aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Theatralische Aufführungen in Selm

Christel Gewitzsch

Um die Bevölkerung mit unterhaltsamen oder belehrenden Theateraufführungen versorgen zu können, bedurfte es einer polizeilichen Erlaubnis. Diese musste beim Amtmann beantragt werden. Nachdem die Gebühren bezahlt waren, stand dem Vorhaben meistens nichts im Wege.

Die Theatergesellschaft

1897 und 1898 wandten sich zwei Selmer Vereine dieserhalb an das Amt. Zuerst meldeten sich die Vertreter der Theatergesellschaft Selm am 3. Februar 1897. Die Herren B. Schütter, G. Eggenstein, Ant. Bauhaus und H. Hüsemann schrieben an Amtmann Busch: Unsere Theatergesellschaft hier beabsichtigt am 7 und 14 Februar d. J. im Stodtschen Saale eine Theateraufführung des religiösen Schauspiels Ave Maria zu veranstalten, und bittet gehorsamst um die polizeiliche Erlaubniß.[1]

Ob Routine oder Misstrauen - mit der Genehmigung verfügte Amtmann Busch, die Aufführungen zu kontrolliert und ihm am 9. und 16. Februar darüber Rapport zu erstatten. Die Charakterisierung als religiöses Schauspiel schützte davor nicht automatisch, denn subversive Absichten hinter harmlosen Bezeichnungen zu verstecken, war eine gern geübte Praxis.

In diesem Fall wird Busch die erteilte Genehmigung nicht bereut haben, auch wenn als Hauptperson ein spanischer Rebellenführer, Don Manuel, auftritt, der zum Schutze der Unterdrückten gegen die Tyrannen[2] zu den Waffen greift. Drei Episoden aus dem Leben eines spanischen Rebellenführers werden auf die Bühne gebracht, begleitet mit Musik und Gesang. Der erste Akt spielt in Spanien, als Manuel und seine Gefolgsleute in die Hände der spanischen Armee geraten. Dem Ratschlag seines väterlichen Freundes Ignatius, die Waffen niederzulegen, folgt er zögerlich, um das Leben seiner Anhänger zu schützen. Als das gegen ihn schon gefällte Urteil vollstreckt werden soll, ertönt ein Ave-Läuten,[3] was den Vollzug unterbricht. Deshalb erreicht ein Begnadigungsschreiben des Königs den Ort des Geschehens rechtzeitig. Manuel bleibt am Leben, muss aber das Land verlassen.

Die beiden nächsten Akte spielen in Frankreich. Manuel ist auf der Suche nach einer neuen Heimstadt. Eine Überfahrt nach England ist gescheitert. Im Wald entkommt er einem Überfall und trifft auf einen Klosterbruder, der ihn mit ins Kloster nimmt. Fünf Jahre lebt er dort als Mönch, dann verlassen ihn die Kräfte und er fühlt sein Ende nahen. Vorher trifft sein spanischer Freund Fernando ein, der ihm die letzten Worte des Ignatius überbringt und im Kloster seine Nachfolge antritt. Als wieder ein Ave-Läuten ertönt, stirbt Manuel. 

Der Verfasser des Stückes, Ludwig Lehnen, gibt den Theaterspielern in vorangehenden Anmerkungen einige Hilfestellungen für die Aufführung. Trotz der Rebellen-, Soldaten- und Mönchsgruppen brauche man höchsten 12 bis 15 Personen, weil einige Schauspieler Doppelrollen spielen könnten. Nur in sechs bis sieben Rollen müssten längere Texte gesprochen werden. Für die Lieder und Musikstücke gab Lehnen die passenden Melodien an und falls für das Ave-Läuten keine Glocke zur Verfügung stand, könne man sich mit einer Stahlstange behelfen. Ein alter Flintenlauf z.B. eignet sich vorzüglich dazu. An Kostümen und Ausrüstungsgegenständen wurden gebraucht: zwei Edelmannskostüm, Degen und Gewehre in größerer Zahl und eine Geige oder Gitarre. Für die Begleitung einiger Musikstücke mit dem Klavier konnten die Theatergesellschaften zum Preis von 1,20 Mark ein Notenbuch kaufen, mit dem alle 200 Hefte der Sammlung „Kleines Theater“ des Kleine Verlags in Paderborn abgedeckt waren. Sollten die Melodien anspruchsvoller begleitet werden, waren beim Verfasser Noten für ein Streichquartett zu erhalten.

Die Kulissen machten nicht viel Arbeit. Erster und zweiter Akt spielen im Wald, nur im dritten war ein kleines Zimmers aufzustellen. Wegen des Szenenwechsels und der Musikeinspielungen konnte auf einen Vorhang nicht verzichtet werden. Für den Fall, dass die Spieler die Musikinstrumente nicht genügend beherrschten, empfahl der Verfasser, einen Musiker in der Kulisse zu verstecken.

Was qualifiziert dieses Stück nun als religiöses Schauspiel? Das Läuten der Glocke an Wendepunkten; die fünf Jahre, die Manuel im Kloster verbrachte oder die Einlassungen seines Freundes Ignatius, der ihn von seinem Widerstand abbringen wollte mit den Worten: Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt und wir müssen ihr in allem, was nicht Sünde ist, gehorchen. Wenn sie auch bisweilen ihre Macht mißbraucht, so geschieht es nur mit Zulassung Gottes, der seine weisen Absichten dabei hat. ... ‚Mein ist die Rache!‘ spricht der Herr; er wird schon alles zum Besten lenken.[4] Auch Manuels letzten Worte: Es geht zu Ende.- Brüder, lebt alle wohl, - droben sehen wir uns wieder[5], bekräftigen das dem Stück zugrunde liegende Gottvertrauen.

Schützenverein

Nicht ganz so ernst begann der Zweigverein des Selmer Schützenvereins im Jahr darauf seine Theaterabende. Hubert Bussmann suchte für den Verein beim Amtmann um eine Genehmigung nach. Am Dreikönigsfest und dem darauffolgenden Sonntag sollten, ebenfalls im Saal des Gastwirts Stodt (später Knipping), drei kleine Stücke aufgeführt werden. Der Reinertrag war für den Neubau der Kirche bestimmt.

Bei den Stücken handelte es sich um das Lustspiel von Hugo Müller Im Wartsaal erster Klasse, um einen Text namens Fridolin oder der Gang zum Eisenhammer und um das Gedicht des Komikers Klemens Mutzhart Das Gespenst um Mitternacht.

Mit Hugo Müllers Einakter hatten die Veranstalter einen gefälligen Einstieg gewählt. Müller, 1831 in Posen geboren, war Schauspieler und Schriftsteller. Er wusste, wie man das Publikum schnell gefangen nehmen konnte und lieferte Gebrauchsstücke zur Unterhaltung. 

Im Wartesaal treten nur drei Personen auf, wobei die dritte, ein Kellner, eine winzige Nebenrolle spielt. Der Ort der Handlung ist eine kleine Eisenbahnstation. Ein Mann, Baron von Wallbach, und eine Frau treffen aufeinander. Beide haben den Zug verpasst und verbringen die Zeit mit Teetrinken und Abwarten. Es entspannt sich zwischen ihnen ein flotter Dialog, mit kleinen Frechheiten und sarkastischen Anmerkungen. In beispielloser Geschwindigkeit entwickeln sie Sympathien füreinander.

Während dieses Geplänkels stellt sich heraus, dass sie Vetter und Kusine sind. Und zwar genau die, die sich gerade auf dem Weg zu einem gemeinsamen Prozesstermin befinden. Vor Gericht soll ein jahrlanger Rechtsstreit zwischen ihnen entschieden werden. Beide erheben Anspruch auf ein kleines Landgut. Diese Entdeckung wirkt als zurückhaltendes Moment, aber in der Kürze des Stückes kann das nicht von langer Dauer sein. Sie erkennen beide, dass sie nur von ihren gewinnsüchtigen Anwälten in diesen Streit getrieben wurden. Der Baron verzichtet auf das Landgut, das er nur für einen verarmten Verwandten beansprucht, und seine Kusine überschreibt die Besitzrechte genau diesem armen Vetter. Am Schluss bittet der Baron um die Hand der Dame mit den Worten: Ich will ja nur ein Wort von Ihnen, das eine, große, entscheidende, ob Sie einen guten, ehrlichen, aber etwas verrückten Kerl durch die Hoffnung auf Ihren Besitz auf den Chimborasso der Seligkeit schleudern wollen.[6] – Ein Happy End folgt.

Als Vorlage für die zweite Aufführung des Abends, Fridolin oder der Gang zum Eisenhammer, kommen mehrere Veröffentlichungen in Frage. Friedrich Schiller hatte 1797 eine dreißig Strophen lange Ballade zu dem Thema geschrieben. Friedrich Reil komponierte 1838 eine romantische Oper in drei Aufzügen. Es könnte auch eine für das Volkstheater bearbeitete Version der Ballade oder der ursprünglichen Quelle, einer Novellensammlung von Rétif de la Bretonne, als Textbuch gedient haben.

Inhaltlich geht es um den frommen Knecht Fridolin, der ganz im Dienst für seine Herrin aufgeht. Sie ist daraufhin voll des Lobes über ihn. Der Jäger Robert, von Neid zerfressen, hetzt den Grafen gegen den Knecht auf. Er macht ihn so eifersüchtig, dass der Graf den Knechten beim Eisenhammer einen Mordauftrag erteilt. Der Mann, der als nächstes zu ihnen kommt und fragt, ob sie das Wort des Herrn befolgt hätten, soll von ihnen in die Eisenglut geworfen werden. Der Jäger schickt daraufhin Fridolin zum Eisenhammer. Da Fridolin aber Knecht der Gräfin ist, fragt er erst bei dieser nach, ob sie einen Auftrag für ihn hat. Die bittet ihn, an ihrer Stelle für ihr krankes Kind die Messe zu hören. Fridolin geht in die Kirche und hilft als Messdiener aus, bevor er sich auf den Weg zum Eisenhammer macht. Dort stellt er die verabredete Frage und bekommt eine bejahende Antwort. Diese überbringt er unverzüglich seinem Herrn. Dem wird klar, als er Fridolin vor sich stehen sieht, dass der Jäger zum Opfer geworden ist. Mit dem Ausruf Gott selbst hat hier gerichtet![7] ist die Angelegenheit für ihn erledigt.

Der Theaterabend in Selm endete mit dem Gedicht Das Gespenst um Mitternacht oder Adele Spitzeder als Geist in ihrer Villa von Klemens Mutzhart aus dem Jahr 1872. In zehn Strophen zu je acht Zeilen, mit Ansätzen von Kreuzreimen, greift Mutzhart die Geschichte der Adele Spitzeder auf, einer Schauspielerin, die mit betrügerischen Bankgeschäften im großen Stil in den 1870er Jahren von sich reden machte. Rund 32.000 Münchener wurden von ihrem Schneeballsystem um ihr Geld gebracht.

Das Gedicht spielt in der Arrestzelle, in der Adele Spitzeder vor ihrem Prozess sitzt. Jeweils um Mitternacht wacht sie auf und sucht ihr Geld. Sie erinnert sich an all die dummen Leute, die aus Gewinnsucht Geschäfte mit ihr gemacht haben und sich von ihrer scheinbaren Wohltätigkeit blenden ließen. Ihre Verurteilung vor Augen, beklagt sie, sich nicht früh genug aus dem Staub gemacht zu haben. In der letzten Strophe bedauert sie die Schande, die sie über ihre Eltern gebracht hat.

In der Realität musste Spitzeder für knapp vier Jahre ins Gefängnis. Danach versuchte sie im Ausland Fuß zu fassen, wo sie aber keine Rollen bekam. Im Gefängnis hatte sie ihre Memoiren geschrieben, die sie, zurück in München, 1878 veröffentlichte. 1895 starb sie, 63-jährig, an Herzversagen.

Juli 2021
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[1] StA Selm, AB-1 – 399.
[2] und folgende Zitate: Ludwig Lehnen, Ave Maria!, Paderborn 1896, S. 6.
[3] morgens, mittags u. abends ertönendes kurzes Glockenläuten als Aufforderung, das Ave-Maria zu beten. https://www.dwds.de.
[4] Lehnen, S. 6.
[5] Lehnen, S. 28.
[6] Hugo Müller, Im Wartesaal erster Klasse, Mühlhausen (1865), S. 30f.
[7] Friedrich Reil, Der Gang zum Eisenhammer, Wien 1838, S. 68, http//books.google.com


 
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