Emergency Passport“ genanntes Ausweispapier, um nach Österreich zu reisen. Sein Vater sei ein „native citizen of the United States“ und er selbst ein in München als Student lebender „non resident citizen“. Er habe die Staaten 1902 verlassen und sei bisher nur auf dem 1913 ausgestellten Pass seines Vaters vermerkt. Hans Werner Geisberg leistete den üblichen Treueschwur und versprach, noch im April des Jahres nach München zurückzukommen. Der gewünschte Pass wurde zum alleinigen Zweck der Reise nach Österreich ausgestellt und war nur bis zum 30. April 1915 gültig.


Im Juli 1946 wurde Hans Werner Geisberg vom Münchener Polizeipräsidium in eine Liste eingetragen, die unter dem Titel “Registration of Foreigners and German Persecutees, 1939-1947” geführt wird.(12) Das Formular ist mit der Schreibmaschine ausgefüllt und trägt den handschriftlichen Vermerk „staatenlos“.

Auf der Seite „Münchenwiki“ gibt es den Eintrag, dass Hans Werner Geisberg als Kunstmaler und Bühnenbildner in der Stadt gelebt habe, verheiratet war und um 1960 herum gestorben sei.(13) Seine Wohnung und das Atelier hätten sich am Pullacher Platz 6 im 4. Stock befunden. „Münchenwiki“ weiß von einigen nachgelassenen Aquarellen, alle aus dem Jahr 1950, die Landschaften zeigen und von Bühnenbildern für den gesamten Ring von Wagner.

August 2024
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Bildnachweise:
1  Heiratsurkunde betr. Elisabeth Kietz
2  Porträt Kietz: Bildlizenz CC-BY-NC-SA, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig via europeana.eu – 10.05.2021.
3  Bildersammlung des NÁRODNÍ MUZEUM in Prag.
4  Pass Application 1900 - ancestry.com.
5  Heiratsurkunde betr. Elisabeth Fischer
 Drei Anzeigen: Münchener Neueste Nachrichten (MNN), Nr. 569 vom 04.12.1908, Nr. 511 vom 10.06.1912 und Nr. 137 vom 13.03.1914 - digipress.com.
7  Verlobung Eva Geisberg, MNN Nr. 368 vom 08.08.1911 digipress.com.
8  Zwei Einträge, Leipziger Adressbuch 1911 und 1915, s.u. (10) und (11).
9  Traueranzeige, MNN Nr. 453 vom 30.10.1920 - digipress.com.

Quellen und Literatur:
(1)  Registration of Births 18.11.1863 – ancestry.com.
(2)  Leo Geisberg stellte am 26. März 1891 den Antrag „Person claiming citizenship through naturalization of Husband or parent” – ancestry.com.
(3)  Stadtwiki Dresden: Gustav Adolph Kietz – besucht am 10.05.2021.
(4)  US-Konsulat Zürich, Pass Application No. 21, beantragt 21.11.1895, ausgegeben 26.11.1895 – ancestry.com.
(5)  Eintrag in der ZDB: 213581-4: Bayreuther Blätter : deutsche Zeitschrift im Geiste Richard Wagners ; (Mitteilungen des Verwaltungs-Rates der Bayreuther Bühnenfestspiele, der Deutschen Festspielstiftung Bayreuth, des Allgemeinen Richard-Wagner-Vereins, des R. Wagner-Verbandes Deutscher Frauen, des Bayreuther Bundes und des Bayreuther Bundes der Deutschen Jugend) / hrsg. von Hans von Wolzogen
Bayreuth 1.1878 - 61.1938; damit Ersch. eingest.   

(6)  Musikalisches Wochenblatt, Bd. 30, 1899, S. 309 (Titelseite).
(7)  Allgemeine Zeitung, Drittes Blatt Nr. 235 vom 22.05.1905.
(8)  Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära: Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971, S. 163.
(9)  Annette Hein, „Es ist viel .Hitler"  in  Wagner". Rassismus und  antisemitische Deutschtumsideologie in den  „Bayreuther  Blättern"  (1878-1938).  Niemeyer, Tübingen 1996.
(10)  Adressbuch Leipzig 1915 - Ausschnitt ancestry.com.
(11)  Adressbuch Leipzig 1915 - Ausschnitt ancestry.com.
(12)  Ancestry.com. Free Access: Europe, Registration of Foreigners and German Persecutees, 1939-1947 [database on-line] – besucht am 30.04.2021. 
(13)  muenchenwiki.de/wiki/Hans_Werner_Geisberg – besucht am 14.05.2020.

 
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