Oberpräsident Vincke - Dienstgeschäfte und Herzensangelegenheiten
Christel Gewitzsch
Wir schreiben den 28. Oktober 1826. Für den Oberpräsident Ludwig Vincke begann der Tag mit große[m] Schrecken wegen einer gar nicht wohl[1] verbrachten Nacht. Gesundheitliche Probleme konnte er zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gebrauchen, denn am nächsten Tag fand die Eröffnung des Ersten Westfälischen Provinziallandtags in Münster statt. Als Landtagskommissar hatte er schon seit einigen Monaten die vielfältigen Vorbereitungen für die Landtagssitzungen treffen müssen und während der Sitzungszeit war er für den gesamten Geschäftsverkehr zuständig. Außerdem hatte er seine Eröffnungsrede noch nicht fertiggestellt. Doch Vinckes Befürchtungen lösten sich auf. Er konnte die zalreich sich meldenden Abgeordneten empfangen, in denen [er] neben vielen lieben alten Bekannten auch mehr neue erhielt; sich mit Stein, der als Landtagsmarschall die Sitzungen zu leiten hatte, zu einem Spaziergang treffen und ihn am Abend mit seiner liebenswürdigen Tochter empfangen. Dass er es danach schaffte, seine Rede zu schreiben, die er am anderen Morgen mit Angst und Noth vollendet[e], nimmt fast Wunder angesichts des tiefen Eindrucks, den die liebenswürdige Tochter bei ihm hinterlassen hatte.
Eleonore
Vincke befand sich insgesamt zu dieser Zeit in keiner günstigen Verfassung. Im Mai des Jahres war seine Frau verstorben. 1806 hatte er Eleonore von Syberg, die 1788 auf dem elterlichen Gut Haus Busch bei Hagen geboren worden war, kennengelernt, indem ein adliger Nachbar und Grundbesitzer der Sybergs den Kontakt vermittelte.[2] Vinckes erster Eindruck von ihr war nicht überwältigend. Nach einem zweiten Treffen zwei Jahre später notierte er aber schon eine gehörige Anzahl positiver Eigenschaften und resümierte: Alles fand ich in Ihr vereinigt, was der vernünftige Mann von der Gefährtin seines Lebens sich wünschen kann.[3] Per Brief machte er ihr im Dezember einen Heiratsantrag, den sie einen Monat später annahm. Die Familien hatten im Hintergrund schon auf eine Entscheidung gedrängt, die von den beiden Brautleuten aber nicht blauäugig getroffen wurde. Vincke sah seinen Konflikt zwischen Staatsdienst und Familienleben voraus und Eleonore befürchtete, als einziges Kind ihre Verantwortung gegenüber ihren Eltern nicht mit ihren Pflichten als Ehefrau in Einklang bringen zu können.
Nachdem Vincke zwischenzeitlich aus dem Staatsdienst ausgeschieden war, heirateten sie im Mai 1810 und richteten sich auf dem ihr übertragenen elterlichen Haus Ickern (heute Castrop-Rauxel) ein. Als sich die politischen Verhältnisse 1813 grundlegend veränderten, rief man Vincke in den Staatsdienst zurück, in dem er – zuerst als Zivilgouverneur zwischen Rhein und Weser, dann als Oberpräsident der Provinz Westfalen – bis zu seinem Tode im Jahr 1844 verblieb. Eleonore hielt ihre Enttäuschung darüber nicht zurück und schrieb ihm: Mein armes kleines Glück hat keinen Raum mehr in Deinem Herzen. Dein öffentliches Leben beginnt nun wieder, und das kleine häusliche, stille und verborgenen Glück muß ihm, wo nicht ganz weichen, doch unendlich zurückstehen.[4]
Mit dieser Einschätzung sollte sie Recht behalten. Auf Vincke kam viel Arbeit zu und er fühlte sich verpflichtet, sie gründlich zu erledigen, zur Not bis spät in die Nacht und früh beginnend. Am Sonntag, den 14. November 1813 war er aufgefordert worden, die Geschäfte sogleich zu übernehmen, wozu allgemeiner Wunsch und Zutrauen [ihn] verpflichte![5], am 19. notierte er schon: Die Arbeiten häufen sich und am 22. schrieb er in sein Tagebuch: Sehr geschäftsvoller Tag wie lange keiner und wie ich mir auch wenige weiter wünsche – hunderterlei Geschäfte durcheinander von wesentlicher Bedeutung und Gedränge von allen Seiten.[6]
Zu dieser Zeit wohnte seine Frau noch auf Ickern und hatte dort am 6. September 1813 ihren zweiten Sohn Gisbert[7]geboren. Erst mit der Ernennung ihres Mannes zum Oberpräsidenten am 25. Mai 1815 zog die ganze Familie nach Münster und wohnte von da an im Schloss. Eleonore Vincke musste Repräsentationspflichten übernehmen, die ihr nicht behagten, ebenso wenig mochte sie das Leben in der Stadt und das Agieren des katholischen westfälischen Adels.
Von 1811 bis 1824 brachte Eleonore Vincke acht Kinder zu Welt, vier Jungen und vier Mädchen. Zwei der Mädchen starben nach der Geburt. Nach einer schweren Niederkunft im September 1819 erholte sie sich nicht. Vinckes Tagebuch ist gefüllt mit sorgenvollen Einträgen über ihre Erschöpfung, ihren unruhigen Schlaf und ihren qualvollen Zustand. Zwischenzeitliche leichte Verbesserungen hielten nicht lange an. Nach einer guten Nacht steigerte sie sich in eine Erregung, welche zuletzt abends den höchsten Grad, wirkliche Geistesverwirrung, erreichte.[8] Dies zog sich über Wochen hin, Wochen voller Arbeit und mangelndem Schlaf für Vincke. Erst als er seine Frau am Heiligen Abend in Busch besuchte, notierte er: - welche Freude, meine gute Lore wieder viel besser zu treffen, als ich je hoffen können und so lieb und herzlich, ich kann mich in das große Glück gar nicht finden des Wiedersehens und der Wiedervereinigung nach solcher Trennung – ein froherer Abend ward mir noch nie.[9]
Die Krise wurde überwunden. Eleonore Vincke suchte verstärkt Unterstützung und Trost in der Religion, beklagte allerdings, daß ihr Gatte ihr darin nicht völlig folge[10] und bedauerte, dass ihr das köstliche Bild glücklicher stiller ungetrübter Häuslichkeit[11] nicht gegeben sei.
Ihr Gesundheitszustand besserte sich nicht nachhaltig. Ab 1825 kamen andere Beschwerden hinzu und entgegen den Hoffnungen, die die Familie immer wieder hegte, verstarb Eleonore Vincke am 13. Mai 1826. Ihr Grab, wie auch das von Vincke, seiner zweiten Frau und einiger Kinder, befindet sich seit den 1830er Jahren auf dem 1827 genehmigten privaten Friedhof beim Haus Busch.
Der Freiherr blieb mit sechs Kindern zurück, weshalb seine Schwestern ihm empfahlen, sich bald wieder zu verheiraten.
Therese
In dieser Situation traf er die oben erwähnte Tochter des Freiherrn vom Stein, Therese. Die zweite Tochter Steins, 1803 geboren, begleitete ihren Vater in Münster und besuchte mit ihm den Oberpräsidenten am Vorabend der Eröffnung des Provinziallandtags. Nach drei Tagen intensiver Arbeit und wahrscheinlich genügender Ablenkung schreibt Vincke in sein Tagebuch: Am Morgen und Abend von wunderlichen Traumgebilden mir wieder blinkendem häuslichen Glückes verfolgt – doch unmöglich! Und ich darf mich nicht versündigen, dadurch dem thätigen Leben bei jetzt verdoppelten Ansprüchen so viel Zeit zu entziehen.[12]
Seine beruflichen Pflichten hat er sicher nicht vernachlässigt, aber die Begegnungen mit Therese und die Gedanken an sie beschäftigten ihn in den folgenden Wochen sehr intensiv. Mindestens dreißig Mal erwähnt er sie in den nächsten vier Monaten in seinem Tagebuch – oder deutet wenigsten auf sie hin. Jedes Treffen wird vermerkt, auch wenn er sie nur anlässlich einer Veranstaltung von ferne sah. Ihr Lächeln oder ihre Freundlichkeit versuchte er zu deuten, nur zu gerne mochte er ein Zeichen ihrer Sympathie für ihn darin erkennen. Er zeigte ihr den Schlosspark, in Begleitung natürlich, traf sie bei den Mervelds und bedauerte, nicht am Tische neben ihr zu sitzen. Sie raubte ihm wortwörtlich den Schlaf.
Am 7. November notierte er: Ich konnte gestern wieder gar nicht einschlafen – meine Gedanken treiben sich immer unruhig umher – ich kann es mir nicht verhehlen, eine große Bewegung regt mich auf, Fräulein Stein hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und doch ist es unvernünftig, die Möglichkeit einer Erwiderung zu denken, wie wird ein junges liebenswürdiges, zu den größten Ansprüchen berechtigtes Mädchen einem 52jährigen Vater von 6 Kindern sich je hingeben, und wie würde sie den Ansprüchen desselben nach dessen Verhältnissen genügen können, die dieser verständiger Weise doch nicht beseitigen darf – daher muß und will ich diese Gedanken ganz unterdrücken, so unwiderstehlich ich mich auch angezogen fühle.
Aus diesen Einsichten heraus versuchte er eine Weile, ihr aus dem Weg zu gehen. Doch auch wenn er sie drei Tage nicht sah, dachte er ständig an sie. Anfang Februar waren die klugen Vorsätze aufgebraucht und er gestand sich ein: Unwiderstehlicher als je finde ich mich wieder alle diese Tage zu T[herese] hingezogen und immer nur von den Gedanken an sie erfüllet! Fester als je bilde ich mir ein, daß auch sie mir zugethan sey und der ehrenwerthe Vater nicht abgeneigt, wie sehr auch immer die Vernunft widerstreitet.
Bei der Einschätzung des Vaters in dieser Angelegenheit leitete ihn wohl mehr Wunschdenken als Gewissheit. Der Neffe Steins, Graf Kielmannsegg(e), hatte durch einen Mittelsmann schon 1825 sein Interesse für Therese bekunden lassen. Erst als Vincke seiner Schwester Louise im Februar seine heimlichen Wünsche offenbarte und diese bei Stein und dessen Hausdame (und Thereses Gouvernante) Fräulein Schröder auskundschaftete, wie die Absichten aufgenommen werden könnte, zerbarsten alle Illusionen. Und Vincke? Er äußerte sich erleichtert, nun wenigstens davon die Gewisheit erhalten zu haben.
Johann Hermann Hüffer, Eigentümer der Aschendorffschen Buchdruckerei und Buchhandlung und Abgeordneter der Stadt Münster auf dem Provinziallandtag, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen diese Episode wie folgt:
Die zweite Tochter, die der Vater wohl einigermaßen vorzog, war, als ich sie kennenlernte, ein stattliches Mädchen, schien kalter Natur, hatte aber doch, wie es hieß, ihre Neigung nach einer Seite gewendet, die dem Vater nicht zusagte, dieser hatte ihr darauf eine Liste von Männern aufgezeichnet, woraus sie zu wählen hätte. Sein Wille duldete in solchen Angelegenheiten wohl nicht vielen Widerspruch; so wählte sie dann den Grafen Kielmannsegge aus Hannover, der aber in Grundsätzen und Neigungen mit dem Minister wenig harmonierte und daher auch nicht häufig bei ihm war.[13]
1827 heiratete Therese ihren Vetter.
Louise
Noch zu der Zeit von Vinckes Schwärmereien für Therese, brachte seine Schwester Louise in einem Gespräch am Weihnachtsabend die Rede auf eine Louise Hohnhorst.[14] Die jüngste Schwester Charlotte (Lotte) hatte sie für Vincke ausgeguckt und beide Schwestern hielten sie für die ideale Gefährtin ihres Bruders. Doch der Oberpräsident reagierte verhalten auf die Lobpreisungen und notierte lapidar: - aber ich kenne sie doch nicht!
Die so angepriesene, am 10. September 1789 in Braunschweig geborene Tochter des Oberhofmarschalls und Rittergutsbesitzers Burghard von Hohnhorst und seiner Frau Charlotte von Veltheim, konnte bei dem von Lotte arrangierten Treffen den Witwer nicht sofort überzeugen. Der erste Eindruck war nicht so vortheilhaft, schreibt er in sein Tagebuch, aber er war offensichtlich gewillt, den werbenden Worten seiner Schwester und seines Schwagers eine Chance zu geben. Schon am Abend desselben Tages, als er Louise im Kreis ihrer Familie bei Bekannten wieder traf, kam er zu dem Schluss, es konnte mir kein Zweifel bleiben, in L[ouise] eine trefliche Mutter für meine geliebten Kinder, eine liebvolle Lebensgefährtin, wie diese meine Verhältnisse fordern, wieder zu finden, für meinen großen Verlust theilweise Ersatz, durch L[ouise] die gewaltige Lücke in meinem Leben wieder erfüllet! Doch er wusste auch, dass sie sich erst einmal besser kennenlernen mussten.
Das geschah per Briefwechsel. Mitte Mai gab Vincke ihr eine treue Schilderung [s]einer selbst, aller [s]einer Verhältnisse, [s]einer Wünsche und Erwartungen und beteuerte, sie schon durch die Erzählungen seiner Geschwister gut zu kennen. Er glaubte fest, in ihr eine treue liebevolle Mutter für seine Kinder und eine geliebte und liebende, verständige und gebildete Lebensgefärtin zu gewinnen. Elf Tage später kam eine wohlwollende Antwort und gleich danach hielt Vincke offiziell bei ihrem Vater um ihre Hand an.
Der Vater stimmte der Verbindung zu. Vincke hatte in der Zwischenzeit seiner Zukünftigen das Du angeboten und fühlte sich ihr schon dadurch sehr viel näher. Bei einem Treffen im Juli wurde der Hochzeitstermin auf den 22. September1827 festgelegt. Die beiden blieben in regem Briefverkehr bis sich Vincke am 16. September auf die große wichtige Reise nach Hohnhorst machte. Von dort wollte er das Glück [s]eines Lebens und [s]einer geliebten Kinder in 3 Wochen heimführen.
Den Kindern gegenüber scheint Louise den richtigen Ton getroffen zu haben. Nach verständlicher anfänglicher Scheu trat besonders der älteste Sohn ihr vertrauensvoll entgegen und half ihr bei der Eingewöhnung in die große Familie.
Das Paar bekam vier Töchter. Louise starb am 3. Dezember 1873 in Bergen bei Celle.
Zu den Abbildungen
Die Zeichnung von Therese vom Stein entstand nach einem Aquarell von Philipp Veit (1793 – 1877) aus dem Jahr 1820. Therese war damals 17 Jahre alt. Veit war ein Sohn des Bankiers Simon Veit und seiner Frau, der späteren Dorothea Schlegel.
Die Vorlage für die Abbildung von Vinckes Frau Eleonore ist ein Ausschnitt aus dem Familienbild von 1827, das Vincke nach dem Tod seiner Frau bei dem Porträtisten Karl Joseph Haas in Auftrag gab. Mit dem Ergebnis war der Oberpräsident nicht zufrieden. In einem Brief schrieb er: Jeder Einzelne mehr oder weniger ähnlich; allein im Ganzen kein Leben, kein Zusammenhang, kein Ganzes.[15]
Das Portrait seiner zweiten Frau Louise stammt aus dem Jahr 1840, also 13 Jahre nach der Eheschließung. Vincke hatte dieses und ein Bild von sich bei dem Maler Friedrich Boser (1809-1881) bestellt. Boser, ein Maler der Düsseldorfer Schule, hatte ein Jahr zuvor schon die vier Töchter porträtiert. Die Bilder gefielen den Eltern und so kam es zu dem Folgeauftrag.
August 2019
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[1] und folgende Zitate: Hans-Joachim Behr (Bearb.), Die Tagebücher des Ludwig Freiherr Vincke 1789-1844, Band 9: 1825-1829, Münster 2015, S. 183.
[2] Heide Barmeyer, Eleonore und Ludwig Vincke – eine Ehe in der Zerreißprobe zwischen verschieden Lebensentwürfen in der Übergangszeit zur Moderne, Westfälische Zeitschrift 165, 2015 /Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ URL: http://www.westfaelische-zeitschrift.lwl.org., S.74.
[3] Ebenda, S. 75.
[4] Ebenda, S. 78.
[5] Ludger Graf von Westphalen (Bearb.), Die Tagebücher des Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn Vincke 1813-1818, Münster 1980, S. 33f.
[6] Ebenda, S. 35f.
[7] 1. Sohn: Georg Vincke (*15. Mai 1811 - †3. Juni 1875)
2. Sohn; Gisbert Vincke (*6. September 1813 - †1892)
[8] Die Tagebücher, Band 8, S. 108.
[9] Ebenda, S. 132.
[10] Siegfried Bahne, Ludwig und Eleonore Vincke – einige Ergänzungen, in: Hans-Joachim Behr, Jürgen Klosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke, Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994, S. 524.
[11] Ebenda.
[12] und die weiteren Zitate, falls nicht anders vermerkt: Die Tagebücher, Band 9, S. 184ff.
[13] Johann Hermann Hüffer, Lebenserinnerungen, Briefe und Aktenstücke, Münster 1952, S. 120.
[14] Im Tagebuch unterscheidet Vincke zukünftig meine Louise und Schwester Louise.
[15] Behr/Kloosterhuis, a.a.O., S.(734).