aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

König und Kaiser – Kritik und Karikatur

Dieter Gewitzsch

Die Gefahr einer unkritischen Begeisterung für die Cäsaren vergangener Zeiten dürfte im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gebannt sein, aber es schadet nicht, hier einige zeitgenössische Äußerungen in Erinnerung zu rufen, die den Charme haben, es es nicht erst im Nachhinein anders gewusst zu haben. Die Königsherrschaft und besonders das Kaisertum der Hohenzollern wurden schon zu deren Zeiten im politischen Raum und in der Literatur kritisiert. Die Karikatur spitzte ihrem Wesen gemäß zu.

Wilhelm II. hatte bei seinen Reden ein zentrales Thema: Die historische Kontinuität der Hohenzollerndynastie und ihre preußisch-deutsche Mission. Christopher Clark vergleicht die bombastisch angelegten Auftritte und Reden des Kaisers mit Historiengemälden des 19. Jahrhunderts. Dem Monarchen soll die Inszenierung eine überhöhte Position verschaffen; er schwebt über den kleinen, alltäglichen Streitigkeiten. – So wird die kaiserliche Monarchie ... als letzter Garant der Einheit des Reiches dargestellt, als der Punkt, an dem ,Historische, konfessionelle und wirtschaftliche Gegensätze sich vereinigen und versöhnen‘.“ (1)

Stand allerhöchster Besuch ins Haus, so wurden die Gastgeber mit den Vorlieben Sr. Majestät bekannt gemacht und man zeigte sich, wie der Oberbürgermeister von Beuthen O.-S. Im Herbst 1910, wohl unterrichtet. In seiner Ansprache sah Georg Brüning das zu enthüllende Denkmal nicht nur als Reminiszenz an den großen Feldherrn, der Schlesien als kostbare Perle der Krone Preußens einfügte, sondern ganz im Sinne seines Gastes als ehernes Zeichen der Liebe zur Heimat und der Dankbarkeit gegen das Haus Hohenzollern. Zum Ende der Rede schlug Brüning ohne Umschweife den Bogen von dem zu ehrenden großen König zu dem aktuellen Machthaber, indem er feststellte, die Bürgerschaft Beuthens huldige im Angesicht Friedrich II. dem erlauchten Sproß desselben, Kaiser Wilhelm II. (2)

Preußische Könige

Lieder gegen den Krieg und das Soldatsein

Der später vertonte Text eines mutmaßlich weit verbreiteten Flugblatts aus dem 18. Jahrhundert mag als Beleg dienen, dass das Volk auch zu Zeiten des preußischen Königs Friedrich II. nicht ungeteilt die Feldzüge bejubelte. Das Lied „Der Arme muss ins Feld“ ist die Klage derer, die sich nicht aus freiem Entschluss opferten, sondern geopfert wurden.

 1.

Wohin soll ich mich wenden in dieser schlechten Zeit?
An allen Orten und Enden ist nichts als Hass und Streit.
Rekruten fanget man, soviel man haben kann.
Soldat muss alles werden, sei einer Knecht oder Mann.
2.
Der Kaiser hat beschlossen zu zieh’n in anderes Land.
Viel Krieger werden erschossen, getroffen von Feindeshand.
Das ist der Kriege Lauf. Regenten steigen auf.
Und tausend von uns müssen ihr Leben geben drauf.
3.
Ade nun Vater und Mutter, ade mein lieber Freund!
Muß mich zur Reise bequemen noch auf die Festung heut’.
Denn es regiert die Welt nur Falschheit und das Geld.
Der Reiche kann sich helfen, der Arme muss ins Feld. (3) 


Die Herausgeber der Liedersammlung (1977) bemerken, dass der letzte Teil der dritten Strophe weggelassen wurde, leider ohne zu sagen, wo und wann. (4) Der Titel des Liedes und die letzten beiden Zeilen kritisieren eine bestimmte Praxis der Einberufung, nach der unter den tauglich Gemusterten die erforderliche Anzahl von Rekruten durch das Los bestimmt wurde. Der Ausgeloste konnte aber einen von ihm bezahlten Ersatzmann als „Einsteher“ stellen, weshalb in diesen Armeen eher Männer aus ärmeren Schichten dienten. (5) 

Ebenfalls bis ins 18. Jahrhundert zurück datiert das Lied „O König von Preußen“, das von der unwürdigen, unmenschlichen Behandlung der einfachen Soldaten in den Armeen der Potentaten erzählt, von denen einige die „Großen“ genannt werden. Das Lied endet mit einem deprimierenden Ausblick:

 Und werden wir dann alt, wo wenden wir uns hin?
 Die Gesundheit ist verloren, die Kräfte sind dahin.
Und endlich wird es heißen, geh‘ Vogel ohne Nest!
Geh‘ Alter nimm‘ den Bettelsack, bist auch Soldat gewest! (6)  

Vgl. auf aktenlage.net den Beitrag „Franz Anton Fels aus Werne schreibt seinem König (1852)“. Fels berichtet Friedrich Wilhelm IV. Von der Not des örtlichen Kriegervereins, der den verstorbenen Soldaten die Ehre eines kriegerischen Begräbnisses nicht mehr erweisen könne, weil die Mitglieder an Jahren vorgerückt, arbeitsunfähig und in Armuth versunken außer Stande seien, die nötigen Mittel aufzubringen.

Deutsche Kaiser

Zeitgenössisches Volksstück

In den 1890er Jahren betreute der Paderborner Verlag von Bernhard Kleine die Schriftenreihe „Kleines Theater“ mit Stücken für das Familien- und Vereinstheater. Kirchengemeinden, Gesangs- und Sportvereine bedienten sich gern dieser Sammlung leicht ausführbarer Lust- und Schauspiele und dramatischer Scenen. Die Aufführungen waren zu einer Zeit, in der auf dem Dorf und in den Kleinstädten kaum Alternativen zur geselligen Unterhaltung „außer Haus“ bestanden, sehr beliebt. Der Verlag hatte über zweihundert Titel im Angebot, darunter viele, die „Historisches“ auf die Bühne brachten. „Aus schwerer Zeit“ dramatisierte eine Episode aus der Zeit der Befreiungskriege und „Die Hexe vom Karrenberge“ begegnete dem Publikum als Ritterschauspiel mit Gesang.

Mit dem Drama „Hartmann von Siebeneichen oder Deutsche Treue“, das der Verlag 1896 veröffentlichte, griff der Autor C. Janssen einen Stoff auf, der in Jahrzehnten zuvor und auch später immer wieder bearbeitet wurde. Mit der dem Stück zugrundeliegenden Begebenheit hält sich die Geschichtsschreibung indes nicht lange auf:

Friedrich I. (Barbarossa) befand sich Anfang des Jahres 1168 in kriegerischen Auseinandersetzungen in Oberitalien und sah sich mit dem lombardischen Städtebund konfrontiert. Als er im März die Stadt Susa erreichte, führte der Kaiser lombardische Geiseln mit sich, von denen er eine/einige (7) hinrichten ließ. In Susa hatte man Barbarossa zwar aufgenommen, wollte aber seine Geiseln vor dem sicheren Tod bewahren, weil man die Rache des Lombardenbundes fürchtete. (8) Für Barbarossa spitzte sich die Lage zu, er musste einen Anschlag auf sein Leben fürchten und entschloss sich zur Flucht. Die Tarnung des Flüchtenden und die Täuschung möglicher Feinde Barbarossas hatte schon etwas von einer bühnenreifen Inszenierung. Gesucht wurde ein Friedrich ähnlich sehenden Mann, den man in Gestalt des  Ritters Hartmann von Siebeneich fand. Mit ihm tauschte der Herrscher die Kleidung und entkam aus dem zunehmend feindlichen Susa (9), wo man alles tat, die Täuschung aufrecht zu erhalten. Dem Double wurde die Tafel wie für den Kaiser selbst gedeckt und nach einer anderen Überlieferung soll … von Siebeneich im Bett des Kaisers geschlafen und so seine Flucht verheimlicht haben. (10)

Hartmann von Siebeneichen als Barbarossa verkleidet in einem Nachtquartier in Susa (Piemont), um die Ermordung des Kaisers zu verhindern (1168). Holzschnitt nach einem Gemälde von Karl Ludwig Adolf Ehrhardt (deutscher Maler, 1813 – 1899), erschienen 1881. Bildquelle:
istockphoto.com/de/vektor/hartmann-von-siebeneichen-gm121245160-16953840

 

Das Verhältnis von „Diener und Herr“ hat die Literatur häufig aufgegriffen und mit dem Kunstgriff „Rollentausch“ gern auch komödiantisch dramatisiert. Mit dem Subtitel „Deutsche Treue“ zielte das kleine Werk 1896 allerdings auf eine höhere Deutung. Es ging eben nicht um einen lustigen Kleidertausch, mit dem man Verfolger narrt, sondern um die Bereitschaft Hartmanns von Siebeneich, an Stelle des Kaisers Opfer eines Anschlags zu werden.

Opferbereitschaft war das hervorstechende Motiv der literarischen Verarbeitung des Stoffs, der in der Zeit des Kaiserreichs auch immer wieder Gegenstand didaktischer Überlegungen war. 1871 hätte man „Hartmann von Siebeneichen“ gern in einer Gedichtauswahl für höhere Schulen gesehen, weil das Werk geeignet sei, des Jugendlichen Geist zu bilden, sein Herz zu veredeln und seine Phantasie zu befruchten. (11)  Diese Einschätzung des erzieherischen Wertes der Erzählung teilte 1895 auch der Bayerische Gymnasiallehrerverein, der die Errettung Friedrich Barbarossas durch den treuen Hartmann … durch eines der vorhandenen schönen Gedichte verherrlicht sehen wollte. (12)

Der leicht ausführbaren Version, die 1896 als Drama für das Familien- und Vereinstheater auf den Markt kam, wurde ein Prolog in Versen vorangestellt, mit dem die Historie ungeniert in den Dienst der allerhöchsten Vorstellungen von der Mission der Hohenzollern gestellt wurde.

Der Text richtet den Blick auf zwei Berge im Schwabenland, von denen jeder am steilen Rand ein Schloss trägt. Der eine die Burg der Zollern, deren Türme himmelan streben und blühendes Leben künden, der andere die versunkene Staufenburg, mit der das Geschlecht verschwand, das ... Herrn Rotbart, den Kaiser zeugte.

Die Vorrede erinnert an die tödliche Gefahr, in der sich Barbarossa befand und versichert Herrn Hartmann von Siebeneichen, dass man noch heute seine Tat begeistert preise. Der Rückgriff auf vergangene Heldentaten soll die Bereitschaft wecken, dem Beispiel folgend den Forderungen der Gegenwart entgegenzutreten. In alter Zeit seien die Staufer des Deutschtums nie rastende Wächter gewesen, heute hätten der Neuzeit Geschlechter den Zollern das Wächteramt anvertraut. Die folgenden Zeilen enthüllen, welche konkrete Erwartung sich hinter der allgemeinen Idee von der Kontinuität verbarg und was gut 700 Jahre nach Hartmann und Barbarossa mit Treue und Pflicht gegenüber Kaiser und Vaterland gemeint war:

 Und wie der Ritter den Tod nicht scheut,
Des Kaisers Leben zu schirmen,
Lasst fest uns stehen, dem Kaiser geweiht,
Wenn Wolken am Himmel sich türmen.

 Und donnern die Schlünde, und hagelt es Blei,
Und blitzen die Schwerter Verderben,
Für Kaiser und Vaterland wollen wir treu
Zum Kampfe stürmen – und sterben. 


Karikatur

Zwei Monate vor dem kaiserlichen Besuch in Beuthen, veröffentlichte „Der Wahre Jacob“ (13) in seiner Ausgabe vom 27. September 1910 eine Karikatur mit der das Blatt die Haltung der Herrschenden zu dem Schicksal einfacher Soldaten aufs Korn nimmt. Hoch zu Pferde in nachdenklicher Betrachtung einer Marschkolonne wendet sich der Kronprinz an seine Gattin: „Es ist eigentlich riesig schmeichelhaft, dass alle diese Leute mal für uns in den Tod gehen – nicht wahr, Cäcilie?“ (14)

Bildquelle:  der-wahre-jacob.de/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/3/27/27_631.pdf

 

Die Königsberger Rede

Vier Wochen vorher , am Abend des 25. August 1910. hatte Wilhelm II., der dritte Kaiser des neuen Deutschen Reichs, in Königsberg im Laufe der Festtafel für die Provinz (15) das Wort ergriffen, um - wie Berliner Zeitungen am folgenden Tag titelten (16) - sein "Programm" zu verkünden und ein "Bekenntnis" abzulegen.

In Erinnerung an seinen Großvater ließ der aktuelle Herrscher keinen Zweifel aufkommen, dass sich Wilhelm I. aus eigenen Recht … die preußische Königskrone aufs Haupt setzte und so bestimmend hervorhob, dass sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich so als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe und als solches seine Regenten- und Herrscherpflichten versehe. Mit dieser Krone sei der Großvater vor vierzig Jahren ins Feld gezogen, um zu ihr noch die Kaiserkrone zu erringen.

Das Bild von Königen und Kaisern sei aber unvollständig ohne die Gestalt der Königin Luise. Seine Urgroßmutter habe man eingehend geschildert, stellte Wilhelm II. fest, und das Volk beschäftige sich in dankbarer Erinnerung mit ihr. Wenn es gelte, die Ehre wiederherzustellen und das Vaterland zu verteidigen, lehre die hohe Figur der Königin Luise, ... daß wir Männer alle kriegerischen Tugenden pflegen sollen; stets bereit, das Letzte herzugeben und vor allem unsere Rüstung lückenlos zu erhalten.

Und was sollen unsere Frauen von der Königin lernen? Luises Urenkel wusste die Antwort:

Die Frauen sollen lernen, daß die Hauptaufgabe der deutschen Frau nicht auf dem Gebiet des Versammlungs- und Vereinswesens liegt, nicht in dem Erreichen von vermeintlichen Rechten, in denen sie es den Männern gleich tun können, sondern in der stillen Arbeit im Hause und in der Familie. Sie sollen die junge Generation erziehen, vor allen Dingen zum Gehorsam und zum Respekt vor dem Alter! Sie sollen Kindern und Kindeskindern klar machen, daß es heute nicht darauf ankommt, sich auszuleben auf Kosten anderer, seine Ziele zu erreichen auf Kosten des Vaterlandes, sondern einzig und allein das Vaterland im Auge zu haben, einzig und allein alle Kräfte und Sinne für das Wohl des Vaterlandes einzusetzen.

Das sei die Lehre, die die hohe Gestalt uns überliefert habe und die auch für ihn selbst vorbildlich sein werde, wie sie es für seinen Großvater war. Wilhelm II. sprach von sich als Instrument des Herrn, er gehe ohne Rücksicht auf Tagesansichten und Meinungen seinen Weg, der einzig und allein der Wohlfahrt und friedlichen Entwicklung unseres Vaterlandes gewidmet sei. Dazu bedürfe er der Mitarbeit eines jeden im Lande, und zu dieser Mitarbeit möchte er seine Adressaten jetzt aufgefordert haben, schloss der Kaiser seine Rede.

Kritische Presse

Auch wenn es zu erwarten war, dass der Kaiser nach der Daily Telegraph-Affäre seine Selbstbeschränkung nicht ewig üben werde: Die Königsberger Rede löste erneut Entrüstungsstürme seitens der mittlerweile äußerst sensibilisierten Presse aus. (17)

Die "Vossische Zeitung" bedauerte, dass der Kaiser ... zum ersten Male seit den bösen Novembertagen des Jahres 1908 aus der Zurückhaltung herausgetreten [sei], die ihm aus allen Parteien heraus menschlich so hoch angerechnet und politisch so warm gedankt wurde. (18)

Der "Trinkspruch" werde in der ganzen Welt das größte Aufsehen erregen und ausgedehnte Debatten zeitigen, prophezeite die "Berliner Volkszeitung". Sich selbst ohne Rücksicht auf Tagesansichten und Meinungen als Instrument des Herrn zu sehen, dessen Mission und Macht von Gottes Gnaden und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen, Volksbeschlüssen stamme, verrate erneut die Vorliebe des Kaisers für Staatsformen vergangener Zeiten, die mit dem modernen Verfassungsleben in vollstem Widerspruch stünden. (19)

Das Gottesgnadentum beherrscht seinen Ideenkreis,  konstatierte das "Berliner Tageblatt", für ihn sei es überall wirksam. Die Zeitung fragt, ob Tatsache wie die Erklärung Reichskanzlers von Bülows, dass Wilhelm II. sich im Interesse einer einheitlichen Politik ... auch in Privatgesprächen zurückhalten werde und seine vornehmste kaiserliche Aufgabe darin [erblicke], die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern, bereits vergessen seien? Das deutsche Volk [halte] jedenfalls daran fest, daß das neue Reich ein konstitutioneller Staat ist und auch das preußische Volk sich einen wenn auch vorläufig sehr bescheidenen Einfluß auf die Verwaltung und Regierung des Staates erkämpft hat und nicht aufhören wird, sein Selbstbestimmungsrecht immer entschiedener geltend zu machen.

Mit feiner Ironie fühlt das Tageblatt dem Kaiser die Sympathie für Königin Luise nach, ohne verhehlen zu wollen, dass auch noch einige andere preußische Patrioten an der Zukunft Preußens nach Jena nicht verzweifelten. Zu den Weisungen an die Frauenbewegung erlaubt das Blatt sich den leicht süffisanten Hinweis, daß die Verhältnisse oft stärker sind als der menschliche Wille. Wir vermuten, daß die modernen Frauen sich auch künftig nicht mir der "stillen Arbeit im Hause und in der Familie" begnügen werden, weil eben heute sehr viele Frauen kein Haus und keine Familie haben.

Die Mahnung von so prominenter Seite, die Rüstung lückenlos zu halten, verdiene Respekt. Gleichzeitig werden aber die "verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten" ... darauf zu sehen haben, daß das deutsche Volk nicht unter der Steuerlast zusammenbricht und das die Versuche nicht außer acht gelassen werden, den Frieden noch auf andere Grundlagen als auf unsere Rüstungen zu stellen. - Darüber habe der Reichstag das letzte Wort.

Das Tageblatt bedauert, dass der Kaiser jede Rücksicht auf Tagesansichten und Meinungen ablehnt. Man wolle die Hoffnung nicht völlig aufgeben, dass über trennende Theorien hinweg eine praktische Verständigung zwischen dem Willen des Kaisers und dem Willen des Volkes gefunden wird. Im Sinne des Gottesgnadentums und des Absolutismus wird sie freilich nicht erfolgen. (20)

Karikatur

 In der satirischen Zeitschrift "Simplicissimus" war in Königsberg schlicht "der Kaiser los." 
simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/15/15_25.pdf

 

 

Der Historiker

Christopher Clark zitiert im Zusammenhang mit der "Königsberger Rede" einen Kommentar aus dem Jahre 1913, der ein zentrales Problem der Herrschaft Wilhelms II. zur Sprache bringt: Dem kaiserlichen Amt fehlt sowohl eine solide Grundlage in der deutschen Verfassung, die für den Kaiser schlicht die Funktion "Vorsitzender des Bundesrats" bereithält, als auch eine politische Tradition. Das Kaisertum des Hochmittelalters und der frühneuzeitlichen Habsburgischen Reichstradition lagen zeitlich so weit zurück und waren so andersartig, dass sie kaum als glaubwürdige Vorläufer der Konstellation von 1871 in Frage kamen. Wilhelm I. war dem Herzen nach König von Preußen, von ihm war kein Beitrag zur Behebung dieses Defizits zu erwarten. Umso entschlossener bemühte sich der Enkel, die kaiserliche Dimension seines Amtes auszufüllen. Wilhelm II. glorifizierte seinen Großvater als den heiligen Krieger, ... führte neue Feiertage und Gedenkfeiern ein, um sozusagen die konstitutionelle und kulturelle Blöße des Throns in den Mantel einer "nationalen" Geschichte zu kleiden. Sich selbst präsentierte er ... als die Personifizierung des "Reichsgedankens". (21)


Kritische Politiker

Es war sicher Zufall, dass am Tage des Besuchs Wilhelms II. in Beuthen im Reichstag in Berlin die Beratung über die sozialdemokratische Interpellation zur Königsberger Kaiserrede stattfand, die resultatslos verlief. Etwas spitz bemerkte die "Hartungsche" (22), dass der "Bund der Ritter und Heiligen" ... auch diesmal fest und treu zusammenhielt. Das Zentrum wollte in der Königsberger Rede lediglich ein freies Bekenntnis zum Christentum erblicken, ein Bekenntnis, auf das der Kaiser ebenso einen Anspruch habe, wie irgendein grüner Bursche, der seine atheistische Weltanschauung in die Welt schreit (Georg von Hertling). 

Für die Konservativen war die Interpellation der Sozialdemokraten keine Frage an die Regierung, sondern eine Herausforderung an die Nation, die die Monarchie und den Monarchen zu schützen habe (Ernst von Heydebrand). Den Protest gegen das persönliche Regiment [Wilhelms II.] beantwortete die Rechte mit der Forderung nach Ausnahmegesetzen.

In seiner provozierenden Art habe sich der linke Sozialdemokrat Georg Ledebour zur republikanischen Staatsauffassung bekannt. Anerkennend notiert die Zeitung, dass der Redner der Nationalliberalen den Trennungsstrich gegen den schwanz-blauen Block aufrecht erhalten habe (Ernst Bassermann).

Die Rede des Herrn Friedrich von Payer, der für die Fortschrittliche Volkspartei das Wort ergriff, sei die einfachste und seine Stellung die klarste und deutlichste gewesen, urteilt die "Hartungsche". Payer erinnerte, dass der Monarch seine Macht nicht allein von Gott erhalten habe, sondern durch Vereinbarungen mit dem Volk und durch Parlamentsbeschlüsse beschränkt werde. Wilhelm I. habe die Kaiserkrone nicht aus eigenem Recht von Gottes Gnaden erhalten, sondern von den deutschen Fürsten. Dann wurde Payer grundsätzlich:

"Der Inhalt des Gottesgnadentums hat gewechselt. Früher war es ein Ausdruck der Demut und Bescheidenheit. Man erkannte den höheren Richter an. Jetzt ist es anders geworden. Der König von Gottes Gnaden sieht die Grenze seines Willens nur in sich selbst oder in Gott und bezeichnet sich als die alleinige Quelle und als den Träger alles Rechts und aller Macht im Staate. Im Deutschen Reich aber gibt es keine Untertanen, sondern nur Staatsbürger, von denen jeder den gleichen Anspruch auf die ihm zugesicherten Staatsrechte hat, wie der deutsche Kaiser. Auch dies Parlament hat Rechte, vor denen auch der höchste Wille im Staat Halt machen muß, wenn das Recht bleiben soll."


Kritische Schriftsteller

Heinrich Heine hatte es mit der im Deutschen Bund vereinten Fürstenmacht zu tun und fragte sich, ob es zur deutschen Einheit eines Kaisers bedürfe. In seinem 1844 veröffentlichten Gedicht „Deutschland – Ein Wintermärchen“ träumt Heine davon, im Kyffhäuser Kaiser Rotbart zu begegnen. (23)

Der Dichter zeichnet ein üppiges Bild vom Innern des Wunderberges, wo viel tausend Krieger, kampfbereit … schlafend am Boden liegen, während ihr Herrscher wartet und verkündet, was sein wird, wenn er die besten Pferde beisammen habe:

Dann schlag ich los und befreie
Mein Vaterland, mein deutsches Volk,
Das meiner harret mit Treue. 


Vier Jahre vor der bürgerlichen Revolution 1848 hofft Heine nicht auf Erlösung, auch nicht durch ein altes Fabelwesen, er rät Herrn Rotbart:

 Geh, leg dich schlafen, wir werden uns
Auch ohne dich erlösen. 

Die Republikaner lachen uns aus,
Sehn sie an unserer Spitze
So ein Gespenst mit Zepter und Kron;
Sie rissen schlechte Witze.
Das beste wäre, die bliebest zu Haus
Hier in dem alten Kyffhäuser –
Bedenk ich die Sache ganz genau,
So brauchen wir gar keinen Kaiser.

 

Heine erwacht. 

Ich habe mich mit dem Kaiser gezankt
Im Traum, im Traum versteht sich, –
Im wachen Zustand sprechen wir nicht
Mit Fürsten so widersetzig.

Juni 2023
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1. Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S.217f.
2. Der oberschlesische Wanderer, Nr. 272, 26. November 1910, S. 2 – in: Śląska Biblioteka Cyfrowa, Schlesische Digitale Bibliothek, sbc.org.pl., digitalsilesia.eu.
3. Hein & Oss Kröher (Hrsg.) Das sind unsere Lieder, Frankfurt 1977, Nr. 158.
4. Hein & Oss Kröher, a.a.O., S. 402.
5. wikiwand.com/de/Wehrdienst – besucht am 14.05.2023. - Pierer’s Universal-Lexikon 1857, S. 559: Einstehen, die Militärpflicht eines Anderen (Einsteller) als Stellvertreter (Einsteher) gegen eine gewisse Summe Geldes übernehmen.
6. volksliederarchiv.de – besucht am 14.05.2023.
7. Ferdinand Opll, Friedrich Barbarossa, Darmstadt 1990, S. 101. - Anders als Opll spricht Görich von einer Geisel.
8. Knut Görich, Friedrich Barbarossa, Eine Biografie, München 2011, S. 369.
9. Opll, Barbarossa, a.a.o., S. 101.
10. Görich, Barbarossa, a.a.O., S. 369. - Bei Görich war es nicht Hartmann, sondern Rudolf von Siebeneich, der Kämmerer des Kaisers, der Barbarossas Platz einnahm.
11. Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, Leipzig 1871, S. 529f.
12. Bayerische Blätter für das Gymnasialschulwesen, Band 31, München 1895, S. 505.
13. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek u.a. (Hrsg.), digitalisiert auf der Seite der-wahre-jacob.de – besucht am 16.05.2023.
14. Kronprinz Wilhelm *1882, verheiratet mit Cecilie, Herzogin zu Mecklenburg *1886.
15. Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 397, Morgenausgabe, 2. Blatt vom 26.08.1910, S. 2.
16. Berliner Neueste Nachrichten – Ein Bekenntnis de Kaisers, Berliner Volkszeitung – Das Programm des Kaisers.
17. Clark, Wilhelm II., a.a.O., S. 235.
18. Vossische Zeitung Nr. 400, 26.08.1910.
19. Berliner Volks-Zeitung Nr. 398, 26.08.1910.
20. Berliner Tageblatt Nr. 432, 26.08.1910.
21. Clark, Wilhelm II., a.a.O., S. 236 f.
22. Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 555, Morgenausgabe vom 27.11.1910, S. 1. - Wenn nicht anders zitier, folgt der Abschnitt diesem Text.
23. Christoph Siegrist Hrsg., Heinrich Heine, Werke, Erster Band, Gedichte, S. 458 ff.

 

 
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