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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Hoher Besuch kommt. – Was ist zu tun?

Christel Gewitzsch

Graf von Wedel, von 1875 bis 1905 Landrat des Kreises Lüdinghausen, erwartetet im Juni 1885 auf Schloss Sandfort Besuch von Seiner Excellenz, dem Herrn Staatsminister von Puttkammer, dem streng konservativen Minister des Innern. Dieses Ereignis bedurfte einiger Vorbereitungen.

Da der Minister von Nordkirchen über Selm, vorbei an den Höfen Große Holz und Pentrup, nach Sandfort kommen wollte, erhielt Amtmann Döpper vom Landrat die Anweisung, die Wege, auch die alte Landstraße Selm – Bork, mit dem Wegehobel planieren u. Unordnungen beseitigen zu lassen.(1)

Vier Tage später kam der nächste Brief:
Ew. Wohlgeboren ersuche ich zusammen mit dem Gemeinde Vorsteher, den Herrn Minister des Innern in Selm zu empfangen. Derselbe wird am 24. Juni gegen ½ 3 Uhr auf dem Landwege von Nordkirchen eintreffen. Anzug: schwarzer Rock. Der Polizeidiener ist ebenfalls zur Stelle zu beordern und abends 8.38 zum Bahnhof Selm. Ich würde es für passend halten, wenn auch Sie Sich zu der dann stattfindenden Rückreise Sr. Excellenz dort einfinden. Sie könnten ja den Zug zu Ihrer Heimkehr nach Bork benutzen. Ich bitte Sie zu veranlassen, daß einige Fahnen in Selm herausgehangen werden u. daß die zu passierenden Straßen in ordentlichem u. reinlichem Zustande sich befinden.

Darüber hatte er sich selbst schon einen Eindruck verschafft, denn in einer Randbemerkung fügte Wedel hinzu: Ein Deckstein der Brücke über den Selmer Bache liegt unten im Wasser; die kleine Reparatur läßt sich wohl noch bewerkstelligen.

Bestimmungen bei Reisen Seiner Majestät

Einige Gastgeber hatten in der Vergangenheit bei hohen Besuchen wohl etwas zu viel Eifer an den Tag gelegt. 1840 verbreitete die Regierung eine Allerhöchste Ordre mit dem Inhalt, daß bei künftigen Reisen Allerhöchst derselben die Bewohner der Städte, durch welche die Reiseroute führet, zum Abputzen ihrer Häuser und zu ähnlichen unnützen Kosten verursachenden Vorkehrungen nicht aufgefordert werden sollen.(2)

1890 ließ Kaiser Wilhelm II. mit umfangreichen Bestimmungen über das Verhalten der Civilbehörden bei Reisen Seiner Majestät des Kaisers und Königs, sowie anderer fürstlicher Personen in den Preußischen Staaten(3) die Art und Weise klären, wie er im Land empfangen werden wollte. Schon die Vorbemerkungen erstrecken sich über neun Punkte und beginnen mit der Klarstellung, dass besondere Meldungen oder Empfänge von den Zivilbehörden nur dann stattzufinden haben, wenn sie ausdrücklich angeordnet sind. Zu achten war dann darauf, ob ein großer oder kleiner Empfang befohlen worden war.

Beim großen Empfang war der jeweilige Oberpräsident verpflichtet, sich auf der ersten Station in seinem Bezirk zu melden und den Kaiser auf der weiteren Reise zu begleiten. Am Zielpunkt der Reise mussten erscheinen: die Vorstände der Regierungs- und Justizbehörden, die Vorsitzenden des Provinzial-Landtags, des Provinzial-Ausschusses und des Schulkollegiums, der Landesdirektor, der Präsident bzw. Direktor der Eisenbahndirektion, der Polizeipräsident, der des Konsistoriums, katholische Bischöfe o.ä., der Post- und Steuerdirektor, der Berghauptmann bis hin zu den Gemeindevorstehern und dem Vorsteher der Ortspolizeibehörde. Mehr als 30 Leute kamen dabei zusammen.

Beim kleinen Empfang fanden sich alle am Zielort ein. Ungefähr zehn Beamte waren noch betroffen. Neben dem Ober- und dem Regierungspräsidenten kamen die Repräsentanten der Eisenbahn, der Post, der Polizei und der Gemeinden hinzu. Die Zahl reduzierte sich um die Hälfte, wenn Majestät abreiste.

War die amtierende Kaiserin unterwegs, galten dieselben Vorschriften. Bei einer Kaiserin Witwe und beim Kronprinzen wurde der große Empfang in gleichem Umfang abgehalten, beim kleinen erschien nur der Personenkreis, der ansonsten bei der Abreise anzutreten hatte. Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses wurden bei der Abreise behandelt wie die anderen auch, bei der Ankunft galten die Regeln des kleinen Empfangs.

Für Berlin hatten all diese Bestimmungen verständlicherweise keine Bedeutung, sonst wäre der betroffene Personenkreis nur selten zu seiner eigentlichen Arbeit gekommen. Er musste mit einem Antrittsbefehl rechnen, wenn ein auswärtige Herrscher mit Gemahlin und Anhang erschien. Für diese Fälle gab es aber keine allgemeingültigen Bestimmungen, es wurden besondere Anweisungen für den Einzelfall erteilt.

Besuch des Kaiserpaares

Als 1902 das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf der Hohensyburg eingeweiht wurde, ließ sich Wilhelm II. von seinem Sohn, dem Kronprinzen Wilhelm, vertreten. Im August 1909 sollte dort mit einer Feier der 300-jährigen Zugehörigkeit der Grafschaft Mark zu Brandburg-Preußen gedacht werden. Zu diesem Anlass wurde das Kaiserpaar höchstpersönlich erwartet. Der Besuch warf seine Schatten bis in den Kreis Lüdinghausen voraus. In einem Schreiben an die dortigen Ortsbehörden ging es aber nicht um den formvollendeten Empfang und die angemessene Kleidung, sondern um die Sicherheit der Gäste.

Die Behörden erhielten die Anweisung, im Vorfeld die in den jeweiligen Bezirken sich aufhaltenden Ausländer, Anarchisten und Spione verschärft, aber unauffällig zu überwachen. Insbesondere, sobald irgend eine Anzeichen dafür bemerkbar wird, daß der eine oder Andere von ihnen sich nach auswärts – möglicherweise nach Hohensyburg oder Umgebung – begeben will, sofort zu veranlassen, daß ein geeigneter Polizeibeamter in Zivilkleidung – thunlichst ein Kriminalbeamter – zur ständigen Überwachung nachgesandt wird, die betreffende Person im Auge behält und ihr in unauffälliger Weise überall folgt.(4)

Wenn es nötig erschien, sollten die Personen sofort festgenommen werden. Alle verdächtigen Wahrnehmungen waren darüber hinaus sofort telegrafisch an die Landräte und den Regierungspräsidenten in Arnsberg zu melden.

Für das Amt Bork erwuchs aus dieser Anweisung keine zusätzliche Arbeit.

Ob von den o.g. Personen aktuell eine Gefahr ausging, wird von der Presse nicht mitgeteilt. Für den Kommentator der Dortmunder Zeitung war der größte Aufreger bei diesem Besuch die Berichterstattung der sozialdemokratischen Dortmunder Arbeiterzeitung. In ihr stimmten die Schreiber nicht in den allgemeinen Jubelruf ein, sondern versprachen einen rauen und schrillen Festgruß. Nicht in demütiger Entsagung, nicht in scheuer Ehrfrucht, wie die Opfer von einst, jene sterbenden Gladiatoren in der römischen Arena ihren Zäsar grüßten, grüßen wir den deutschen Kaiser; die Opfer von heute, die Opfer der von Wilhelm II. repräsentierten kapitalistischen Gesellschaft, sind nicht mehr geduldige Tiere, die willig sich zur Schlachtbank führen lassen. Durch ihren Gruß schrillt der Ton aufrechten, steifnackigen Kampfesmutes – es ist der Gruß von Opfern, die keine Opfer mehr sein wollen, der Gruß trotziger Rebellen!(5)

Ablauf der Feier

Anhand dieses Kaiserbesuches zeigt sich, dass die umfangreichen Bestimmungen von 1890 nur den protokollarischen Kern betrafen. Die Ausgestaltung des Besuchs anlässlich der besonderen Feier bedurfte ein Vielfaches an Anstrengung und Vorbereitung.

Die Straßen zur Hohensyburg waren mit Fahnen und Wimpeln dekoriert. Auf der Burg stand ein Baldachin zwischen zwei mit goldenen Adlern gekrönten Säulen, drei Glockenstühle und zwei Masten für die Standarten des Kaisers und der Kaiserin. Tausende von Schaulustigen säumten die Straßen und Krieger-, Schützen und Arbeitervereine, Feuerwehrleute, Schulkinder, Innungsmitglieder, Bergknappen etc. standen Spalier.

In Wetter, wo der kaiserliche Sonderzug eintraf, hatten der Oberpräsident, ein Vertreter des beurlaubten Generals und der Bürgermeister das Kaiserpaar begrüßt. Eine Schülerin der höheren Töchterschule überreichte der Kaiserin einen prächtigen Blumenstrauß, wofür die Kaiserin herzlich dankte. Dann ging es mit Automobilen weiter.

Als in Syburg die Autos in Sicht kamen, fielen einige Böllerschüsse, Hurrarufe der Zuschauer wurden hörbar und die Brieftaubenvereinigung der Mark ließ 3.000 Tauben aufsteigen. Nach der Ankunft schritten Kaiser und Kaiserin, begleitet vom 21-jährigen Prinz Oscar, die Ehrenkompagnie ab. Der Festausschuss und Ehrenjungfrauen begrüßten sie und Fräulein Rauck aus Iserlohn sprach den Festgruß.

Dann begab sich das Paar unter den Baldachin, Posaunenchöre und Gesangsvereine sorgten für die musikalische Untermalung. Nunmehr trat der Dortmunder Oberbürgermeister, Herr Geheimrat Dr. Schmieding, in Majorsuniform mit umgehängter goldener Amtskette, vor den Kaiserbaldachin, um das Kaiserpaar im Namen der Märker zu begrüßen.

Es folgte Graf Korff-Schmising, der im Auftrag der Minden-Ravensberger König und Vaterland, Kaiser und Reich unverbrüchliche Treue versprach. Noch einmal kam der Oberbürgermeister und bot dem Kaiser einen Ehrentrunk an, für den der Kommerzienrat Fleitmann den Becher gestiftet hatte. Der Kaiser sprach einen Trinkspruch, die versammelte Menge stimmte die Nationalhymne an, die Musik spielte und die Glocken läuteten.

Nun machte das Kaiserpaar einen Rundgang um das Denkmal, auf dem 400 Fahnenträger der Kriegervereine, sowie 200 Ehrenjungfrauen Platz genommen hatten. Dabei übergab man die Festschriften der Grafschaft Mark und Ravensberg und Superintendent Präses König aus Witten überreichte eine Adresse. Der Kaiser ging an die Brüstung und genoß von hier den Ausblick in die gesegneten Gefilde der Mark. Die Ehrenkompagnie marschierte am Baldachin vorbei, die „Wacht am Rhein“, „Lützows wilde verwegene Jagd“ und das „Westfalenlied“ erklangen, bevor Kaiser und Kaiserin sich die Ausstellung der Märkischen Kleineisenindustrie ansahen. Deren Vertreter ließ es sich nicht nehmen, ebenfalls eine Ansprache zu halten, bevor er am Schluss ein Geschenk überreichte, an dem 50 Glühlampen symbolisch für das Lebensalter des Kaisers leuchteten.

Alsdann sahen die Majestäten die Vorführungen der Turner an. Von einer großen Schar märkischer Männer und Jünglinge, herrliche, sehnige Gestalten, durchweg in Weiß gekleidet, wurden unter Leitung des Turnlehrers Regener (Dortmund) Frei- und Stabübungen geboten. Die Majestäten waren ob des Gebotenen sichtlich erfreut.

Unter begeisterten Jubelrufen der vieltausendköpfigen Menge stieg der hohe Besuch in die Autos und fuhr nach Schwerte. Zwei Stunden und zehn Minuten waren seit der Ankunft in Hohensyburg vergangen.

Bevor die Majestäten in Schwerte ihren Zug bestiegen, mussten auch dort die Honneurs gemacht werden. Der Kaiser bewunderte die mehrere hundert Jahre alte Fahne des Schützenvereins und plauderte leutselig mit den Schützen. Die Kaiserin unterhielt sich mit den Ehrendamen, die auf dem Weg zum Zug Aufstellung genommen hatten und so lange hatten warten müssen. Auch für die Gattin des Anstreichermeisters Engelhardt blieb noch Zeit. Die Frau war mit ihrem fünfjährigen Sohn gekommen, eines der zahlreichen Patenkinder des Kaisers. Das Kind erhielt einen Teller mit Zuckerplätzchen, die Kaiserin ein Blumenbukett von Fräulein Haver, der Tochter des Sanitätsrats, der Bürgermeister einen warmen Dank vom Kaiser. Dann verabschiedeten sich die kaiserlichen Herrschaften von dem Oberpräsidenten und dem Regierungspräsidenten mit der Bitte, zu sagen, daß der Empfang sie sehr angenehm berührt habe.
Januar 2022
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1. Und folgende Zitate: Stadtarchiv Selm, AB-1 – 1.
2. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen Nr. 504.
3. StA Selm, AB-1 – 1.
4. Stadtarchiv Selm, AB-1 – 567.
5. Und folgende Zitate: Dortmunder Zeitung, 82. Jahrgang, Nr. 402, 10.8.1909 und Nr.403, 11.8.1909.

 
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