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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Biografische Skizzen:
Franz Jakob von Hilgers, Landrat und Abgeordneter, * 1810 – † 1877

Dieter Gewitzsch

Der Kreis Ahaus im Spiegel der "Zeitungsberichte" des Jahres 1860

Zeitungsbericht vom 20. Februar 1860 - LAV NRW W, Kreis Ahaus Nr. 2017 - Abb. (Ausschnitt): dg.

Einleitung

Über die relativ kurze Zeit – im Kern das Jahr 1860 – in der Hilgers die kommissarische Verwaltung des Kreises übernommen hatte, geben zunächst die vom Landratsamt für die Regierung Münster verfassten „Zeitungsberichte“[1] Auskunft. Die waren alle zwei Monate fällig und verlangten Ausführungen zu insgesamt 22 Punkten, von der „Witterung“ bis zu „Veränderungen im Ausland“. Es handelte sich nicht um Tätigkeitsberichte der Verwaltung, sondern um periodische Betrachtungen in der Art eines Querschnitts, die ein Bild von den Verhältnissen im Kreis vermitteln sollten. Die Berichte des Landratsamts fassten zusammen, was die Ämter in ihren „Zeitungsberichten“ mitteilten. Das Kreisbehörde war die zweite Stufe eines Berichtswesens, das schließlich allerhöchste Stellen mit Informationen aus den Provinzen versorgte, zu einer Zeit, in der es neben der Presse kaum andere, geordnet verfügbare Informationen zur Lage im Lande gab.[2]

Leben in starker Abhängigkeit von der Natur

Die Ahauser Berichte schildern zunächst ein Leben in starker Abhängigkeit von der Natur. Besondere Aufmerksamkeit galt der Witterung und den von ihr ausgehenden Einflüssen auf die Landwirtschaft und die Gesundheit („Mortalität“). „Schädliche Naturereignisse“, zu denen Sturmschäden und Hochwasser aber auch Brände  gezählt wurden, bildeten eine eigene Rubrik. Äußerte man sich zum „Wohlstand im Allgemeinen“, dann galt der erste Blick dem Ergebnis der Ernte, dann erst schaute man auf die Situation des Gewerbes.

Das Wetter

1859 stellte ein trockener Herbst sicher, dass die Äcker bestellt werden konnten, Kartoffeln und Futterpflanzen geerntet wurden und auch das Vieh noch draußen Nahrung fand. Der Winter war milde, aber es dauerte bis in den Mai 1860 hinein, bevor der Wind nach Westen umsprang und damit das lang ersehnte Frühlingswetter eintrat. Warme Witterung belebte die zurückgehaltene Vegetation. Es gab schwere Gewitter, die auch mit Hagel vermischt, ... keinen erheblichen Schaden anrichteten. Regen im Juli war zwar minder angenehm, jedoch dem Wachsthum der Früchte förderlich. Im Spätsommer behinderte unfreundliches Wetter die Einscheuerung der Früchte und im frühen Herbst die Bestellung der Wintersaat. 1960 war ein regenreiches Jahr, das Ende Dezember mit Frost und Schnee abschloss. Tauwetter im Januar 1861 hatte überall ein Austreten der Gewässer zur Folge, welches indeß keinen erheblichen Schaden angerichtet hat.

Gesundheit, Krankheit und Tod

Den Gesundheitszustand der Bevölkerung beurteilte das Landratsamt in den Sommermonaten als „gut“ und in der kalten Jahreszeit zumindest mit „befriedigend“. Daran angelehnt erscheint der Behörde die Sterblichkeit in den Wintermonaten nicht ungewöhnlich. In den wärmeren Monaten wurde die „Mortalität“ als gering oder gar außergewöhnlich gering bezeichnet. Diese Einschätzungen reichten höheren Orts offenbar. Aus den Berichten geht nicht hervor, nach welchen Kriterien ein „gut“ vergeben wurde, und wie viele Todesfälle als nicht ungewöhnlich galten. An Krankheiten wurden Nervenfieber und rheumatisches Fieber genannt. Ins Detail gingen die Berichte, wenn Seuchen auftraten: In Vreden ist die Pockenseuche, welche ein Mann aus Holland dort eingeschleppt hat. Im Ganzen sind 6 Personen an den Pocken erkrankt, von denen 3 gestorben, 1 völlig wiederhergestellt und 2 sich auf dem Wege der Besserung befinden. Zwei Monate später schrieb das Landratsamt: Die in Vreden ausgebrochene Pockenseuche, woran im Ganzen 9 Personen erkrankt und 4 gestorben sind, hat jetzt ganz aufgehört. Entwarnung auch für Stadtlohn, dort erkrankten 4 Personen an den Varioloiden[3], dieselben ... [seien] jedoch sämtlich wieder genesen. Unglücksfälle, bei denen Personen zu Schaden kamen oder verstarben, wurden ebenfalls mit Einzelheiten vermerkt. Es kam durchaus häufiger vor, dass Menschen aus den Bodenluken stürzten, in den verschiedenen Gewässern ertranken oder in Frostnächten erfroren. Zu Schöppingen fiel ein erwachsener junger Mensch in ein im Betrieb befindliches Wassermühlenrad und fand dadurch seinen Tod.

Sturmschäden und Brände fielen in die Rubrik „Schädliche Naturereignisse“. Bei Brandereignissen verzeichnete der Bericht wenn möglich die Höhe des Schadens, die vermutliche Ursache und die Versicherungsgesellschaft. Für ein Pächterhaus in Schöppingen und eine zur Hälfte abgebrannte Wohnung in Ahaus wurde die Aachen-Münchener Gesellschaft in Anspruch genommen; eine im Dorf Alstätte gänzlich abgebrannte Wohnung war bei der Provinzial-Feuersozietät mit 1.000 Talern versichert.

Sorge um die Ernte

Unter „Landeskultur“ wurde – immer mit deutlichem Bezug zu den Witterungseinflüssen – beschrieben, was sich aktuell auf den Feldern tat, welchen Ertrag man erwarten konnte oder realisiert hatte. Ende September ging das Landratsamt noch einmal auf die nasse Witterung ein, in deren Folge sich die Ernte weit über die gewöhnliche Zeit hinaus verzögerte. Ein großer Theil Hafer und Hülsenfrüchte stehe noch auf dem Acker. Die Einscheuerung sei aus demselben Grunde sehr mühsam. Stellenweise konnten die Gespanne nicht einmal auf den Acker gebracht, sondern es mußte die Frucht mit den Händen hinweggebracht werden. Vieles Getreide sei ausgewachsen und hätte, um es vor gänzlichem Verderben zu retten, nur halbtrocken eingebracht werden können. Wiesen und Weiden seien vieler Orts so durchnäßt, daß das Vieh heraus genommen werden mußte. Von den Schäden durch Nässe abgesehen, bewertete man die Ernte des Jahres 1860 als recht gut, sie sei weit besser als die des Vorjahres.

Nesselweberei in der Krise; Arbeitsbedingungen der Weber

Zur Jahreswende 1859/60 beklagte das Landratsamt eine eingetretene Lähmung des Handels und der Gewerbe und machte „Politische Verwicklungen“ dafür verantwortlich. Vielleicht dachte man an Auswirkungen des Krimkrieges oder an die Kämpfe um die Einigung Italiens. Diese Ereignisse erreichten auch die innerdeutsche Szenerie und beeinflussten das Verhältnis zwischen Österreich und Preußen.[4] In den späten 1850er Jahren gerieten alle Geschäfte ins Stocken, aber die Nesselweber litten besonders unter der durch die Amerikanischen Wirren herbeigeführten Krisis im Baumwollhandel.[5]  Im Kreis Ahaus wurden viele tausend sonst damit beschäftigte Hände gezählt, die jetzt entweder gänzlich oder doch ohne irgendeine lohnende Arbeit waren. Bei der arbeitenden Klasse vernahm man überall Klagen über Verdienstlosigkeit, die durch den ungünstigen Ausfall der vorjährigen Ernte [1859] umso fühlbarer wurde. Hoffnung richtete sich auf das Frühjahr, wenn die Ackerarbeiten wieder ihren Anfang nehmen und viele seither unbeschäftigte Hände in Thätigkeit kommen. Der geringe Mann fand beim Ackerbau lohnende Beschäftigung, aber die Nesselweberei lag fortwährend darnieder und das änderte sich auch im Laufe des Jahres 1860 nicht. Der Haupterwerbszweig der hiesigen arbeitenden Klasse namentlich zur Winterzeit steckte in Schwierigkeiten und die anhaltende strenge Kälte tat das ihre. In Folge der nassen Witterung konnte Torf schlecht gewonnen werden und war teuer. Fazit des Zeitungsberichts Ende Januar 1861 zum „Wohlstand im Allgemeinen“: Es hat sich ... ein eigentlicher Wohlstand nirgends gezeigt.

Baumwollweberei im westlichen Münsterland

Webstuhl um 1830 - Ausschnitt aus einem Aquarell von Johannes Schiess via Wikimedia Commons

Die verlagsmäßige Baumwollweberei hatte sich seit den 1830er Jahren im westlichen Münsterland über etwa drei Jahrzehnte hin stark entwickelt; die Zahl der Weber explodierte förmlich in den Kreisen Ahaus und Steinfurt.[6] Nesselweber arbeiteten in der Regel nicht in geschlossenen Fabrik-Etablissements..., sondern in den Häusern der Weber selbst.[7] 3.933 Webstühle wurden im Kreisgebiet für das Jahr 1861[8] nachgewiesen und eine ebenso große Zahl von Gehülfen und Angehörigen als Beschäftigte gemeldet.

Arzt spricht von gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen

Die „Statistische Darstellung des Kreises Ahaus“ für das Jahr 1861 geht auch auf die Umstände ein, unter denen die Familien lebten und arbeiteten und beschreibt, warum die Nesselweberei sehr nachtheilig auf die Gesundheit der Menschen wirkte:

Das anhaltende Sitzen meistens in engen und niedrigen, feuchten, oft ungeflurten Stuben, worin häufig auf einem Ofen für Menschen und Vieh gekocht wird, und worin oft die ganze Familie hockt. Häufig vermisst man daher bei den Webern das gesunde kräftige Aussehen; sie sind blaß, leiden an Unterleibsbeschwerden und Husten. Bei den Weberinnen kommt häufig Bleichsucht vor. Fabriken von größerem Umfange und in denen ein, die Gesundheit gefährdender Betrieb – Spinnerei und Weberei – stattfindet, sind nur um Amte Gronau vorhanden. Der am Orte befindliche Arzt referirt darüber:

„Großer Gefahr ist der Fabrikarbeiter ausgesetzt; derselbe sitzt in einem, wenn auch größeren Raum, mit vielen Arbeitern zusammen, die Temperatur in dem Lokal ist gewöhnlich sehr hoch, die Luft selbst durch das verbrauchte Oel unathembar für Solche, die nicht daran gewöhnt sind, der Staub wirkt offenbar auch nachtheilig auf die Lungen ein, aber noch nachtheiliger und zu Katarrhen disponierend wirkt das häufige Verlassen dieser Räume und das Begeben in kältere oder gar in die freie Luft. Katarrhe und daraus oft hervorgehende Lungenschwindsucht sind die Folgen davon.“[9]

Wer und was hilft arbeitslosen Webern?
Reicht kommunale Fürsorge oder muss die Regierung handeln?

Die Aufträge kamen zum überwiegenden Teil von auswärtigen Fabrikanten und wurden von im Kreis eingesessenen „Faktoren“[10] vermittelt. Aber gegenwärtig – so der statistische Bericht – hätten hunderte von Webern entweder gar keine oder aber nur zeitweise Arbeit und auch diese nur gegen geringen Lohn. Zur bedeutenden Zahl der Weber sei zu bemerken, dass sie nicht die zur Zeit der Aufnahme noch wirklich beschäftigten, sondern die Zahl der vorhandenen Weber überhaupt darstellt. Der Mangel an Aufträgen fiele umso mehr ins Gewicht, als bei diesem Industriezweige auch schwächere oder jüngere und zu andern Arbeiten nicht genügend kräftige Personen guten Arbeitsverdienst hatten, zugleich diejenigen Personen, welche sich dem Ackerbau oder anderen Erwerbszweigen widmen, in der Weberei eine höchst erwünschte Nebenbeschäftigung fanden. Irgendwelcher Ersatz sei für die arbeitende Klasse nicht in Sicht und es gäbe auch wenig Anlass, für die Zukunft auf eine Wiederbelebung der Handweberei zu hoffen, die doch zunehmend von der Maschinenweberei verdrängt werde.

Regierung Münster setzt auf Fürsorge

Schleunige Abhülfe des Nothstandes der Nesselweber im Kreise Ahaus forderte der Kreistag am 28. Februar 1860, der sich unter diesem Betreff mit einem Schreiben an eine "Excellenz" wandte, den Empfänger aber nicht genauer bezeichnete.[11] Vor einiger Zeit habe man über das Landratsamt bei der höheren Behörde beantragt, daß die frühere Begünstigung zur zollfreien Einfuhr des Gespinnstes gegen Wiederausfuhr des daraus gefertigten Gewebes wieder hergestellt werde.[12] Das habe die Regierung in Münster aber abgelehnt und auf eine Verfügung aus den Jahre 1854 verwiesen, nach der die Fürsorge für die bedrängten Nesselweber zunächst und vornehmlich den betroffenen Gemeinden und dem Kreise obliege. Die Kreisversammlung sah sich daher bewogen, es dem noch höheren Adressaten im Detail zu erklären:

Selbsthilfe: Arbeitssuche in Holland

Die Arbeitslöhne der Weber sind nicht nur jetzt so gering gestellt, daß der beste und fleißigste Weber keine
3 ½ Silbergroschen täglich verdienen kann, sondern, daß es selbst an hinlänglichen Arbeits-Gelegenheiten fehlt. Daher haben sich … mehrere unverheirathete Weber nach dem benachbarten Holland begeben, wo gegenwärtig ein anständiger Webelohn gezahlt wird. Die Familienväter aber, welche sich einen großen Theil des Jahres hindurch ausschließlich vom Weben ernähren müssen, können sich von ihrer Familie nicht trennen. Auch diese finden hier nicht Beschäftigung genug und holen sogar Gespinnst aus Holland, entrichten davon die Zollgefälle und führen das daraus gefertigte Gewebe wieder aus.

Die Fürsorge der Gemeinde resp. des Kreises für die bedrängten Weber kann nur durch Unterstützung mit baarem Gelde geschehen, die Mittel hierzu müssen von den Gemeinden resp. Kreisen aufgebracht werden, und würden diese Abgaben den ohnehin durch die gegenwärtigen Zeitverhältniße auch gedrückten Mittelstand vorzugsweise belasten, sodann würden solche baaren Unterstützungen auf die geringen Weber, wie es auf der flachen Hand liegt, von schlechten Folgen sein.

Der staatliche Eingriff: Zollfreie Einfuhren

Bei dieser Lage wünschten die Kreisstände, dass den Webern wenigstens bis zu nächsten Ernte die zollfreie Einfuhr der Gespinnste gegen den Nachweis der Ausfuhr des daraus gefertigten Gewebes gewährt werde  – und hatten Erfolg damit. In seinem Bericht vom 20. März (an die Regierung) konnte das Landratsamt vermerken, dass der Herr Finanzminister durch Rescript vom 14. März den Webern hiesigen Kreises im Grenz Control Bezirk die früher zugestandene Begünstigung wieder gewährt hat, Leinen und baumwollene Garne unter der Bedingung der Wiederausfuhr der daraus gefertigten Gewebe zollfrei aus Holland einzuführen. Die Lage der Nesselweber dürfte sich ... dadurch bessern, meinte man in Ahaus.[13]

Finanzminister von Patow, Abb. um 1860 – Wikimedia Commons, Bearb. dg.

Ein zeitgemäßes Krankenhaus für Stadtlohn. Wie viel Ehre für Verdienste?

Siegelmarke Landratsamt Ahaus, Privatbesitz, Foto: dg.

Zurück zu den „Zeitungsberichten“ des Jahres 1860, in denen unter dem nächsten Punkt „Wohltätigkeit und Menschenliebe“ zunächst Zuwendungen an die Dürftigen und Invaliden aufgeführt werden. So fühlten sich die Kreisstände aus Anlass der Geburtstage des Königs und des Prinzregenten bewogen, jeweils 100 Taler für mildtätige Zwecke zu geben und der strenge Winter forderte von den Armenvorständen höhere Ausgaben. Sie seien aus Sorge für die Dürftigen überall tätig geworden, um die Noth zu steuern.

Zu „Wohltätigkeit und Menschenliebe“ zählte aber auch der Bau eines zeitgemäßen Krankenhauses in Stadtlohn. Die feierliche Grundsteinlegung war am 14. Mai 1860. Das Landratsamt gab sich optimistisch, dass das Gebäude nach dem darüber gefertigten Bauplan ... durch seine Größe, Bauart und Einrichtung eine Zierde der Stadt werde. Jedenfalls würde einem lange gefühlten dringenden Bedürfnis abgeholfen. Pfarrvikar Linnemann käme das Verdienst zu, die Mittel für das Krankenhaus beschafft zu haben, er sei seit langen Jahren für die Förderung dieser Anstalt aufs eifrigste bemüht gewesen. Die Arbeiten schritten lebhaft voran; man hoffte im Juli auf Fertigstellung bis Ende September 1860.

Ursprünglich bestand das Krankenhaus nur aus einem langgestreckten, dreiteiligen Gebäude
mit Treppengiebel über dem Haupteingang und Dachreiter. -
Abb. mit freundl. Genehmigung des Stadtarchivs Stadtlohn.

Allerhöchste Ehren für den verdienten Pfarrvikar?

Das hier am Orte im Bau begriffene Krankenhaus wurde am 25. September unter Dach gebracht, meldete die Gemeinde Stadtlohn an das Landratsamt und strich bei der Gelegenheit Linnemann heraus, der seit 14 Jahren unermüdlich und uneigennützig bei nahen und entfernten Bekannten und Freunden ... Liebesgaben eingesammelt habe. Mehrere Bürger Stadtlohns hätten für den Vikar ein Festmahl veranstaltet  und bei dieser Gelegenheit als dankende Anerkennung ein Ehrengeschenk, bestehend aus einer silbernen Tabatiere unter einer geeigneten Ansprache überreicht. Nun wäre zu wünschen, dass dem Gründer dieser wohlthätigen Anstalt auch Allerhöchsten Orts eine Anerkennung zu Theile würde, die er in vollem Maaße verdient habe.[14] Hilgers antwortete dem Magistrat in Stadtlohn, er sei gern bereit, sich für Linnemann zu verwenden und um eine besondere Anerkennung nachzusuchen, benötige aber noch einige Angaben. Es folgte eine sechs Punkte lange Liste, die einer kompletten Projektbeschreibung nicht ganz unähnlich war. Der Verwalter im Landratsamt wollte die Größe und den Wert der Grundstücke, des Gebäudes und der Einrichtung wissen, über die sonstige Ausstattung ebenso informiert werden, wie über die Fonds zur Unterhaltung und die innere Einrichtung der Anstalt bezüglich der Krankenpflege. Schließlich interessierte die Kreisbehörde, in welcher Art der Linnemann für die Beschaffung der Baumittel thätig gewesen sei – und: Die Beifügung einer etwaigen Zeichnung des Gebäudes wäre erwünscht.[15]

Die Bezirksregierung lehnt ab

Nach einem Monat hatte das Landratsamt alle Angaben und Unterlagen beisammen und als Antrag der Regierung in Münster eingereicht,[16] aber man sah dort – bei aller Anerkennung, welche wir den Verdiensten des Vikarius Linnemann in Stadtlohn um Errichtung eines Krankenhauses daselbst zollen – keine Veranlassung, die Verleihung einer Auszeichnung an denselben Allerhöchsten Ortes außerordentlich zu beantragen.[17] Hilgers bedauerte den Misserfolg und gab dem Magistrat in Stadtlohn – da ein direkter Antrag von seiner Seite nicht zulässig sei – die Zeichnung und den Bericht zurück.[18]

Siegelmarke Regierung Münster, Privatbesitz, Foto: dg.

Versuche, den Militärdienst zu umgehen: Bestechung, Auswanderung

Verbrechen von Bedeutung sind den „Zeitungsberichten“ zufolge nicht bekannt geworden. Die öffentliche Sicherheit blieb fortwährend in erfreulicher Weise ungefährdet und Diebstähle sind nur einzelne und auch nur unerhebliche vorgekommen. Fremde Bettler und arbeitslose Personen ließen sich nur ganz vereinzelt blicken. Die meisten Berichte wiederholen unter „Verbrechen“ und „Polizei“ ähnliche Eintragungen und beschreiben so ein insgesamt unaufgeregtes Leben im Kreis Ahaus mit vielleicht einer Ausnahme:

Kreis-Ersatzaushebung : Wurde ein Militärarzt bestochen?

Im Mai war von der Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung die Rede. Es sei versucht worden, den zur diesjährigen Kreis-Ersatzaushebung kommandierten Militärarzt zu bestechen und nun werde gegen verschiedene Ersatz-Pflichtige und andere Teilnehmer an dieser Handlung ermittelt. Die Verhandlung vor dem Kreisgericht Ahaus endete mit Schuldsprüchen und Urteilen gegen einen Gastwirt und einen Landwehrangehörigen. Die Richter hatten zu befinden, in welcher Absicht der Wirt Geld an den Militärarzt gezahlt hatte und als bewiesen erkannt, dass der Arzt dazu gebracht werden sollte, seine Amtspflichten zu verletzen. Der Wirt wurde zu zwei Jahren und der Landwehr-Artillerist zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, beide mit zeitweiser Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte.[19] Als dann bekannt wurde, dass sich der Arzt nur wenige Tage nach seiner Abreise durch Gift das Leben nahm, erregte der Fall eine größere Aufmerksamkeit und wurde im „Westfälischen Merkur“ kontrovers diskutiert.[20]

Zeitungs- und Pressearchiv, ULB Münster, Foto: dg.

Die Beiträge bewerteten die Motive und die Glaubwürdigkeit der Beteiligten unterschiedlich und kritisierten die Beweisführung. Der eine Artikel charakterisierte den Arzt als einen im besten Ruf stehenden Beamten, der andere stand eher auf Seiten der beiden in allgemeinster Achtung stehenden Angeklagten. Ganz nebenbei stritten die Autoren aber auch darüber, wie man es im Kreis mit der Militärpflicht halte. Hier sei selten eine der Bestechung angeklagte Person verurteilt worden, behauptete die eine Seite und fügte hinzu, man habe von der gerichtlichen Verhandlung den Eindruck mitgenommen, dass den Kreisbewohnern die Wege zu ungesetzlicher Befreiung Militairpflichtiger nicht fremd waren und ohne große Scheu betreten wurden. – Der Verfasser..., konterte die Gegenseite, ist wahrscheinlich erst sehr kurze Zeit hier, da er den schlichten und biederen Sinn der hiesigen Kreiseingesessenen so wenig kennt. In der Verhandlung seien Fälle aus früheren Jahren nicht zur Sprache gekommen, (denn) hier sei niemals eine Bestechung bekannt geworden, geschweige denn gerichtlich untersucht worden. Im Übrigen meldete die Kreisverwaltung für das laufende Jahr einen ausgehobenen Ersatz von ...131 Mann. Nur einer der Pflichtigen sei entwichen und zwei Pflichtige, die den gleichen Versuch machten und sich nach America begeben wollten, sind in Bremen abgehalten, von dort hierher zurücktransportiert und zur Einstellung gebracht worden.

Auswanderung

Nicht nur Militärdienstpflichtige suchten ihr Glück in Übersee. Im Januar 1861 stellte die Kreisbehörde fest: Die Auswanderungslust ist auch im abgelaufenen Jahre sehr rege gewesen. 307 Personen verließen 1860 den Kreis Ahaus, davon wurden 178 mit offizieller Entlassungsurkunde (Konsens) aus dem Königreich Preußen verabschiedet, 129 gingen ohne Konsens. Der bei weitem größte Teil wanderte mit Papieren nach Nordamerika aus, von denen, die ohne Konsens das Land verließen, machte sich der größte Teil auf den Weg nach Brasilien.

Chausseen – Trassen der wirtschaftlichen Entwicklung

Unter dem Punkt „Öffentliche Bauten“ berichtete das Landratsamt 1860 in erster Linie über Chausseebau. Bis in die 1850er Jahre wurde in staatlicher Regie ein weitmaschiges Netz von Chausseen geschaffen, das die Provinzen mit der Hauptstadt und dem Ausland verband.  Münster wurde zum Knotenpunkt eines den nordwestlichen Teil der Provinz Westfalen erschließenden Straßennetzes.[21] Die nach Holland führende Straße berührte das nördliche Kreisgebiet, durchquerte Gronau und überschritt bei Glanerbrug die Grenze.  Mit diesem kleinen Anteil an dem Netz der Fernverbindungen war der Kreis Ahaus selbst noch nicht erschlossen. Wie an vielen Orten im Münsterland befassten sich die Kreis- und Gemeindebehörden mit Chausseebau, um der wirtschaftlichen Entwicklung den Weg zu bahnen. Der Staat hatte sich von der Aufgabe zurückgezogen und beschränkte sich darauf, die kommunalen Anstrengungen mit Privilegien und Prämien zu belohnen.[22] Die Bauvorhaben strapazierten die Kommunen arg und auch der Kreis Ahaus geriet durch den Straßenbau finanziell unter Druck.

Landrat mit einschlägigen Erfahrungen

Hilgers konnte in seiner Zeit in Lüdinghausen Erfahrungen mit dem Straßenbau sammeln, dort rief er einen Zweckverband aus vier Städten und Gemeinden ins Leben und hielt als Vorsitzender der Chausseebaukommission die Fäden in der Hand. Das fand die Anerkennung der Regierung in Münster, die ihm unter anderem bescheinigte, dass er für größere neue Straßenanlagen sowie die Wiederaufnahme älterer Projecte ... die Theilnahme der Gemeinden kräftig angeregt habe.[23] Dem nach dem Urteil seiner Ausbilder eher praktisch begabten Hilgers scheint es gefallen zu haben, über Möglichkeiten und Chancen eines Raumes nachzudenken und die Regierung mit diesbezüglichen Überlegungen zu konfrontieren. In Sachen Chausseebau hatte sich Hilgers schon in Lüdinghausen engagiert und meinungsfreudig gezeigt.

Welche Trassen sollen das Kreisgebiet erschließen?

Über den Kreis Ahaus erschien im Februar 1860 ein Artikel in dem „Westfälischen Merkur“, der sich wie eine Verlautbarung aus amtlicher Quelle liest, aber leider nicht gezeichnet ist.[24] Hilgers hätte wohl in dieser Art geschrieben und der Zeitpunkt der Veröffentlichung wäre ihm recht gewesen. Ende Januar waren die Einladungen für den nächsten Kreistag, der am 28. Februar stattfinden sollte, verteilt worden. Auf der Tagesordnung standen auch Entscheidungen zum Chausseebau.

Wie zur Vorbereitung der Sitzung berichtete der „Merkur“ in seiner Ausgabe vom 10. Februar, dass allerhöchste Erlasse aus dem Oktober 1859 den chausseemäßigen Ausbau auch der im Kreise Coesfeld liegenden Theile der Strecke von Coesfeld über Legden nach Ahaus genehmigt hätten.[25] Folglich müsse man im Kreis Ahaus den von den Ständen schon beschlossenen Bau der Straße bis zur Kreisgrenze zur Ausführung bringen.

Grafik: Dieter Gewitzsch

Allein, es hatten sich einige Rahmenbedingungen verändert. Ein weiteres Vorhaben – der inzwischen von den Gemeinden Gronau, Epe, Nienborg und Heek begonnene Bau einer Kreisstraße von Nienborg nach Gronau – war soweit vorbereitet, dass man damit rechnen konnte, Ende Oktober 1860 fertig zu werden. Wenn zudem in den nächsten Tagen in Holland die Entscheidung für den Bau einer Eisenbahn von Arnheim nach Enschede fiele, wäre für die nordwestlichen Theile der Kreise Ahaus und Coesfeld  eine Verbindung über Nienborg nach Gronau von großer Wichtigkeit. Angesichts der sich verändernden Lage drängte sich für den „Merkur“ unwillkürlich die Frage auf: ob es für den Amtsbezirk Legden und für den Kreis Coesfeld nicht wichtiger sei, jetzt von Legden über Asbeck nach Heek zu bauen, als nach der bisherigen Kreisständischen Proposition von Legden direkt nach Ahaus. Möglich, dass es 1860 naheliegend war, regionale Verbindungen auf die Kreisstadt zu beziehen; der „Merkur“ machte sich die andere Perspektive zu Eigen: Würde man die Trasse von Legden über Asbeck und Heek nach Norden führen und später einen Abzweig von Asbeck nach Osterwick, dann wäre die ganze Kleigegend, die eigentliche Kornkammer Münsterland’s, durch eine direkte Chaussee mit der holländischen Eisenbahn verbunden. Die besten Theile des Amtes Legden und die große Bauerschaft Gemen – im Kirchspiel Schöppingen – würden von dieser Straße durchschnitten, deren Werth für die fruchtbaren Gemeinden Asbeck, Holtwick, Osterwick, Darfeld, Billerbeck nicht zu berechnen wäre; endlich bekäme der Kreis Coesfeld hierdurch eine Chaussee-Verbindung mit den wichtigen Bentheimer Steinbrüchen.

Die Straße suchte die Eisenbahn, einen Anschluss an die Niederlande, an Absatzmärkte für Produkte aus fruchtbaren Lagen des Kreises. Chausseen können nur zur Belebung des Ackerbaues und der Industrie gebauet werden, schloss der „Merkur“ sein Plädoyer für die Linie von Heek auf Legden.

Ende November 1860 berichtete das Landratsamt der Regierung: Die neue Chaussee von Nienborg über Epe nach Gronau ist soweit ausgeführt, daß sie dem öffentlichen Verkehr übergeben werden kann. – Und wie kam man nach Nienborg?

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[1] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 2017, Zeitungsberichte. Wenn nicht anders zitiert, folgt der Text dieser Akte.
[2] Vgl. Kahmann, Uli, Manuskript eines Hörfunkbeitrags, Sendung: 1. Dezember 1998, WDR 3, “Am Abend vorgestellt”: Zeitungsberichte waren auf allen Ebenen der Behördenhierarchie fällig, wobei die jeweils höhere Stelle aus der Vielzahl der eingegangenen Mitteilungen ein Konzentrat zusammenstellte, das mit den Parallelberichten der gleichrangigen Ämter wiederum eine Stufe weitergeleitet wurde. So entstand eine lückenlose Kette abnehmend redundanter Berichte vom untersten Distrikt bis hinauf zur Bezirksregierung. Die Quintessenz dieser Mitteilungen erreichte schließlich die Hauptstadt des Reichs.
[3] Varioloiden oder modificirte Blattern, lat. varioloides, sind eine fieberhafte, ansteckende Ausschlagskrankheit, eine Abart der ächten Blattern, (s. d.), welche hauptsächlich solche Personen befällt, die schon geimpft wurden aber durch die Impfung die Anlage für die ächten Blattern nicht gänzlich verloren haben. In Verlauf u. Form der Blattern sind die V. den ächten Blattern ähnlich, aber viel milder u. gefahrloser, das Fieber ist gelinder und das bösartige Eiterungsfieber der ächten Pocken am 9. Tag, sowie der eigenthümliche Pockengeruch fehlen. - Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 582. – Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003555062.
 [4] Lutz, Heinrich, Zwischen Habsburg und Preußen: Deutschland 1815-1866 (Die Deutschen und ihre Nation;  Bd. 2), Berlin 1985, S. 415.
[5] Statistische Darstellung des Kreises Ahaus, Reg.-Bez. Münster: 1861, Kreis Ahaus, Ahaus 1863, S. 84. – urn:nbn:de:hbz:6:1-62219
[6] Hermann Josef Stenkamp, Wie die Baumwollverarbeitung ins Westmünsterland kam – und blieb, in: Geschichte der Textilindustrie im Westmünsterland, Hrsg. Erhard Mietzner, Winfried Semmelmann u.a., Vreden 2013, S. 62.
[7] Stenkamp, a.a.O., S. 63. – Stenkamp zitiert Statistische Nachrichten über den Kreis Coesfeld 1862, Münster 1864, S. 52.
[8] Statistische Darstellung des Kreises Ahaus, Reg.-Bez. Münster: 1861, Kreis Ahaus, Ahaus 1863, S. 83ff. – Falls nicht anders zitiert, folgen die Ausführungen zur Nesselweberei dieser Quelle.
[9] Statistische Darstellung des Kreises Ahaus 1861, a.a.O., S. 33f.
[10] Faktor (lat., d.i. der Machende, Besorgende), Geschäftsführer, bes. in Fabriken, Hüttenwerken, Buchdruckereien; Vermittler zwischen Arbeitern, die in ihrer eigenen Behausung arbeiten, und dem Fabrikanten (s. Zwischenmeister) – Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 554. – Permalink: zeno.org/nid/2000109601X – Die „Statistische Darstellung“ zählt 36 Meister oder für eigene Rechnung arbeitende Personen.
[11] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 1451 – Text folgt dem Schreiben vom 28.02.1860.
[12] Vgl. dazu die Statistische Darstellung Ahaus 1861, a.a.O.: Der Fabrikbetrieb war insgesamt unerheblich. Es gab vier Maschinenspinnereien, eine für Wolle in Nienborg und drei für Baumwolle in Gronau und Epe, die von Industriellen aus dem benachbarten Holländischen und Hannoverschen gegründet wurden und sich im Ganzen recht guten Erfolgs freuten. Die Fabriken betrieben zusammen 12.950 Feinspindeln und beschäftigten 217 Arbeiter, davon 63 Frauen.
[13] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 2017 – Bericht vom 20.03.1860.
[14] - [18] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 2017.
[19] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 2017 – Bericht für die Monate Juni/Juli 1860.
[20] Westfälischer Merkur, Münster, Nr. 170 vom 27.07.1860 und Nr. 174 vom 01.08.1860.
[21] Dieter Gewitzsch, Plattes Land sucht Anschluss, Die Chaussee von Lüdinghausen über Selm und Bork nach Lünen 1850-1870, Selm 2013, S. 14.
[22] a.a.O., S. 15.
[23] GStA PL Berlin I. HA Rep 77, Nr. 1233.
[24] Westfälischer Merkur, Münster, Nr. 33 vom 10.02.1860.
[25] GS 1859, Nr. 5147, S. 561f.  


 
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