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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Biografische Skizzen:
Franz Jakob von Hilgers, Landrat und Abgeordneter, * 1810 – † 1877

Dieter Gewitzsch

Verwalter im Landratsamt Ahaus (Teil 1)

Im Kreis Ahaus verstarb am 5. September 1859 der erst 31 Jahre alte Landrat Julius von Hülst.[1] Seine Laufbahn begann der am 9. August 1828 in Münster geborene Hülst 1850 als Auskultator beim Appellationsgericht in Münster; er wurde 1853 Gerichtsreferendar und noch im selben Jahr als Regierungsreferendar bei der Regierung in Münster angenommen. Von März bis Oktober 1856 vertrat Hülst den erkrankten Landrat Karl von Basse im Kreis Steinfurt und ab Dezember wurde er mit der kommissarischen Verwaltung des Landratsamts in Ahaus beauftragt. Ein knappes Jahr verwaltete Hülst das Amt für den altersschwachen Landrath von Heyden, bevor er im Dezember 1857 definitiv zum Landrat des Kreises Ahaus ernannt wurde. Hülst genoss das Vertrauen der Mehrheit des Ahauser Kreistages, der ihn im Mai 1857 mit zehn von fünfzehn Stimmen zum ersten Kandidaten für das Amt wählte.

Ausschnitt einer Ansichtskarte, gelaufen 1913, mit freundlicher Genehmigung der Stadt Ahaus.

Der junge Landrat starb auf Gut Sonderhaus, das er im Oktober 1858 von dem Kaufmann Theodor Oldenkott erworben hatte.[2] Das Haus in der Bauerschaft Ammeln, damals unweit der Stadt Ahaus, wurde in der Zeit von 1858 bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts von sechs Landräten bewohnt. Hülsts Witwe Katinka, geb. Russel, verkaufte das Gut 1862 an den gewählten Nachfolger ihres Mannes, den Freiherrn Maximilian von Kerckerinck zu Borg. In der Zwischenzeit, von Ende 1859 bis Anfang 1861, zog Franz Jakob von Hilgers als kommissarischer Verwalter des Landratsamtes Ahaus auf Gut Sonderhaus ein.[3]

Berlin hatte unverzüglich auf das verwaiste Landratsamt in Ahaus reagiert. Minister Schwerin nahm – wie gegenüber Hilgers angekündigt – die nächste Gelegenheit wahr und teilte mit Datum vom 18. September 1859 dem in Köpenick Wartenden mit, dass er beschlossen habe, ihm gegen zwei Taler täglich die kommissarische Verwaltung des Kreises Ahaus zu übertragen. Er solle sich so bald als möglich nach Ahaus begeben, aber sich vorher bei der Regierung in Münster vorstellen und von der Königlichen Regierung die nähere Anweisung wegen der Geschäftsübernahme erhalten.[4]

Ein Auftrag ganz nach Hilgers' Wünschen

Am 29. September 1859 übernahm Hilgers die Verwaltung des Landratsamts Ahaus an.[5] Es war ein Auftrag ganz nach seiner Vorstellung. Vor allem anderen wünschte sich der Landrat z.D. ein Kommissorium als ... Übergang zu definitiver Anstellung[6], um sich als Vertreter im Amt zu bewähren. In Altenkirchen war es ihm gelungen, aus der Stellvertretung ins Amt zu kommen. „Lüdinghausen“ stand auch auf seiner Habenseite;  dort hatte er sich die Anerkennung der Regierung erworben und ihm wurde bestätigt, mit den Menschen im südlichen Münsterland zu Recht gekommen zu sein, aber er kam für eine dauerhafte Übernahme des Landratsamtes nicht in Frage. Jetzt sah er wieder den von ihm favorisierten Weg ins Amt offen und erinnerte sich, dass ihm vom Innenminister bedeutet wurde, er werde sein Mandat als Abgeordneter ... niederlegen müssen ... wenn ihm eine amtliche Stellung wieder zugewiesen werde. Dazu hatte er sich schriftlich bereit erklärt. Am 9. Februar 1860 erfüllte er die eingegangene Verpflichtung und legte sein Mandat für die fünfte Legislaturperiode des Hauses der Abgeordneten, in der er sich der Fraktion von Vincke angeschlossen hatte, nieder.[7]

Ein kurzer Blick zurück

Nach der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Ausdehnung Preußens nach Westen ordnete der Staat sein Territorium und richtete am 30. April 1815 insgesamt zehn Provinzialbehörden ein. Die neue Provinz Westfalen wurde in die Regierungsbezirke Münster, Minden und Arnsberg aufgeteilt. In Münster nahm die „Königliche Regierung“ Anfang August 1816 ihre Arbeit auf. Eine der ersten Amtshandlungen war die Unterteilung ihres Bezirks in zehn Landkreise und den Stadtkreis Münster.[8] Das war auch die Geburtsstunde des Kreises Ahaus.

Kreisverwaltung 1860: Was ist eilig, was ist wichtig?

In diesen Jahren bestand das beamtete Personal des Kreises Ahaus aus dem Landrat, dem Kreis-Deputierten als Stellvertreter und ferner dem Kreissekretair und Kreisboten.[9] Neben der laufenden Verwaltung erwartete man von der nicht üppig ausgestatteten Kreisbehörde alle drei Jahre eine Uebersicht sowohl über die statistischen und sonstigen Verhältnisse, als besonders auch über die Resultate der Verwaltung des Kreises.

Minister mahnt fällige Statistik an

Im April 1859 sah das Innenministerium die Zeit zur Erinnerung gekommen und forderte die Bezirksregierung Münster auf, die Landräte zu ermuntern, ihre „Statistische Darstellung“ abzugeben.[10] Eine entsprechende Verfügung erreichte das Landratsamt im Mai, blieb aber unbearbeitet, bis Hilgers sie unter den von seinem Vorgänger wegen Krankheit zurückgelegten Sachen fand.[11] Aber nicht nur Ahaus war im Rückstand, auch in Lüdinghausen hatte man die Statistik aufgeschoben und musste um Fristverlängerung bitten. Fast zeitgleich gingen recht unterschiedliche Schreiben in Münster ein. Landsberg bat für Lüdinghausen um acht Tage Ausstand ..., da es bei den vielen sonstigen Arbeiten bisheran nicht möglich war, die ... Nachweise rechtzeitig vorzulegen. In Ahaus holte Hilgers weiter aus:

Da ich eben erst die Verwaltung des hiesigen Kreises angetreten habe, so sind mir die Verhältnisse desselben noch fremd, und habe ich einige Zeit nöthig, um mich damit bekannt zu machen. Eine von mir schon jetzt gelieferte Darstellung der statistischen Verhältnisse und der Verwaltungs-Resultate könnte daher nur mangelhaft und in manchen Dingen unzutreffend ausfallen.Königliche Regierung bitte ich demnach, mich von der Ausarbeitung fraglicher Darstellung zu entbinden.[12]

Hilgers hat keine Zeit für Formsachen ...

Erwartete der Verwalter des Landratsamtes tatsächlich, von der Aufgabe entbunden zu werden, dann lag er damit falsch. Münster wartete, vergaß nicht und verlangte zehn Monate später durch Erlass die Nachlieferung statistischer Nachrichten aus dem Kreis Ahaus. Dort standen im August 1860 allerdings andere Dinge auf der Tagesordnung und Hilgers nutze die Gelegenheit, der Regierung einen außerordentlichen Bericht zur Lage zu geben.[13] Er könne nicht übersehen, ob es sich bei der Statistik nur um Erfüllung einer Form handele, oder um eine Pflicht, die bestenfalls verschoben werden könne. Angesichts der akuten Aufgabenfülle bliebe ihm nichts übrig, als unbedingt abermals um Erlaß der Arbeit zu bitten. Hilgers sah beim Chausseebau und – eng damit verbunden – bei der Ordnung der Kreisfinanzen Handlungsbedarf, dem er vorrangig nachkommen wolle.

... und klagt, früher habe man "ins Wilde" und "ins Blaue" hinaus gearbeitet.

Ich bin in diesem Augenblick mit der Ausgabe der neuen Zinscoupons und Talons der Kreisobligationen beschäftigt, schrieb er der Regierung und ließ nicht unerwähnt, dass diese Arbeit seine Zeit erheblich in Anspruch nähme und keine Zögerung dulde. Früher sei ins Wilde hinaus gearbeitet worden und der Kreis stünde vor seiner Bankerott-Erklärung, wenn nicht umfassende Maßnahmen getroffen würden. Ein Etat der Kreisausgaben sei nicht aufgestellt worden, jetzt müsse er denselben für nächstes Jahr vorbereiten, um nicht ferner ins Blaue hinaus zu arbeiten. Man habe in der Vergangenheit kaum Schulden getilgt, sondern immer neue gemacht. 300 000 Taler stünden mindestens zu Buche. Da man Umlagen ausgeschlagen hätte, seien unter anderem die Kosten für Unterhaltung  und Beaufsichtigung der Chausseen fortwährend den Schulden ... zugewachsen.

Ich bin genöthigt den Kreisständen umfassende Vorlagen wegen der Rechnungs-Angelegenheiten der Kreis-Chaussee-Bauten zu machen, fuhr Hilgers fort und verwies auf die frühere Praxis, Grundstücke zu den Chausseebauten ohne Abkommen und Zahlung von den Eigentümern genommen zu haben. Die so Beschädigten drängten jetzt und er sei deshalb fortwährend mit den Regulirungen beschäftigt. Dazu stünde die Übernahme weiterer von den Gemeinden gebauten Straßen durch den Kreis an und er habe mit anderen Worten die Revision der Baurechnungen à 88 000 Taler festzustellen. Dann platzte dem Briefschreiber der Kragen:

Ich muß endlich die ganz verkommenen älteren Chausseebau-Angelegenheiten und Rechnungen für die Chaussee in den Gemeinden Schöppingen in ordnungsmäßige Lage bringen. Ich habe Zeit nöthig gehabt, in dieses Chaos, welches durch die gänzliche Unfähigkeit meines Vorvorgängers und die andauernde Krankheit meines Vorgängers erwachsen ist, einige Einsicht zu gewinnen, und kann, wenn ich auch nicht lange bleiben sollte, die Angelegenheiten nicht in der Lage belassen, worin ich sie befunden habe. Ich kann nicht zögern, in diesen Angelegenheiten in durchgreifender Weise vorzugehen, da ja, wie bemerkt, sonst alle Zahlungen eingestellt und der Kreis sich insolvent erklären muß, und habe deshalb die Kreisstände gegen das Ende des Monats eingeladen.

Königliche Regierung hoffe ich, wird ermessen, daß unter diesen Umständen ich kaum im Stande bin, mich mit Zusammenstellung statistischen Materials zu befassen.

Wahl eines Nachfolgers für den Landrat von Hülst

Noch im November 1859, zehn Wochen nach dem Tode des Landrats von Hülst, ordnete die Regierung in Münster die Wahl eines Landrats für den Kreis Ahaus an und bestimmte den Landrat des benachbarten Kreises Borken, von Hamelberg,[14] zum Wahlkommissar. Die Wahl sollte am 30. Mai 1860 stattfinden. Bis dahin hatte das Landratsamt alle die Wahl betreffenden Verhältnisse zu prüfen und auf den aktuellen Stand gebrachte Wahlunterlagen vorzubereiten. Trotz vieler Vorschriften und einer geübten Praxis konnten nicht alle Fragen des aktiven Wahlrecht und der Wählbarkeit einvernehmlich geklärt werden; es kam zu Auseinandersetzungen um den Wähler Hubert von Heyden und den Bewerber Max von Kerckerinck Borg.

Notabeln vergrößern den Kreis der Wählbaren

Eigentlich ging man davon aus, dass es in jedem Kreis mehr als zwei geeignete Rittergutsbesitzer gibt, die auch bereit sind, das Landratsamt zu übernehmen. Dann hätte man unter diesen Personen den Wunschkandidaten bestimmen können, aber die Verhältnisse waren oft anders, so auch im Kreis Ahaus. Die Bezirksregierung teilte Hamelberg schon mit der Berufung zum Wahlkommissar mit, dass man in Münster keine Bedenken hätte, wenn außer den Rittergutsbesitzern auch Notabeln auf die Wahlliste gebracht werden. Landrat Hilgers habe deshalb den Auftrag erhalten, nicht nur die Liste der Kreistagsabgeordneten (der Wähler) zu vervollständigen, sondern auch die Aufstellung eines Verzeichnisses der Notablen [der Wählbaren] vorzubereiten.[15] Das erweiterte den für eine Kandidatur zur Verfügung stehenden Personenkreis bis zu einer genau beschriebenen Grenze der Notabilität, welche die Regierung 1838 für jeden Kreis festgesetzt hatte. Danach konnte der nächstgrößere ländliche Grundbesitz in die Gruppe der Wählbaren aufsteigen. In Ahaus mussten die Besitzungen eine Steuerkraft von vierzig Talern aufweisen, brauchten aber kein geschlossenes Gut bilden. Es genügte, dass sie in den Landgemeinden des Kreises lagen. Güter in den städtischen Feldmarken konnten nicht zur Begründung der Notabilität und Wählbarkeit herangezogen werden.[16] Am Tag der Wahl erfüllten 37 Notabeln diese Kriterien. Um einen von ihnen hatte es Streit gegeben, und derselbe wollte Landrat werden.

Ist Max von Kerckerinck zur Borg wählbar?

Max von Kerckerinck Borg,[19] Sohn des Rittergutsbesitzers Freiherrn Engelbert von Kerckerinck Borg und der Freiin Franciska von Ascheberg, war zur Zeit seiner Bewerbung 30 Jahre alt und seit vier Jahren als Regierungsreferendar in Münster tätig. Zügig hatte er die üblichen Stationen einer seinem Stande entsprechenden Ausbildung absolviert: Privatunterricht im Elternhause und Gymnasialausbildung in Münster führten zum Studium der juristischen und kameralistischen Wissenschaften ... auf den Universitäten Würzburg, Heidelberg, Bonn und Berlin. Nach drei Jahren schloss er sein Studium mit dem ersten juristischen Staatsexamen ab. In den Staatsdienst eingetreten, begann er als Auskultator beim Kreisgericht Münster. Diesen Ausbildungsabschnitt, den er mit dem Militärdienst verband, beendete er 1866 mit dem zweiten Staatsexamen. Nach einem Jahr als Appellationsgerichts-Referendar wechselte er in die Verwaltung. Als Kerckerinck Borg in Ahaus für das Landratsamt kandidieren wollte, hatte der vergleichsweise junge Bewerber sämtliche Stationen bei der Regierung in Münster durchlaufen, ihm war die Qualifikation zur höheren Staatsprüfung bescheinigt worden und er war von der Ober-Examinations-Kommission zur Prüfung zugelassen. Praktische Erfahrungen mit dem Amt konnte er als Vertretung für den beurlaubten Landrat des Kreises Steinfurt sammeln.[20]

Gehört der junge Bewerber auf die Liste der Notablen?

Ende Januar 1860 wandte sich Kerckerinck Borg an den Wahlkommissar Hamelberg mit dem Ersuchen, ihn in die Liste der Notabeln des Kreises Ahaus aufzunehmen.[21] Das Verzeichniß der zur Notabilität berechtigenden ländlichen Güter sollte zur Landratswahl vorliegen. Kerckerinck wollte zu den Notabeln gehören, um wählbar zu sein. Zu diesem Zweck hatte der Kandidat verschiedene im Kreise Ahaus belegene Kolonate erworben;[22] jetzt reichte er dem Wahlkommissar Kaufverträge und Nachweise zur Steuerkraft seines Besitzes ein. Hamelberg stand dem Bewerber nicht abweisend gegenüber, musste ihn aber belehren, dass es Aufgabe des Landratsamtes sei, das Verzeichnis zu erstellen und amtlich zu bescheinigen. Als Wahlkommissar könne er die Liste nicht verändern, sondern nur die Kreisvertretung am Wahltag auffordern, eine nachträgliche Aufnahme Kerckerincks in das Verzeichnis der Notabeln zu gestatten.  Für den Erfolg einer so gemachten Operation vermag ich die Garantie nicht zu übernehmen, schrieb Hamelberg und ermutigte den Bewerber, den Antrag an das Landrathsamt Ahaus zu stellen. Der Kaufvertrag sei so bündig, daß man sich wohl hüten wird, denselben zu bemäkeln.[23]

Hilgers bezweifelt den Grundbesitz Kerckerincks und...

Der letzte Satz des Briefes verriet eine gewisse Skepsis gegenüber dem zuständigen Verwalter des Landratsamtes, die Kerckerinck vermutlich teilte. Nicht zu Unrecht fühlte er sich mit seinem Anliegen bei Hamelberg besser aufgehoben als bei Hilgers, der sich weigerte, den potentiellen Bewerber um das Landratsamt auf die Liste der Notabeln zu bringen. Dafür – so Hilgers gegenüber Hamelberg – lägen In dem abgeschlossenen Grundstücksgeschäft zu viele Unsicherheiten.[24] Hilgers war sich nicht sicher, ob der fragliche Grundbesitz in allen Teilen ordnungsgemäß in das Eigentum Kerckerincks übergegangen war und die erforderliche Steuerkraft von 40 Talern besaß. Zur Klärung wurden Papiere beschafft und zeitaufwendig hin und her verbracht, man agierte kleinlich und brauchte bis Mitte Mai, bevor Hamelberg deutlich wurde: Er könne Hilgers‘ „Unsicherheiten“ mit Hilfe der ihm vorliegenden Belege nicht nachvollziehen und fordere den Landrat auf, Gründe anzugeben, weshalb er seinem Ersuchen nicht zu entsprechen vermag.[25] Der so Angesprochene reagierte postwendend und erklärte, dass er bei seiner Weigerung bleibe. Dann versuchte er, Hamelberg zu überzeugen: Die Königliche General-Kommission habe den Kauf gewisser Grundstücke unter Bedingung genehmigt, dass binnen drei Monaten die gehörige Verwendung des Kaufpreises nachgewiesen werde. Die Frist sei abgelaufen, der Nachweis aber noch nicht erbracht. Der Grunderwerb sei daher unwirksam. Ein Teil der Grundstücke habe übrigens nicht verkauft werden dürfen, anders gewendet, Kerckerinck habe sie nicht kaufen können, weil der Vater des Verkäufers sämtliche Güter mit Fideikommiss belegt hatte. – Beide Einwände führten zum gleichen Ergebnis. Ohne die fraglichen Grundstücke kamen die 40 Taler Principal-Grundsteuer nicht zusammen. Nach Hilgers‘ Überzeugung erfüllte Kerckerincks Grundbesitz die Bedingungen für eine Aufnahme in das Verzeichniß der zur Notabilität berechtigenden ländlichen Güter nicht.

…verschärft den Ton der Auseinandersetzung

Solcher Art Einwände hätten bei gutem Willen mit einem überschaubaren Aufwand aus der Welt geschafft werden können, aber Hilgers legte nach und verlor sich in Unterstellungen und Verdächtigungen. Verkäufer und Käufer hätten den Vertrag zu Münster geschlossen, um dessen Mängel vor dem Kreisgericht Ahaus zu verbergen. Zudem sei die Abschrift eines Testaments  durch Auslassungen manipuliert worden. Bisher habe er mit „Unsicherheiten“ den milden Ausdruck gebraucht, spitzte Hilgers zu, jetzt überlasse er dem Wahlkommissar zu urteilen, ob hier nicht eine berechnete Täuschung der Behörden vorliegt. Er möchte den Fall nur ungern verfolgen, weil das schon der Publicität wegen für die Betheiligten sehr unbequem werden würde.[26]

Hamelberg hatte schon früher Vorbehalte gegen den Verwalter im Landratsamt geäußert, bei dem er eine Tendenz zur Deutelei für möglich hielt.[27] Anfang Mai 1860 unterstellten zwei Bürgermeister, zwei Amtmänner und ein Stadtverordneter dagegen dem Wahlkommissar, für die Verzögerung der Landratswahl verantwortlich zu sein und forderten Hilgers auf, recht bald eine Kreisversammlung einzuberufen, die über zweckdienliche Maßnahmen beraten und beschließen sollte.[28] Der Verwalter im Landratsamt informierte den Wahlkommissar über den Vorstoß der fünf kreisständischen Mitglieder und bekannte: Ich vermag mich dem gestellten Antrag nicht zu entziehen. Im Kreis bestünde ohnehin die Ansicht, die Wahl sei früher im Interesse des Herrn von Heyden hingehalten worden und werde jetzt im Interesse des Herrn von Kerkerinck verzögert. Es wäre aber Sache der beiden Herren gewesen ihre jeweilige Qualifikation rechtzeitig nachzuweisen, fügte Hilgers noch hinzu.[29]

Hamelberg läßt sich herausfordern.

Die im Kreise Ahaus vorherrschende Ansicht ... ist eine irrige und durch nichts gerechtfertigte, ließ Hamelberg das Landratsamt wissen und verteidigte sich: Beide Herren habe ich nur, den ersten [Heyden] bei Gelegenheit der letzten Ahauser Landrathswahl im Vorübergehen gegrüßt, den anderen [Kerckerinck] auf Minuten gesprochen; ihren Interessen zu dienen, ist mir nie eingefallen. Hilgers selbst habe im Laufe der Verhandlungen Beschwerden erhoben, die angesichts der Divergenzen von der Regierung zu entscheiden seien. Es bedürfe keines Kommentars, dass das Wahlverfahren bis zur vollständigen Erledigung der Beschwerden unterbrochen werden müsse. Ob das Vorgehen für den Kreis nachteilig sei, könne nur das Landratsamt selbst beurteilen, schloss Hamelberg seine Erwiderung.[30] Der Vorstoß der „besorgten Bürger“ lief ins Leere, aber es ist denkbar, dass die Fünf auch in der Wahlversammlung eine Gruppe bildeten.

Verhärtete Fronten – Kerckerinck legt nach

Derweil beharrten die Kontrahenten auf ihren Standpunkten. Hamelberg forderte Kerckerincks Grundbesitz anzuerkennen, Hilgers lehnte ab. Der Wahltag, der 30. Mai 1860, rückte näher und Hamelberg sorgte sich, der Kreisvertretung ungeklärte Fälle zur Entscheidung zu überlassen. Also bat er Kerckerinck dringend, ihm die Beweismittel zu verschaffen, daß die Angaben des Herrn von Hilgers unbegründet sind. Bis zum 28. Mai würde er die Unterlagen in Bocholt und wenn nötig noch am 29. in Ahaus in Empfang nehmen.  Kerckerinck bündelte binnen weniger Tage Argumente und Dokumente zu einem sehr langen Brief mit vier Anlagen und versorgte damit den Wahlkommissar.[31]

Tatsächlich legte Kerckerinck bei den gewünschten „Beweismitteln“ nach und gab an, dass ihm eine Fristverlängerung für den Nachweis der gehörigen Verwendung des Kaufpreises gewährt worden sei und versicherte im Übrigen, dass eine Nichtbeobachtung derartiger Fristbestimmungen nicht gleich die Wiederaufhebung der in Rede stehenden Exnexuationen [32] [Abtrennungen] zur Folge hat. Da müsse die Königliche Generalkommission schon wiederholt erinnert haben. Keine Rede von einem vollzogenen, belegbaren Nachweis. – 

Die Einwendungen aus dem Landratsamt waren nicht ganz aus der Luft gegriffen. Gleiches galt für die Frage, ob die Grundstücke hätten verkauft werden dürfen. Nach Einsicht in Testamente und Hypothekenbücher, nach Befragung des Kreisgerichts und eines Rentmeisters konnte man die Existenz von Fideikommiss-Bestimmungen nicht leugnen, wohl aber über ihre Wirksamkeit streiten. Nach dem Allgemeinen Landrecht fehle – so Kerckerinck – die Verlautbarung und Bestätigung der betreffenden Urkunde durch den Richter und sogar die landesherrliche Genehmigung. Solange eine solche Urkunde nicht vorläge, sei die Fideikomißeigenschaft als dingliche Qualität noch nicht ins Dasein getreten. Bis dahin bedeute die testamentarische Bestimmung für die Familie des Verkäufers lediglich eine moralische und keine rechtliche Verpflichtung. Daran habe man sich nach Auskunft des Rentmeisters auch gehalten und entlegene Kolonate verkauft, um andernorts den Besitz zu arrondieren – ganz im Sinne des Erblassers und ohne Bedenken der zuständigen Gerichte. Nichts anderes sei in seinem Fall geschehen. Die verkauften Gründe sind ... nach unbestreitbaren Rechtsgrundsätzen unzweifelhaft mein unbeschränktes Eigenthum geworden, zeigte sich Kerckerinck sicher und bat den Wahlkommissar, die angeführten Gründe den Kreisständen zur Prüfung vorzulegen. Er zweifle nicht daran, daß dieselben seine Notabilität anerkennen werden.[33]

Darf Hubert von Heyden wählen?

Wappen der Familie von Heyden, Adolf Matthias Hildebrandt in Wappenbuch des Westfälischen Adels, 1901 - 1903, Wikimedia Commons.

Ähnliche Probleme auf die gewünschte Liste zu kommen, hatte auf der Seite der Wähler Hubert von Heyden. Der Sohn des bis 1856 in Ahaus amtierenden Landrats Theodor von Heyden betrachtete sich selbst als einen der größten, wenn nicht den größten Grundbesitzer des Kreises und wünschte selbstredend bei den Verhandlungen und Beschlüssen auf den Kreistagen ... gerne daselbst vertreten zu sein. Der Vater besaß das Rittergut „Wohnung“ im Kreis Ahaus, die Verhältnisse waren übersichtlich, seine Ansprüche offenkundig. Hubert von Heyden hatte aber das preußische Indigenat [34] aufgegeben und wohnte in Holland. Auch war der Besitz nicht ihm, sondern seinem Sohn, dem Enkel Wennemar übertragen worden, den sein Großvater Theodor als Universalerben eingesetzt hatte. Sohn Hubert wurde zum lebenslänglichen Nutznießer auch des im Kreis Ahaus befindlichen Ritterguts ernannt, Enkel Wennemar war 1860 noch nicht volljährig. Hubert von Heyden war sich im November 1859 nicht sicher, ob unter benannten Verhältnißen das Rittergut Wohnung auf den Kreistagen bei Landrathswahlen ... durch mich oder einen Stellvertreter, welcher preußischer Unterthan ist, vertreten werden kann oder nicht und bat die Regierung in Münster um ihre Ansicht respective Entscheidung.[35]

Münster erinnerte, dass bekanntlich der Kreistag selbst zu beschließen habe, wer als Rittergutsbesitzer zu Kreisversammlungen zugelassen werde.  Dem Landratsamt wurde ein dreibändiges Werk über ständische Gesetzgebung zugestellt, mit dessen Hilfe der Landrat und später auch der Wahlkommissar die ständischen Befugnisse klären sollten, die Ausländer als Besitzer von Rittergütern in Preußen besaßen. Vorangehen müsse jedenfalls die Ableistung des Homagialeides [36] von Seiten des ausländischen Besitzers.[37]

Hilgers war zum Jahresbeginn 1860 gerade drei Monate in dem Kommissorium, dass er sich als Chance für den Übergang zu definitiver Anstellung [38] gewünscht hatte. Er wollte sich als Vertreter bewähren und für ein Amt empfehlen, das er mochte, für das er sich geeignet fühlte. Zu diesem Zeitpunkt ist ihm eher Eifer als Quertreiberei zu unterstellen. Der neue Mann im Landratsamt prüfte die Angelegenheit „Hubert von Heyden“ und ließ den Wahlkommissar Hamelberg an seinen Überlegungen teilhaben:

Die Verhältnisse sind richtig von ihm angegeben, sein Sohn Wennemar ist Eigenthümer, er Vormund und Nutznießer, beide sind Holländer.
Ich erlaube mir indeß anzuführen, daß die Ableistung des Homagial-Eides von Seiten des Hubert von Heyden nicht zur Ausübung der kreisständischen Rechte zu genügen scheint. Hubert von Heyden kann als Vertreter des Wennemar nicht mehr Rechte ausüben, als dieser hat. Wennemar aber hat als Ausländer kein Recht, auf Ausübung der ständischen Befugnisse, er kann das Recht auch durch Ableistung des Homagial-Eides zur Zeit nicht erwerben, weil er als Minderjähriger den Homagialeid nicht wird leisten können. Hubert von Heyden hat kein eigenes Recht, und würde der von Ihm geleistete Homagial-Eid daher wirkungslos sein. Erst wenn ein Recht des Wennemar vorhanden wäre, würde Hubert es zu vertreten haben.


Abschließend wagte Hilgers einen Ausblick auf die anstehende Landratswahl. Er ahnte knappe Stimmverhältnisse, warnte Hamelberg vor Einsprüchen und lag mit seiner Prognose nicht daneben:

Da bei der Zerrissenheit der Wähler eine Stimme von Entscheidung sein könnte, und die Rechtsbeständigkeit der Wahl bei Zulassung des von Heyden vielleicht in Frage gestellt werden möchte, glaube ich Euer Hochwohlgeboren auf diese Verhältnisse aufmerksam machen zu müssen.[39]

Hamelberg deutete die Verfügung aus Münster im Sinne Heydens und stellte gegenüber Hilgers fest, die Regierung habe sich für die Zulässigkeit der Ableistung des Eides durch den Nutznießer des Rittergutes Wohnung ausgesprochen.[40] Um gründlich zu Werke zu gehen sah sich der Wahlkommissar das Testament des verstorbenen Theodor von Heyden an, bevor er die Regierung bat, die Divergenzen zwischen ihm und dem Landratsamt zu entscheiden. Hamelberg brachte Hilgers' Position auf eine knappe Formel – Erst wenn ein Recht des Wennemar vorhanden wäre, würde Hubert es zu vertreten haben – konnte sich aber dieser Deduction nicht anschließen. Er blieb der Ansicht, daß der Vater alle aus der Nutznießung entspringende Vortheile zu genießen im Stande sei und er bei der Minderjährigkeit seines Sohnes Wennemar an der Kreisvertretung theil nehmen könne, sofern er den Homagialeid leistet. Vorher dürften die Kreisstände jedoch zu hören sein.[41]

In Münster ließ die Abteilung des Innern Vorsicht walten. Mauderode war mit Hamelberg nur einig, dass zunächst die Kreisversammlung beschließen solle, ob Wennemar von Heyden durch seinen Vater vertreten werden könne. Daneben lagen Hilgers‘ Einwände auf dem Tisch und man konnte sich seiner Sichtweise nicht ganz verschließen. Die Regierung zeigte sich nicht in der Lage, bezüglich der angeregten Zweifel zu entscheiden, wollte aber dem Wahlkommissar die Ansicht nicht vorenthalten, dass der Homagial-Eid von dem Hubert und dem Wennemar von Heyden und falls der Letzere nicht schwörens fähig ist, von dem Ersteren für sich und in die Seele seines Sohnes geleistet werden muß.[42] Im ersten Anlauf wurde der Antrag auf Eidesleistung vom Kreisgericht Ahaus abgelehnt. Hubert von Heyden bemühte das Appellationsgericht, seine Beschwerde fand Gehör. Am 17. April 1860 leistete er für sich und als gesetzlicher Vertreter seines Sohnes Wennemar den Homagialeid.

Nun hatte man ihn, den in die Seele vereidigten Besitzer ständischen Rechts, den Wennemar, der nach der Kreis-Ordnung für Westfalen und Rheinland vom 13. Juli 1827 als minderjähriger Sohn von seinem ebenfalls vereidigten Vater vertreten werden durfte. Musste jetzt noch die Kreisversammlung gefragt werden? War es nötig, eine entsprechende Beschlussfassung in der Einladung zur Wahlversammlung anzukündigen? Immerhin waren sich Regierung und Wahlkommissar anfänglich einig, dass es der Kreisversammlung zustand, über die Zulassung von Rittergutsbesitzern zu befinden oder – wie es Hamelberg ausdrückte – die Kreisstände jedoch zu hören seien.

Hamelberg fragte nach[43] und Mauderode ruderte ein wenig zurück.[44] Es sei nicht so, wie der Wahlkommissar anzunehmen scheine, dass die Zulassung ohne Zustimmung des Kreistages überhaupt nicht gestattet werden dürfe. Man habe nur allgemein auf das Recht des Kreistages, die Legitimation eines hinzutretenden Rittergutsbesitzers zu prüfen, hinweisen wollen. Einwendungen bedürften einer gehörigen Begründung und die Prüfung erfolge unbeschadet der dem ernannten Commissar ... gebührenden Leitung des Verfahrens. Hamelberg sollte es richten. Münster überließ es dem Wahlleiter, Heyden möglichst störungsfrei in die Kreisversammlung und auf die Liste der Wähler zu bringen.

Seit Heyden sich erstmals an die Regierung wandte, um bei den Verhandlungen und Beschlüssen auf den Kreistagen ... vertreten zu sein, waren gut vier Monate vergangen, in denen sich rund um die bevorstehende Landratswahl Spannungen aufbauten und sich zeigte, dass Anspielungen auf zu erwartende knappe Mehrheiten einen realen Hintergrund hatten. Das betraf die Kandidatur Kerckerincks ebenso wie die Zulassung Heydens, letzterer wandte sich besorgt an den Wahlkommissar.[45] Nach der Eidesleistung sei seine Kreisstandschaft zwar nur noch von der Zustimmung der Kreisstände abhängig, aber ihm sei mehrseitig gesagt worden, daß man, um ihn dennoch zu beseitigen, dahin arbeite, daß die Abstimmung gegen seine Zulassung ausfalle. Müssten seine Gegner dazu Gründe beschaffen, so hätte er wohl nicht viel zu befürchten; stünde es aber den Ständen frei, ihm ohne Weiteres die Zulassung ... zu versagen; dann freilich würde wohl die Entscheidung so erfolgen, wie es den betreffenden Parteien am besten gefiele. Hamelberg kommentierte die Befürchtungen nicht, teilte aber mit, dass er Heyden als Vertreter seines minderjährigen Sohnes in die an den zweiten Stand gerichtete Kurrende aufgenommen habe. Da das Umlaufschreiben zur Einberufung des Kreistags (Kurrende) vom Landratsamt Ahaus zugestellt werde, riet der Wahlkommissar dem neuen Wähler, er werde wohl thun, sich nach Wohnung zu begeben, um den Empfang vor Ort und persönlich zu bescheinigen. Die Skepsis gegenüber dem Landratsamt war nicht unbegründet, denn eine weitere Empfehlung an Heyden rief auch Hilgers wieder auf den Plan. Hamelberg hatte es für sinnvoll gehalten, die Umschreibung des Gutes in die Rittergutsmatrikel zu Gunsten des Sohnes mit dem Vermerk seines Nutznießungsrechtes noch vor der Landratswahl zu bewirken. Das Oberpräsidium sah keinen Hinderungsgrund, änderte das Hauptexemplar der Rittergutsmatrikel und forderte Ahaus auf, auch die Kreismatrikel umzuschreiben.[46]
Anlass für Hilgers, noch zwei Tage vor der Wahl einen letzten Versuch zu unternehmen und dem Oberpräsidenten seine Sicht der Dinge vorzutragen:[47] Wennemar von Heyden befände sich im Besitz des Gutes „Wohnung“ und Hubert von Heyden sei sein Vormund. Ob Hubert auch der „Nießbrauch“ des Gutes zustände, sei nicht sicher, weil in Betreff der von dem Landrath von Heyden hinterlassen Gütern zwischen dem Hubert von Heyden, der Mutter und den Geschwistern weitläufige Prozesse schweben.

Wahltag in Ahaus

Am 30. Mai 1860, einem Mittwoch, versammelten sich um 10 Uhr die fünfzehn Mitglieder der Kreisvertretung im Hause des Gastgebers Bispinck zu Ahaus zur Landratswahl. Wahlkommissar Hamelberg nahm sich Zeit, zur Teilnahme und zur Wahlberechtigung der geladenen und der anwesenden Mitglieder der Wahlversammlung eingehende Erklärungen abzugeben.[48]

Die Liste der Wähler
Dem Stande der Fürsten und Herren gehörten demnach zwei Teilnehmer an, der Fürst Alfred Constantin zu Salm Salm zu Anholt, der schriftlich gewählt hatte, und der Fürst Friedrich Carl August zu Salm Horstmar zu Coesfeld, der sich durch seinen bevollmächtigten Sohn vertreten ließ.[49]

Als nächstes legte der Wahlleiter die Rittergutsmatrikel des Kreises vor und benannte drei Mitglieder aus dem Stande der Ritterschaft:

1.       Clemens Heidenreich Franz Hubert Eusebius Maria Graf Droste zu Vischering, Erbdroste zu Darfeld, Besitzer des Ritterguts Asbeck in der Gemeinde Asbeck,
2.       Freiherr Maximilian Sophia Theodor Maria Anton von Oer, Besitzer des Ritterguts Egelborg in der Gemeinde Legden,
3.       Gutsbesitzer Hubert von Heyden in Vertretung seines Sohnes des Rittergutsbesitzers Wennemar von Heyden.

Hamelberg stellte fest, dass Wennemar von Heyden minderjährig und deshalb nicht wahlfähig sei. Also greife die Bestimmung, dass bei weniger als drei Rittergutsbesitzern Notabeln in die Liste der zur Kandidatur Berechtigten aufzunehmen seien. Damit war die Versammlung einverstanden, sie konnte sich aber über die Zulassung des Hubert von Heyden zur Kreisversammlung nicht einigen. Hamelberg schlug eine Abstimmung über die Einschätzung vor, nach der die noch vorhandenen Zweifel beseitigt seien, da § 11 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 bestimme, daß durch den Verlust der Eigenschaft eines Inländers nichts geändert werde an den Rechten, die ... aus dem Besitze eines Rittergutes und dem Homaginaleide folgen. Das reichte für Hubert von Heyden, seine Zulassung wurde durch Stimmenmehrheit entschieden und der Genannte in die Kreisversammlung eingeführt. Die Liste der Wähler war damit vollständig, zu den vier gewählten Abgeordneten der Städte und den sechs Vertretern der ländlichen Wahlbezirke gab es keine Einwände.[50]

Kerckerinck darf kandidieren und gewinnt denkbar knapp

Das Verzeichnis der Notabeln wurde verlesen, so dass aus der Versammlung heraus die Kandidaten benannt werden konnten. Bei dieser Gelegenheit bemerkte der Wahlkommissar, dass sich das Landratsamt geweigert habe, den Freiherrn von Kerckerinck Borg zu den Notablen zu rechnen und referierte den Vorgang. Hierauf entschied sich die Kreisvertretung einstimmig für die Aufnahme Kerckerincks, der von der Hand des Wahlkommissars in die Liste nachgetragen wurde[51] und dadurch die Berechtigung zur Kandidatur erwarb.

So geschlossen sich die Versammlung zeigte, als es galt, Kerckerinck die Kandidatur zu ermöglichen, so gespalten war sie bei der Wahl der vom Kreis Ahaus zu präsentierenden Kandidaten. Denkbar knapp, mit acht von fünfzehn Stimmen, wurde Kerckerinck dem Bewerber Rave vorgezogen und zum ersten Kandidaten für das Amt des Landrats nominiert. Eugen Rave, ein 30-jähriger Gerichtsassessor aus Ahaus und als Besitzer der Güter Rommert, Lentfort und Bräckingbusch im Amte Ammeloe zu den Notablen gehörend, trat erneut an und wurde mit neun von fünfzehn Stimmen zum zweiten Kandidaten gewählt. Den dritten Platz erhielt der 28-jährige Carl von Westhoven,  Appellationsgerichts-Referendar zu Münster und Besitzer des Gutes Boing im Amt Ammeloe.[52]

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[1] Angaben zu Hülst: Dietrich Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815 – 1918, Münster 1969, S. 290; LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4521. Vgl. abweichende Daten.
[2] Rudolf Hegemann, Ahaus vor dem großen Brand 1830 – 1863, Ahaus 2001, S. 66.
[3] Kreis Ahaus, Ahauser Kreiskalender für das Jahr 1823, S. 28.
[4] GStA, I. HA Rep. 77, Nr. 1233.
[5] LAV NRW W, Kreis Ahaus, Nr. 2017, Zeitungsbericht vom 30.11.1859.
[6] GStA, I. HA Rep. 77, Nr. 1233.
[7] Lauter, Franz, Preußens Volksvertretung in der Zweiten Kammer und im Hause der Abgeordneten vom Februar 1849 bis Mai 1877, Berlin, S. 74.
[8] bezreg-muenster.de/startseite/Behoerde/die_bezirksregierung/Geschichte_Gegenwart/index.html, 21.10.2014.
[9] Statistische Darstellung des Kreises Ahaus 1861, a.a.O., S. 178f.
[10] - [13] LAV NRW W, Regierung Münster, V-4-4 Kreisstatistik.
[14] Hamelberg, Georg Hermann Ferdinand Freiherr von, * 3.8.1798, † 1.3.1870, seit 1848 Landrat des Kreises Borken – Wegmann, S. 278f.
[15] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863 – Schreiben vom 17.11.1859.
[16] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4189 – Hinweise der Regierung für Landratswahl in Ahaus vom 20.02.1857 an den Wahlkommissar Mersmann.
[17+18] nicht vergeben.
[19] Kerckerinck zur Borg, Maximilian Friedrich Anton Hubert Maria Freiherr von, * 10. 6.1829, † 11.5.1905, seit 1861 (30.05.1860 gewählt) Landrat des Kreises Ahaus – Wegmann, S. 293f.
[20] - [31] und [33] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863.
[28] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863 – Die Aufforderung vom 01.05.1860 unterschrieben Alexander Fuisting, Bürgermeister und Abgeordneter der Stadt Ahaus; Arnold ter Meulen, Amtmann und Abgeordneter des ländlichen Wahlbezirks Gronau; Dr. B. Vahle, Stadtverordneter und Abgeordneter der Stadt Gronau; Joseph Terhalle, Amtmann und Abgeordneter für die Gemeinden Ottenstein, Alstätte, Dorf und Kirchspiel Wehsum; Carl Friedrich Holländer, Bürgermeister und Abgeordneter der Stadt Stadtlohn.
[32] Ex nexu (lat.), außer Verbindung; Exnexuation, Abtrennung, Aufhebung einer dinglichen Verpflichtung. – Brockhaus‘ Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 547. – Permalink: zeno.org/nid/20001093304.
[34] Indigenāt (v. lat.), 1) das Eingeborensein einer Person in einem Lande; 2) der Inbegriff der den Unterthanen eines Staates zukommenden Rechte; 3) die Vorrechte, welche den Eingebornen vor den Aufgenommenen zu Statten kommen, welche indessen durch ein Privilegium auch den letzteren ertheilt werden können. – Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 885.
Permalink: zeno.org/nid/2001017494X.
[35] und [37] - [47] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863.
[36] Homagĭum, 1) die Huldigung betreffend; 2) (Homagialeid), so v.w. Lehenseid. H. reale, so v.w. Assecurationseid 3). Daher Homagiat, die Huldigung, die Lehn betreffend. – Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 507. – Permalink: zeno.org/nid/20010130292.
[48] - [52] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863.
[50] Das von Hilgers mit Datum vom 28.03.1860 gefertigte Verzeichnis nennt die folgenden Personen, die auch am 30.05.1860 anwesend waren:
a.       Gewählte Abgeordnete der Städte:
1.       Bürgermeister Alexander Fuisting, Abgeordneter der Stadt Ahaus.
2.       Bürgermeister Bernhard Joseph Alexander Ortwin Rave, Abgeordneter der Stadt Vreden;
3.       Bürgermeister Carl Friedrich Holländer, Abgeordneter der Stadt Stadtlohn;
4.       Stadtverordneter Dr. med. B. Vahle jun. zu Gronau, Abgeordneter der Stadt Gronau,
b.       Gewählte Abgeordnete der ländlichen Wahlbezirke:
1.       Amtmann und Gutsbesitzer August von Martels zu Horst, Abgeordneter für die Gemeinden Kirchspiel Ahaus /: auch Ammeln genannt :/ Wüllen und Legden,
2.       Amtsverordneter Dr. med. Bernh. Bunnefeld zu Schöppingen, Abgeordneter für die Gemeinden Stadt und Kirchspiel Schöppingen, Eggerode und Asbeck,
3.       Commissarischer Amtmann Arnold ter Meulen zu Gronau, Abgeordneter für die Gemeinden Dorf und Kirchspiel Epe, Nienborg und Heek;
4.       Amtmann Joseph Terhalle zu Ottenstein, Abgeordneter für die Gemeinden Ottenstein, Alstätte, Dorf und Kirchspiel Wessum.
5.       Colon und Amtsverordneter Joh. Heinrich Ahsing zu Dömern, Abgeordneter für die Gemeinde Kirchspiel Vreden, auch Ameloe genannt.
6.       Amtmann und Gutsbesitzer August von Basse zu Homering, Abgeordneter für die Außengemeinde Stadtlohn und die Gemeinde Südlohn mit Oeding.
[51]  Wahlprotokoll vom 30.05.1860.
[52] Die Lebensläufe Raves und Westhovens befinden sich ebenfalls in dieser Akte.

 
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