aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Biografische Skizzen:
Franz Jakob von Hilgers, Landrat und Abgeordneter, * 1810 – † 1877

Dieter Gewitzsch

Verwalter im Landratsamt Ahaus (Teil 2)

Eine "zweite Chance" für den Zweitplatzierten?

Gleich nach der Wahl legte sich der „Westfälische Merkur“ für den an zweiter Stelle präsentierten Eugen Rave ins Zeug und beleuchtete das Wahlverhalten:

Westfälischer Merkur, Nr. 125 vom 02.06.1860.

Hilgers hatte schon vor Monaten von der Zerrissenheit der Wähler gesprochen und Mehrheitsverhältnisse für möglich gehalten, bei denen eine Stimme von Entscheidung sein könnte.[1] Damals warnte er, dass ein unsicheres Mandat für Heyden die Gültigkeit der Wahl bei knappem Ergebnis in Frage stellen würde und trug seine Bedenken dem Wahlkommissar vor.

Jetzt war Kerckerinck mit einer Stimme Mehrheit gewählt worden und Hilgers hätte sagen können: Wenn die adeligen Herren so gestimmt haben wie es der „Merkur“ zu wissen meint, dann hat Heydens Stimme die Wahl entschieden. Augenscheinlich gab es zwei „Fraktionen“ in der Kreisversammlung und Eugen Rave wurde als zweiter Sieger über den Wahltag hinaus gegen Kerckerinck in Stellung gebracht. Der Vater des Assessors, Bürgermeister Bernhard Rave, hatte als Abgeordneter der Stadt Vreden bei der Wahl durchaus Gelegenheit, den Sohn durch seine Stimme zu unterstützen. Erst nach der Wahl beschlich den Senior die Sorge, dass seine Stellung als Bürgermeister und Amtmann im selben Kreis für den Junior nachteilig sein könnte[2] und Eugen Rave Allerhöchsten Ortes aus diesem Grund nicht ausersehen werden würde. Jede Befürchtung wegen Mißbrauches des verwandtschaftlichen Verhältnisses fände indes weder im Gesetz noch in seiner 40jährigen Amtsführung einen Anhalt und der Sohn hätte nicht so viele Stimmen, und zwar alle aus dem Kreise selbst, bei der Wahl erhalten, ... wenn sein bekannter Charakter derartige Besorgnisse zuließe. Falls dennoch in dem erwähnten verwandtschaftlichen Verhältnisse ein Hinderniß für die Designirung des Sohnes zum Landrathe des Kreises Ahaus gefunden werden möchte, sei er bereit, sich von seinen Ämtern zurückzuziehen, da er ohnehin das 70te Lebensjahr bald erreicht habe und der Sohn dem Kreise länger und in größerem Maße nützen könne.[3]

Nachdem die Kreisstände ihr Vorschlagsrecht am 30. Mai 1860 wahrgenommen und dem König drei Kandidaten für die Besetzung des Landratsamtes präsentiert hatten, war es an der Regierung in Münster, nach Berlin zu berichten, wo das Innenministerium die allerhöchste Entscheidung vorbereitete. – Dieser nicht unbedeutende, aber für die Behörden auch nicht besondere Vorgang benötigte fast ein Jahr, bevor der König mit Datum vom 27. April 1861 Kerckerinck das Landratsamt Ahaus übertrug.[4] Es wurde ein bewegtes Jahr.

Hilgers beklagt sich beim Innenminister

Innenminister Graf Schwerin-Putzar, Illustrirte Zeitung, Nr. 838, Leipzig 1859. Foto: dg.

Im Kreis Ahaus konnten die Entscheidungen des Kreistages und die erfolgte Präsentation der drei Kandidaten die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen nicht beenden. Hilgers wandte sich gleich nach der Wahl an den Innenminister Graf von Schwerin, den er politisch auf seiner Seite wähnte und von dem er Hilfe auf dem angestrebten Weg ins Landratsamt erwartete. Auf elf Seiten wiederholt Hilgers nicht nur seine Einschätzungen zur Sache, er benennt die Lager, mutmaßt über Absichten und klagt an: [5]

Die Vertretung in Ahaus habe er mit Dank und in der Hoffnung übernommen, endlich wieder eine feste Stellung zu erwerben, und dafür sein Mandat als Abgeordneter niedergelegt. Allerdings sei er nicht davon ausgegangen, dass die Adelspartei auch hier versuchen werde, ihn mit allen Mitteln zu verdrängen. Gleich nach seinem Eintreffen sei man tätig geworden, einem Kandidaten aus dem Münsterschen Adel Grundbesitz zu verschaffen. Dazu habe Graf Droste Vischering einen Teil seines Besitzes nur „nominal“ an Kerckerinck veräußert. Es wurden alle Mittel in Gang gesetzt – so Hilgers – die bäuerlichen und städtischen Kreistags-Mitglieder, fast sämmtliche vom Gehalt abhängigen Amtmänner und Bürgermeister, einzuschüchtern. Selbst höhere Beamte hätten sich an diesem Treiben beteiligt und dabei sei wieder zu Tage getreten, daß genannte Partei mit der höheren Beamten-Welt im innigsten Rapport wirkt, und dieses Wirken alle anderen Einflüsse überwiegt. Den Fall trüge er dem Minister vor, weil die andere Partei sich nicht scheue, ihre Zwecke auf ungesetzlichem und selbst strafbarem Wege zu verfolgen und zu befürchten sei, dass die Angelegenheit in den Akten des Wahlcommissars oder höher hinauf verloren geht oder verwischt wird. Kerckerinck und Rave hätten erst zum Zwecke der Wählbarkeit den erforderlichen Grundbesitz erkauft. Solche Personen könne die Regierung nur schwerlich in Vorschlag bringen. Der Vertrag mit Kerckerinck sei in Münster geschlossen worden, um nicht laut werden zu lassen, dass Graf Droste wegen Fideikommiss  nicht verkaufen und Kerckerinck nicht kaufen konnte. Hilgers macht dem Notar Vorwürfe und beschuldigt ihn, den Vertrag nicht ordnungsgemäß angemeldet und unrichtige  Abschriften  der Testamente vorgelegt zu haben.

Unterschrift unter das Schreiben vom 31.05.1860

So habe man die Generalkommission und die Wähler getäuscht und es auch bei ihm versucht. Den Wahlkommissar habe er (Hilgers) selbst informiert und zunächst überzeugen können. Bei der Wahl sei Hamelberg aber über das alles weggegangen. Mit der Bemerkung, Graf Droste sey ausreichend angesessen, um einem Kandidaten den erforderlichen Grundbesitz zu verschaffen, habe der Wahlkommissar den Kerckerinck auf die Liste der Notablen gebracht. Und weil der gewählte Kandidat alles dieses wusste, wirft ihm Hilgers Täuschung in weitläuftiger Ausführung vor. Das alles müsste auch in den aus Münster zu erwartenden Wahlverhandlungen zu finden sein, aber er (Hilgers) wolle ebensowohl in meinem wie im Interesse der Staatsverwaltung [den] vorliegenden eclatanten Fall des Parteitreibens, was kein Mittel scheut, nicht mit Stillschweigen übergehen.

Bürgerproteste gegen die Entscheidungen der Kreisstände

Hilgers hatte sich in den ersten acht Monaten im Kreis Ahaus eine gewisse Anerkennung für seine Amtsführung erworben, so dass jetzt eine Gruppe von Unterstützern auftrat, die sich mit Eingaben an das Innenministerium wandte. Für die erste Zeit bis Anfang August 1860 sind in der  Kreisakte zehn Eingaben zu finden, eine plädiert für die Ernennung Kandidaten Rave und neun wünschen, dass Hilgers auf Dauer im Amt bleibt. Das Ministerium registrierte die Petitionen, vermerkte die Tendenz und gab die Schreiben an die Regierung in Münster zur Kenntnisnahme und Wiedereinreichung mit dem über die Präsentation der Landrathsamts-Kandidaten zu erstattenden Berichte. Hilgers‘ Brief an Schwerin verblieb in der Kanzlei des Ministers zur Wiedervorlage in vier Wochen.

Im Norden des Kreises sprach sich der Gemeindevorstand der Stadt Gronau für Hilgers aus und auch Arnold ter Meulen, der Kreistagsdeputierte für Epe, Nienborg und Heek, forderte, an dem derzeitigen Verwalter des Landratsamtes festzuhalten. In Legden engagierte sich der Gemeinderat mit elf Unterschriften für Hilgers. Der Vorstand der Amtsbezirke Wessum und Wüllen, Amtmann August von Martels und Genossen, schrieb ebenso an den Minister wie im Südwesten der Magistrat von Stadtlohn, bevor der dortige Amtmann Tilénius eine gute Woche später in einem Privat-Schreiben Graf Schwerin darum bat, daß der zeitige Verwalter des Landraths Amtes der Herr Landrath Freiherr von Hilgers zum Landrath unseres Kreises ernannt werde.[6]

Ende Juni 1860 schrieben die Fürsprecher Hilgers‘ drei Briefe, die sich in Argumentation und Wortwahl ähneln. Amtmann Martels schilderte die Probleme des Kreises: die Randlage gegen Holland und Hannover, den Rückstand im Chausseebau und die erhebliche Verschuldung. Der kleine Grundbesitz sei vorherrschend.  Der Kreis bestünde zur Hälfte noch aus „Wildbahn“. Als Amtmann und Direktor des landwirtschaftlichen Kreisvereins sei er bemüht, diese Flächen urbar zu machen. In dieser Lage müsse – so Martels – an der Spitze des Kreises ein Mann stehen, welcher in der Verwaltung erfahren ist, welcher Ansehen und Gemeinsinn hat. Hilgers sei ein solcher, er habe in Lüdinghausen und Altenkirchen erfolgreich gewirkt und seit neun Monaten zu allgemeiner Zufriedenheit den Kreis … verwaltet. In der Kreisstadt beobachtete der Gemeindevorstand, dass Hilgers durch sein umsichtiges, liebevolles und humanes Auftreten gepaart mit seltener Geschäftsgewandtheit und Energie sich die Zuneigung und das Vertrauen aller Städte im ganzen Kreise im vollsten Maaße erworben hat und der Magistrat von Stadtlohn bekannte sich entschieden zu dem amtierenden Stellvertreter: Hilgers habe sich in diesem kurzen Zeitraum durch seine vorzügliche Geschäfts-Verwaltung, gepaart mit Energie, Umsicht u humanes Benehmen – ja wir können dies kühn aussprechen – sich die Liebe Achtung und Zuneigung sämmtlicher Eingesessenen des Kreises erworben.[7] Strichen die ersten Wortmeldungen die Vorzüge der Amtsführung und des angenehmen Auftretens heraus, so gingen die folgenden Schreiben auch auf das Verfahren und die präsentierten Kandidaten ein. Der Kreistagsdeputierte ter Meulen bestritt mit seinen Genossen, den Grundbesitz der gewählten Bewerber und fand, der jetzige Verwalter des Landraths-Amts … [könne] auch ohne Grundbesitz ... auf gleiche Linie gestellt werden.[8]

Aus den fünf Gemeinden des Amtes Stadtlohn wusste Amtmann Tilénius dem Innenminister zu berichten, dass diese Kandidaten-Liste eben nicht sehr beifällig aufgenommen wurde. Es sei nun mal so, dass nur im hiesigen Kreise begüterte Kandidaten wählen können und Hilgers deshalb nicht zur Wahl stand. Indes sei auch hier öffentlich verlautet, daß der Grundbesitz aller drei Kandidaten nur scheinbar sein soll. Dann bezog der Amtmann grundsätzlich Position:

Ich und mit mir viele umsichtige Männer und Hochgestellte Beamten in und außer meinem Verwaltungsbezirk, sind der unmaßgeblichen Ansicht; daß ein derartiges Besitzthum keine großen Vorzüge mit sich führe; daß vielmehr langjährige Erfahrung und Geschäfts-Gewandheit, wie diese dem jetzigen Verwalter des Landraths Amtes Herrn Landrath z. D. Freiherrn von Hilgers zur Seite steht, ein Besitzthum bilden, das einem scheinbar erworbenen Grundbesitz junger noch nicht eingeübter und noch nicht erfahrener Männer bei weiten vorzuziehen sein möchte.

Tilénius, der Graf Schwerin persönlich kannte und ihn auf Putzar besucht hatte, war wohl klar, dass er sich mit dieser Bewertung auf das Feld der Politik begeben hatte. Mehrfach betonte er, sein Brief sei ein Privatschreiben, dass er unter der aufrichtigsten Darlegung der Sachlage an den Minister richte und ihn bäte, selbes aus Rücksichten für mich als ein nicht amtliches Schreiben betrachten.[9]

Eingaben an den Prinz-Regenten - mehr als 700 Unterschriften für Assessor Rave

Im Juli 1860 suchten die Befürworter des an zweiter Stelle nominierten Assessors Eugen Rave ebenfalls den Rückhalt in der Bevölkerung und organisierten eine beeindruckende Petition, die kreisweit Resonanz fand und keinem geringeren als dem Prinz-Regenten, dem späteren König und Kaiser Wilhelm I. vorgelegt werden sollte. Die ganze Aktion fand sicher nicht im Verborgenen statt und der Adressat wird gemeinhin bekannt geworden sein. Das könnte dazu geführt haben, dass auch der Ahauser Bürgermeister Fuisting eine weitere Pro-Hilgers-Petition nicht an den Innenminister, sondern ebenfalls an den Regenten richtete. Von 17 Unterschriften gestützt, wurden dem Prinzen mit Datum vom 12. Juli die bekannten Argumente gegen die zu jungen und unerfahrenen Kandidaten vorgetragen. Neu war der ergänzende Hinweis, dass Hilgers sein Landtagsmandat wegen des Ahauser Engagements niedergelegt hatte.

Zum Monatsende traf dann die zahlenmäßig gewichtigere Petition beim Regenten ein, mit der weit mehr als 700 treu gehorsamste Unterthanen[10] baten, den Assessor Rave an die Spitze ... [ihres] Kreises zu erheben. Der Mann unseres Vertrauens – so der Text des Anschreibens – ist im hiesigen Kreise geboren und mit dessen Verhältnissen und Bedürfnissen ... in seiner mehrjährigen, äußerst strebsamen amtlichen Wirksamkeit auf das Genaueste bekannt geworden. Die Wahlakte hätten die allgemeine Gesinnung der Eingesessenen ausgedrückt, indem Rave von allen drei Kandidaten die meisten Stimmen aus dem Kreise selbst erhalten habe. Der an erster Stelle nominierte Kerckerinck verdanke dagegen die erlangte Majorität der Stimmen ... den vornehmen Rittergutsbesitzern, denen sich nur vier Vota aus dem Kreise angeschlossen hätten. – Fazit der Briefschreiber: Der Kreis steht also auf Seiten des Assessors Rave.

Während sich die Kampagne zu Gunsten Raves in dem beeindruckenden, aber einmaligen Kraftakt erschöpfte, setzten die Hilgers-Leute mit weiteren Schreiben nach. Dabei sickerten nach und nach biografische Versatzstücke in die Petitionstexte ein, die den Verfassern der Bittschriften aus rein dienstlichem Kontakt zum Landratsamt nicht bekannt geworden sein dürften. Als auch der Gemeinderat zu Legden sich direkt an Seine Königliche Hoheit den Prinz Regenten von Preußen wandte, wusste man zu erinnern, dass Hilgers und einige andere Landräte lediglich wegen ihrer Abstimmung in dem Abgeordneten Hause zur Disposition gestellt wurden. Im Kreis habe er sich aber schon jetzt in jeder Beziehung ... das Vertrauen und die Liebe ... erworben. Der Gemeinderat bat, Hilgers zum Landrat zu ernennen.[11]

Allein im Interesse des dortigen Kreises und in intimer Kenntnis der Verhältnisse, die er in vierzehn Jahren als Dirigent des Gerichts Ahaus erworben habe, wandte sich Kreisgerichtsdirektor Brandis Anfang August an Graf Schwerin und nahm bei seinen Bewertungen kein Blatt vor den Mund. Der Herr von Heyden, der von 1840 bis 1857 Landrat war, hätte bei jeder Gelegenheit öffentlich seine Unfähigkeit in diesem Amte bezeugt und das erkläre unter anderem die Rückständigkeit des Kreises, der, obgleich derselbe an die Königreiche der Niederlande und Hannover gränzt, bis zum Jahre 1856 noch keine einzige Meile Chaussee enthält. Und weil dem Kreis der qualifizierte, größere Grundbesitz fehle, glückte es im Jahre 1857 einem Regierungsreferendar von Hülst, der sich zu diesem Zwecke ein Bauerngut erwarb, Landrath des Kreises Ahaus zu werden. Derselbe – so Brandis – litt an der Zehrung und starb bereits 1859. Es sei demnach leicht zu erklären daß bei dieser Sachlage einige junge Leute, die bisher noch kein Gehalt bezogen, sich bemühten einen solchen Posten, mit welchem eine Bruttoeinnahme von cirka 1900 [Talern] verbunden ist, zu erringen; es seien dies zwei Regierungsreferendare und ein unbesoldeter Gerichtsassessor (Kerckerinck, Westhoven und Rave).

Nach einem Seitenhieb auf die Kandidatur Kerckerincks nahm sich Brandis des Mitbewerbers Rave an und versuchte, den zahlenmäßigen Erfolg der Rave-Petition kleiner zu reden: Rave ließe durch einige Bekannte derartige Bittschriften von Haus zu Haus tragen, worauf denn die unerfahrenen Leute, denen bald dieses bald jenes vorgespiegelt wird, so bereitwillig unterschreiben wie sie einen Tag später für jeden andern Kandidaten unterschreiben würden. Damit nicht genug. Brandis war sich nicht zu schade, über mehr als vier Jahrzehnte zurückzugreifen, um eine Verfehlung des Vaters gegen den Sohn ins Spiel zu bringen: Der Ernennung des Gerichtsassessor Rave als Landrath steht überdies der Umstand entgegen, daß dessen Vater ... im Jahre 1817 ... die Ehrenrechte wegen Unterschlagungen beim Militair aberkannt sind.

Hilgers sucht Rückendeckung beim Finanzminister

Finanzminister von Patow, Abb. um 1860 – Wikimedia Commons, Bearb. dg

Im Abgeordnetenhaus mag Hilgers ein Hinterbänkler gewesen sein, aber er war mit einigen einflussreichen Politikern zumindest soweit bekannt, dass er sich mit einem vertraulichen Unterton an sie wenden konnte. Das oben erwähnte Schreiben an den Innenminister war so gehalten und auch gegenüber Finanzminister von Patow erklärte sich der Landrat in einer gewissen Offenheit.[12] Innenminister Schwerin habe sich nicht in Übereinstimmung mit der Regierung zu Münster befunden, als der Hilgers die Verwaltung des Kreises Ahaus übertrug; es habe aber in Aussicht gestanden, ihm das Amt später definitiv zuzuwenden, weil im Kreis qualifizierte Gutsbesitzer fehlten. Deshalb habe er sein Mandat als Abgeordneter niedergelegt. Es hätten sich aber drei junge Leute gefunden, welche die zum Zweck der Wählbarkeit erforderlichen Grundstücke erwarben und alsdann gewählt wurden. Hilgers bezweifelte erneut die Rechtmäßigkeit des Grunderwerbs, ließ die alte Geschichte um Raves Vater nicht unerwähnt und beschrieb die Lage, wie sie sich ihm ein knappes Vierteljahr nach den Wahlen darstellte:

Kerckerinck werde von der geringen Zahl adliger Gutsbesitzer und von der Regierung in Münster gestützt, die bestrebt sei, die Landräte aus dem exclusiven münsterschen Adel zu rekrutieren. Rave fände bei einem Teil der bäuerlichen und bürgerlichen Kreisstände in Folge von verwandtschaftlichen Verbindungen Zuspruch und Westhoven sei nur gewählt worden, um einen dritten Kandidaten zu haben. Er selbst habe einen Teil der bürgerlichen und bäuerlichen Kreisstände und die meisten Vertretungen der Städte und Landgemeinden auf seiner Seite, weil sie die Kerkeringsche Abhängigkeit vom Adel, wie die Einwirkungen der schlimmen verwandtschaftlichen Verbindungen des Rave fürchten. Den jungen Kerckerinck hielt Hilgers für „sonst qualifiziert“. Wäre er wirklich Grundbesitzer ...  und hätte er nicht so unehrenhafter Weise gehandelt, würde man gegen seine Ernennung schwerlich Bedenken finden. So aber habe Kerckerinck im Kreis ebenso wenig Besitz wie er selbst, folgerte Hilgers und es sei daher anzunehmen, dass ihm an höchster Stelle der Vorzug gegeben werden könnte.

Wieder gestattete er sich den Hinweis, dass er in Altenkirchen ohne Verschulden aus dem Amt entfernt wurde. Er habe viele Jahre lang vergeblich eine Wiederanstellung gesucht, welche seine Leidensgefährten längst erlangt hätten. Der 1851 mit Hilgers zur Disposition gestellte Louis Delius war 1858 im Mayen erneut zum Landrat gewählt worden und kehrte im Februar 1859 in sein Amt zurück. Florens Bockum-Dolffs, der als „Dritter im Bunde“ gesehen wird, ereilte die Bestrafung im Oktober 1852. Damals wurde er als Landrat des Kreises Soest zur Disposition gestellt, durfte aber im November 1859, als Oberregierungsrat in die Bezirksregierung Koblenz eintreten. Man kann nachvollziehen, dass es Hilgers 1860 für gerecht hielt, wieder Landrat in einer definitiven Stellung zu werden.

Münster lässt sich Zeit und votiert für Kerckerinck

Siegelmarke, Privatbesitz - Foto: dg

Während Im Kreis Ahaus auf die Präsentation der drei Landratskandidaten am 30. Mai 1860 ein bewegtes Vierteljahr folgte, in dem sich zahlreiche Einwohner politisch interessierten und zum Teil engagiert positionierten, blieb man in Münster scheinbar ruhig. Die Bezirksregierung ertrug die Mahnungen aus dem Innenministerium und bat noch am 12. August um Aufschub. Man werde in diesen Tagen die abschließende Beratung stattfinden lassen und bitte, noch eine mäßige Frist gewähren zu wollen.[13]  Ende August waren dann die zweiundzwanzig Seiten geschrieben, mit denen die Regierung in Münster ihre Einschätzungen und ausführlichen Abwägungen vorstellte, die auf die Empfehlung hinausliefen, den auf Platz 1 präsentierten Kerckerinck zum Landrat des Kreises Ahaus zu ernennen.[14] Die Wahl Kerckerincks sei von anderen Seiten in mehrfacher Hinsicht angegriffen worden, aber hauptsächlich von Seiten des Landraths z. D. Freiherrn v. Hilgers, welcher – erinnerte man den Minister – von Eurer Excellenz mit der einstweiligen Verwaltung des Landrathsamtes beauftragt wurde.  Münster zeigte sich informiert, dass Hilgers ohne Zweifel dringend wünsche, mit dem Amt bleibend betraut zu werden. Hilgers habe der Aufnahme Kerckerincks in die Liste der Notablen widersprochen und ebenso hätten Mitglieder der Kreisversammlung – genannt wurden Bürgermeister Fuisting aus Ahaus, Amtmann Martels aus Wessum und Bürgermeister Holländer aus Stadtlohn – Einwendungen gegen den rechtmäßigen Erwerb des Grundbesitzes vorgebracht. Ohne Erfolg, denn Kerckerinck sei am Wahltag nach dem Vortrag des Wahlkommissars mit einstimmigem Votum in den Kreis der Notablen aufgenommen worden.

Gegenüber dem Kandidaten Rave hatte die Regierung in Betracht seiner guten Ausbildung im richterlichen Amte kein Bedenken, ihn als qualifizirten Candidaten anzuerkennen. Sein Ruf sei unbescholten. Gegen seine Ernennung zum Landrathe des Kreises Ahaus dürfte nur der Umstand Bedenken erregen, daß sein Vater Bürgermeister und Amtmann in demselben Kreise ist und daselbst, wenigstens früher unter der Verwaltung des schwachen Landraths v. Heyden großen Einfluß gehabt habe, welcher in gewissen Maaße auch jetzt noch besteht. Es folgt der Hinweis auf die Bereitschaft den Vaters zu Gunsten seines Sohnes auf sein Amt zu verzichten.

Die Regierung argumentierte abschließend, dass der Wunsch, Hilgers zum Landrat zu ernennen, von ihm untergebenen Gemeinde-Beamten ausginge und nicht berücksichtigt werden könne. Es würde die Sache nicht verbessern, sähe man von dem gewählten Kandidaten ab, um stattdessen eine nicht wählbare Person in Vorschlag zu bringen. Von den Voten aus der Bevölkerung zeigte sich die Bezirksregierung unbeeindruckt, obwohl einige Bittschriften eine zahlenmäßig ansehnliche Unterstützung fanden. Solchen Petitionen sei überhaupt niemals ein besonderer Werth beizumessen, urteilte man in Münster, weil sie außerhalb der zur Vertretung der Interessen des Kreises zuerst berufenen Kreis-Versammlung zu Stande gebracht worden seien. Erwähnenswert war der Regierung dagegen eine Begebenheit am Rande der Wahlen in Ahaus. Graf Droste Vischering habe am Wahltag vom Wahlkommissar Einsicht in ein Schreiben gefordert, in dem Hilgers den Grafen mutmaßlich beleidigt hätte. Der Wahlleiter sei der Bitte aber nicht nachgekommen und man sähe sich auch in Münster nicht in der Lage, dem Begehren des Grafen zu entsprechen.

Kaum, dass die Regierung in Münster ihre grundsätzlich kritische Haltung Bittschriften gegenüber formulierte hatte, erreichte die Behörde eine Petition zu Gunsten des Kreistagsvotums, also für die Berufung Kerckerincks.[15] Man habe zwar nicht viele, aber die Unterschriften angesehener Einwohner des Kreises bekommen, betonten die Absender und man erkenne sehr wohl, daß auf Petitionen nicht viel Gewicht zu legen ist, wolle aber dasselbe Recht in Anspruch nehmen und damit auch die vorausgegangenen Eingaben auf ihr richtiges Maaß von Bedeutung zurückführen. Während sich die Initiativen zu Gunsten Hilgers‘ und Raves direkt an den Innenminister oder den Regenten wandten, gingen die Unterstützer Kerckerincks den Weg über die Bezirksregierung. Man bat Münster, beim Innenminister die Kandidatur, welche durch die Wahl der Kreisstände Ausdruck gefunden hat, zu befürworten. Angeführt von dem Kaufmann Ant. Trieß , dem Tabaksfabrikanten T. Th. Oldenkott und Dr. med. Tynell unterschrieben weitere siebzig Einwohner aus allen sechs Wahlkreisen einen relativ kurzen Text. Verdächtigungen gegen Kerckerinck wies man zurück und erklärte, jene Kundgebungen gingen aus Parteibestrebungen hervor und bildeten keineswegs den Ausdruck der Gesinnung der Mehrzahl der Kreiseingesessenen.

Der federführende Beamte der Abteilung des Innern bei der Regierung in Münster, Oberregierungsrat Gustav von Mauderode, verlor keine Zeit als ihm die Pro-Kerckerinck-Petition vom 1. September mit Begleitschreiben vom 2. September am 3. September auf den Schreibtisch kam. Noch am selben Tag beförderte er die Papiere kurzer Hand mit Bezug auf den Bericht zur Landratswahl nach Berlin, wo sie tags darauf eintrafen.

Eine "anonyme Vorstellung" aus dem Kreis Ahaus wird durchgereicht

Ähnlich schleunig wie die Pro-Kerckerinck-Petition brachte Münster eine anonyme Vorstellung auf den Weg, die mit Ahaus den 3. September1860 datiert, schon einen Tag später gelesen, kommentiert und von acht Beamten unterschrieben an den Innenminister weitergeleitet wurde.[16] Der im Dunkeln gebliebene Verfasser, dem es sehr leid [tat], daß die Umstände es nicht erlauben, dass er seinen Namen nennt, erfuhr in Münster mehr Aufmerksamkeit als mehrere hundert Petenten, die mit ihrem „guten Namen“ für ihre Sache einstanden. Zum Inhalt der anonymen Vorstellung erklärte die Bezirksregierung, man nähme Anstand, auf eine thatsächliche Feststellung der darin enthaltenen Angaben in Betreff des Verhaltens des Landraths z. D. v. Hilgers weiter einzugehen, ohne dazu vom Minister  Anweisung erhalten zu haben. Aktenkundig sei, dass Hilgers in einem Randbericht die Bestrafung des Bürgermeisters Rave vorgebracht und Gehaltserhöhungen für den Amtmann Martels befürwortet habe.

Immerhin, seither befinden sich engagiert parteiliche Aussagen, die mit der Attitüde intimer Kennerschaft der Verhältnisse im Kreis Ahaus abgefasst wurden, von amtlicher Seite ungeprüft und unkommentiert in der Akte des Ministeriums. Ob und wie diese Zeilen die Entscheidungen beeinflussten, geht aus dem behördlichen Schriftwechsel nicht hervor. Wir können nur vermuten, deshalb folgt hier der volle Wortlaut:

Königliche Regierung!

Ich erlaube mir im Interesse des Kreises Ahaus von Folgendem Kenntniß zu geben. Als der zeitige Vertreter des Landraths-Amts zu Ahaus Herr Freiherr von Hilgers von Berlin aus sein Amt antrat, war sein Erstes die Mittheilung, daß Seine Excellenz der Herr Minister Graf von Schwerin ihn definitiv für diesen Posten ausersehen habe und sei es so gut als wenn er sein Patent schon in der Tasche habe.

Sein 2tes war vor der Wahl, die Kreisdeputirten Vahle und Termeulen aus Gronau Terhalle aus Ottenstein, Fuisting aus Ahaus und Holländer aus Stadtlohn in dem Bispingschen Gasthause im Geheimen zu versammeln und zu der in Bälde stattfindenden Landrathswahl eine sogenannte Vorwahl abzuhalten. Er fand es jedoch für höchst angemessen, durch Handschlag sich ein Stillschweigen über die damals stattgefundenen Verhandlungen, von den versammelten Herren zu sichern.

Sein 3tes war das Tages zu vor, ehe derselbe nach Berlin in die Kammer abreißte auf das Kreisbüreau zu dringen, das Amtsblatt vom Jahre 1816 zu fordern, und daraus ein Blatt zu reißen, worauf ein Fehltritt des so braven Amtmanns Rawe zu Vreden, aus seiner frühesten Jugend, vermerkt war. Früher schon wurde bemerkt, wie von seinen Creaturen die Sache geflissentlich ins Publikum gebracht wurde und dürfte es nicht befremden, wenn darin eine Agitation gegen den Sohn des Amtmannes Rawe, den so geachteten Assessor Rawe zu Ahaus erkannt wurde, wovon bekannt geworden, daß er als Landraths-Candidat im Kreise Ahaus auftreten würde. Welche Folgen eine solche Handlung hat, hat der H. v. Hilgers zur Stelle erfahren; denn augenblicklich zogen sich alle Ehrenleute von ihm zurück, er blieb mit seinen Creaturen allein und seit dieser Zeit sind in Ahaus die gesellschaftlichen Zustände vernichtet und gewohnter Friede und Einigkeit wich.

Sein 4tes war, vielleicht um das verlorene Terrain wieder zu gewinnen, wie von seiner Ankunft in Ahaus an so auch jetzt den Liberalen auszuhängen, einen Liberalen aber von höchst sonderbaren Anschauungen; so behauptete er damals in öffentlicher Gesellschaft, die 1ste Kammer müßte fortgejagt werden, weil sie nicht mit dem Ministerium Hand in Hand ginge und wurde vom Assessor Rawe damals derbe zurecht gewiesen mit dem Bemerken, daß eine solche Handlung so mir nichts dir nichts ausgeführt, nichts mehr und weniger sei als der Bruch mit den bestehenden Gesetzen. Dieses konnte freilich einem solchen Liberalen nicht einleuchten. Mehr Glück brachte ihm das Ausposaunen, daß der Herr Minister Graf von Schwerin sein Partheigenosse und Gönner sei, der ihm als Entschädigung dafür, daß er seiner liberalen Gesinnung wegen stellelos geworden sei, die Landraths-Stelle in Ahaus nun bestimmt zugesagt habe. Wie seine Gemahlin herumtragen mußte lauteten die Worte des Herrn Ministers wie folgt: Legen Sie ihre Stelle als Abgeordneter nieder und verfügen Sie sich sofort nach Ahaus und vertrauen Sie mir nur, Sie werden Landrath im Kreise Ahaus.

Was 5 tens  bei der sogenannten ad 2 erwähnten Vorwahl beschlossen, hat wohl darin bestanden:

1.       dem Herrn Regierungsreferendar von Kerkering zu Münster seine Candidatur streitig zu machen weil er vom Herrn Grafen Droste bei Darfeld fideicommissum particulare gekauft habe. Diese Behauptung zu beweisen, bedurfte es zwar wenig. Es war genug, daß dieser gefährliche Herr als Landraths-Candidat im Kreise Ahaus auftreten würde. Wie vor der Wahl von den Creaturen des Herrn von Hilgers, dieser so ehrenwerthe Herr hart mitgenommen wurde, hierüber will ich schweigen. Genug, Bürgermeister Fuisting zu Ahaus bekam eine Protestation schriftlich angefertigt, um durch Unterschriften von den Kreisständen gegen die Wahl des Herrn von Kerkering zu wirken. Bis zur Minute vor dem Wahltermine hatte er leider nur 3 Unterschriften bekommen können.

2.       dem Herrn von Heyden bei Nienborg sein Wahlrecht streitig zu machen, weil behauptet wurde, dieser sei, weil er in Holland wohnt ein Ausländer, somit gehöre er nicht zu den Kreisständen. Eine Protestation gegen diesen Herrn, schriftlich angefertigt, trug am Wahltage der Amtmann v. Martels in der Tasche.

3.       dahin zu wirken, daß die Wahl zu Gunsten von Herrn v. Hilgers ausfiele, nämlich: Assessor Rawe als ersten Candidat, Amtmann v. Martels als 2. Candidat und Schulze Schwering bei Ahaus als 3. Candidat durchzubringen. Letzteres kann kaum lesen und schreiben und wurde im Landraths-Wahltermine vom Amtmann Terhalle wirklich vorgeschlagen.

Die rächende Nemesis erreichte H. v. Hilgers aber wie bekannt am Tage der Wahl, wo als
1.       Candidat Herr Reg. Ref. v. Kerkering als
2.              "            "   Assessor Rawe             und als
3.              "           "    Reg. Ref. v. Westhofen gewählt wurde.

Sogleich nach der Wahl beginnt seine erneute Thätigkeit. Es schlingt sich ein Band um H. v. Hilgers, v. Martels, Fuisting und Gerichts-Director Brandis. Diese trennen sich ab von der übrigen Gesellschaft in Ahaus, vielmehr wurden von der letzteren verlassen. In einem Saale in einem Gartenhause der Wittwe Kirch, außerhalb der Stadt war der Ort der Zusammenkunft. Dort wurde geschrieben und berathen und so geheimnisvoll man auch dort und allenthalben zu Wege ging, weiß man doch, daß man an den Herrn Staats-Minister v. Schwerin sich gewand hat für H. v. Hilgers und gegen die anderen Herren Candidaten 1 und 2.

6tens. Welche Mittel dem H. v. Hilgers heilig sind, um zu seinem Zwecke zu gelangen, darüber Folgendes: Als er in dem Kreise Ahaus sein Amt antrat, hatte er gewiß keine Personen-Kenntniß. Allgemein günstig wurde es aufgenommen, daß als er über den Amtmann v. Martels Aufklärung erhielt, verwundernd bemerkte: Ich begreife nicht wie so ein Mensch noch im Amte sein kann. Nachher hatte er auch Gelegenheit, diesen im ganzen Kreise bekannten Menschen aus den Acten Dues K. Alstädde c/a v. Martels noch näher kennen zu lernen. Aber er muß diesen Menschen gebrauchen. Sonntag wie Alltag sieht man den H. v. Hilgers mit seinen Creaturen nach v. Martels wandern und diese Herren mit ihren Familien mögen sich bis in die Nacht hinein von diesem Menschen auf Kasse und Wein tractiren lassen und laden ihn wieder ein. Es ist sehr traurig, wenn ich der vollen und nackten Wahrheit gemäß noch zufügen muß, daß er gar um Gehaltserhöhung für H. v. Martels eingekommen ist. Es ist kein Wunder, wenn für Fuisting in den nächsten Tagen aus Dankbarkeit dasselbe geschieht. Denn Letzterer hat sich wirklich für ihn aufgeopfert.

Wie ein Landraths-Verweser sich so unter die Partheien stellen kann, ist nicht zu begreifen. Statt einen Landraths-Verweser sind im Kreise Ahaus jetzt vier. Wie kann ein solcher Mann je eine freie Stellung einnehmen! Es ist wol nicht zu verwundern, wenn unter solchen Umständen Stimmen der Unzufriedenheit laut werden, wenn namentlich diejenigen klagen, daß ihnen alles gegen gearbeitet wird, welche nicht für v. Hilgers sind. Wie einseitig der Letztere ist, beweißt, daß als er im Kreise anlangte und seine Visiten erhielt, er bei denen nicht Revisite machte, von denen er wußte, daß er sie nicht später gebrauchen können. Nachdem der H. v. Hilgers noch kürzlich behauptet, er wisse es nun ganz bestimmt, daß er als Landrath im Kreise Ahaus octroirt werde und da seine Kreaturen gleiche Ausstreuungen zu machen sich erlauben, so habe ich es im Interesse des Kreises für meine Pflicht gehalten der Königlichen Regierung von Vorstehendem Kenntniß zu geben, dabei bemerkend, daß diese Angaben auf die genaueste Kenntniß der Sachlage beruhen, und von der reinen Wahrheit kein Tittelchen abweichen. Daß Letzteres nicht geschehen, können Recherchen nachweisen, welche ich anzustellen bitte. Es thut mir nur sehr leid, daß die Umstände es nicht erlauben, daß ich meinen Namen nenne. – Schließlich noch bemerke ich, daß H. v. Hilgers am 1. Tage im Schützenzelte in Ahaus, /Dienstag d 28 Aug c./ also noch sehr kürzlich erfahren mußte, welche Mißachtung ihm und seiner Clique folgt. Suum cuique!

Ahaus den 3. September 1860[17]


Mit der Weiterleitung des anonymen Schreibens praktizierten die Münsteraner Beamten Mutmaßungen über das Verhalten des Innenministers und dessen Verhältnis zu Hilgers in die Akten, die sie in Ausübung ihres Dienstes in dieser Form nicht hätten vortragen können. Die Bezirksregierung favorisierte Kerckerinck und wurde von den beteiligten Parteien auch so eingeschätzt.

Innenminister Graf Schwerin Putzar

Zeitnah zu den Enthüllungen aus Ahaus wandte sich Friedrich Fürst zu Salm Horstmar mit der „vertraulichen Mittheilung“ an Schwerin, dass die Ritterschaft dringend die allerhöchste Bestätigung des gewählten Kerckerinck wünsche.[18] Er selbst habe dem tüchtigen Mann seine Stimme gegeben, der – so wusste der Fürst – von Münster bereits empfohlen sei. Schwerin möge seinen hohen Einfluß einwirken lassen, da ein anderer Kandidat allerhand Wege eingeschlagen habe, um ins Amt zu kommen.

Hilgers, von dem da die Rede war, hatte nach wie vor eifrige Fürsprecher. Amtmann Martels schrieb erneut an Schwerin und forderte ein liberales Ministerium auf, allen zur Disposition gestellten Landräten gerecht zu werden und als letztem auch Hilgers seinen bescheidenen Wunsch zu erfüllen und ihn zum Landrath des Kreises, welchen er jetzt seit fast einem Jahre verwaltet, zu ernennen.[19] Wenig später suchte Hilgers den direkten Weg zum Innenminister und erhielt am 22. September 1860 in Berlin eine Audienz bei Schwerin. Schon am folgenden Tag erlaubte er sich, schriftlich die Bitte zu wiederholen, daß das Verhalten des Reg. Referendar von Kerkering einer näheren Prüfung unterworfen werde. Der habe wissentlich unrichtige Abschriften der Testamente der Grafen Droste vorgelegt. Aus den Akten werde sich ergeben, dass die Abschriften an den Stellen verstümmelt wurden, wo es um den Nachweis der Dispositions-Fähigkeit des Grafen Droste ging. Wie einen Monat zuvor gegenüber Finanzminister Patow strich Hilgers heraus, dass Kerckerinck mit der Sachlage genau vertraut war, und mit vollem Wissen gehandelt hat.[20]

Kreisordnung für Westfalen in der Beratung

Im Herbst 1860 lag der Entwurf einer vollständigen Kreisordnung für die sechs östlichen Provinzen auf dem Tisch und beanspruchte die Aufmerksamkeit der Entscheider in Berlin und in Münster. Es sollte geprüft werden, ob auf dieser Grundlage auch eine westfälische Kreisordnung geschaffen werden könne. Hilgers wusste sicher von den Bestrebungen und hoffte mit seinen Freunden auf ein verändertes Reglement für die Wahlen.

Darf Hilgers hoffen?

Noch im Januar schrieben Martels, Fuisting, Holländer, terMeulen und jetzt auch Kappelhoff an den König und baten Hilgers wenigstens bis zur Entscheidung über die neue Kreisordnung im Amt zu lassen: Uns tröstete jedoch die Hoffnung, daß p. von Hilgers entweder bald als unser Landrath ernannt oder ihm doch bis zur Emendation [Verbesserung, Berichtigung] der neuen Kreis-Ordnung, nach deren Entwurfe die herkömmliche Wahl wegfällt, die hiesige Verwaltung belassen würde.[21] Derweilen spielten die westfälischen Bezirksregierungen durch, wie sich die in Aussicht stehende Kreisordnung auswirken würde. Münster verglich u.a. die bisherige Einteilung in ländliche Wahlbezirke mit der neuen Ordnung, die „Amtsbezirke“ vorsah. Nach der alten Ordnung gab es im Regierungsbezirk 62 Wahlbezirke, nach dem Entwurf der neuen Kreisordnung zählte man 99 Amtsbezirke, von denen jeder einen Abgeordneten in die Kreisvertretung wählen sollte. (Bezirke mit mehr als 6000 Einwohnern durften zwei Abgeordnete entsenden.) Im Kreis Ahaus würde man künftig in zehn Amtsbezirken statt bisher sechs ländlichen Wahlbezirken wählen.[22]

Wer muss fürchten?

In ihrem Gutachten an den Oberpräsidenten[23] beschränkte sich die Bezirksregierung Münster Westfalen nicht auf Vorhersagen zu den zählbaren Auswirkungen, sondern beurteilte die Anwendbarkeit der geplanten Kreisordnung auf die Provinz Westfalen auch aus politischem Blickwinkel: Eine neue Kreisvertretung werde sich in erheblicher Weise von denen gegenwärtigen unterscheiden, für die immer noch die Kreis-Ordnung für Rheinland und Westfalen vom 13ten Juli 1827 gelte. Kritisiert wurde die vorgesehene Schaffung von Wahlverbänden, besonders die Vermengung unterschiedlicher Verhältnisse im Verband des großen ländlichen Grundbesitzes. Mit einer solchen Einteilung werde der Standesherren, die auf den Westfälischen Kreistagen besonders vertreten waren, gar nicht gedacht und ebenso beabsichtige man, den bisher zu Virilstimmen berechtigten Rittergütern pp die übrigen großen Güter … zuzugesellen. Auch wolle man die Stimmen der großen Gutsbesitzer nicht mehr einzeln zählen. Ohne ihre Virilstimme (Kopfstimme) bliebe ihnen nur, ihren Grundbesitz im Verbund mit anderen durch gewählte Abgeordnete vertreten zu lassen. In der Kreisversammlung werde die Gruppe der Abgeordneten  des großen ländlichen Grundbesitzes zudem auf die Hälfte aller Stimmen begrenzt.

Münster sah die historischen Rechte der Ritterguts-Besitzer durch den Entwurf in gewissem Maße geschont, den Stand aber in seiner bisherigen Bedeutung sehr wesentlich beschränkt. Die neue Kreisordnung sei als Folge drückender Missverhältnisse und einer Zurücksetzung zu verstehen, unter welcher die Stände der Städte und Landgemeinden in den östlichen Provinzen, dem Stande der Rittergutsbesitzer gegenüber zu leiden haben mögen. In Westfalen lägen die Dinge anders. Es sei zu bestreiten, dass die Städte und Landgemeinden unter der alten Ordnung litten und dass sich ihre Position unter einer neuen verbessern würde. Folglich wiederholten die Gutachter noch einmal, was sie bewegte: Es ist mithin für unseren Bezirk durchaus keine Nothwendigkeit vorhanden, das historische Recht der Ritterguts-Besitzer anzutasten um dadurch einem für die übrigen Stände ersprießlichen Zustand erst herbeizuführen; wir glauben vielmehr, daß diesem Rechte, welches in dem Entwurfe nur noch beschränkte Anerkennung findet, bei uns vollkommene Schonung wiederfahren kann und muß.

Auch dieser Entwurf einer neuen Kreisordnung gelangte nicht zur Durchberatung und scheiterte wie andere vor und nach ihm.[24] Das Gutachten aus Münster erlaubt aber einen Blick auf die grundsätzliche Haltung der Regierung gegenüber der herkömmlichen Ordnung in den Kreisen. Der Schriftwechsel findet hier Beachtung, weil man zur gleichen Zeit mit der Auseinandersetzung um das Landratsamt im Kreis Ahaus befasst war.

Eine Intervention von höchster Stelle wird zur Karte, die sticht

Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III. (etwa 1858) - Wikimedia Commons, Bearb.: dg.

Im Kreis Ahaus suchten die Anhänger Kerckerincks im November 1860 die Entscheidung und setzten auf standesgemäße Verbindungen in allerhöchste Kreise. Graf Droste zu Vischering wandte sich an Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Friedrich III.: Die Bestätigung Kerckerincks würde nach seiner innersten Überzeugung ... äußerst erwünscht sein, indem derselbe religiös und politisch von den besten Gesinnungen beseelt, in den Geschäften vollständig erfahren, die Achtung und das Vertrauen seiner Standesgenossen wie der übrigen Stände besäße. Nur die Grundbesitzfrage stünde einer reibungslosen Installierung des Gewählten im Wege. Er selbst habe Grundstücke an Kerckerinck verkauft – berichtete Droste – und einige wenige gehörten zu seinem Familienfideikommiss, aber in diesen Fällen sei die Genehmigung der General-Commission zu Münster erbeten und ertheilt worden. Der Graf versichert dem Prinzen, dass es der guten Sache einen großen Nutzen gewähren dürfte, wenn er sich für Kerckerincks Berufung einsetzen würde.[25] Was immer im Verständnis der beiden hochgestellten Personen den Begriff der „guten Sache“ füllte, die Formel erwies sich als die geeignete Ansprache. Unverzüglich wurde dem Innenministerium ein höchstes Handschreiben des Prinzen zugestellt:

Ew. Excellenz

übersende ich in der Anlage ein Schreiben des Grafen von Droste zu Vischering in welchem derselbe meine Verwendung in Anspruch nimmt, die im Kreise Ahaus stattgehabte Landrathswahl zu Gunsten eines Frhrn von Kerckerinck-Borg befürworten zu wollen. Was an formellen Bedenken sich erheben ließe widerlegt Graf Droste in besagtem Schreiben.

Mir ist der Candidat nicht bekannt, ebenso sind auch sämmtliche Nebenumstände mir fremd. Dagegen ist der Graf Droste ein alter Bekannter von mir, bereits aus Bonn her, und schätze ich denselben sehr. Aus Rücksicht für meine Zuneigung zu ihm empfehle ich also seine Bitte, indem ich natürlich Alles übrige Ihnen anheimstellen muß.

Wie immer
Ew. Excellenz
treuergebener
Friedrich Wilhelm
[26]

Damit war die Sache entschieden. Innenminister Graf Schwerin folgte der höchsten Empfehlung und bereitete die Papiere vor.  Wegen des Grunderwerbs gingen noch Dokumente ein. Das Kreisgericht Ahaus sandte die Abschrift eines Testaments aus dem Jahre 1832. Droste-Vischering überreichte ein solches von 1799 und zeigte sich bei dieser Gelegenheit  von den Einwendungen des Ahauser Landratsamts gegen die Qualität des Grundbesitzes persönlich berührt. Das Landratsamt hätte die Behauptung eines obwaltenden Scheinkaufes ausgesprochen. Er – Droste –  habe aber wiederholt erklärt, dass der Erwerb des erforderlichen Grundbesitzes ein definitives Rechtsgeschäft sei.[27] Von der Regierung Münster kamen schließlich die Atteste der Königlichen General-Commission, welche die unbedingte Unschädlichkeit der Käufe und die ordnungsgemäß erfolgten Zahlungen bestätigen.[28]

Für Hilgers legten sich Mitte Januar 1861 die bekannten Unterstützer Martels, Fuisting, Holländer, terMeulen und jetzt auch Kappelhoff noch einmal ins Zeug und schrieben als Kreistagsmitglieder an Wilhelm I, der nach dem Tod seines Bruders[29] seit zwei Wochen König von Preußen war. Der Brief lässt den aktuellen Verwalter des Kreises in hellem Licht erscheinen, streift Stationen des beruflichen und politischen Werdegangs und spart nicht mit lobenden Bewertungen. Im Verfahren zu Besetzung des Landratsamtes seien Hilgers‘ Verdienste und sein fortdauerndes Engagement nicht angemessen gewürdigt worden. Seine Ernennung wäre demnach auch ein Akt der Gerechtigkeit. Als Gegenstück zu der anonymen Wortmeldung (vgl. oben) folgt hier der vollständige Text:

Allerdurchlauchtigster!
Großmächtigster König und Herr!

Voll Vertrauen zu Ew. Majestät Huld, welche bescheidenen Bitten jede mögliche Berücksichtigung angedeihen läßt, wagen die treugehorsamst unterzeichneten Kreistags-Mitglieder ehrfurchtsvoll eine unterthänigste Bitte betreffend gute Verwaltung des Kreises und mithin im Interesse desselben.
Der Kreis Ahaus genießt die Wohlthat, daß seit September 1859 ein Mann an dessen Spitze steht, welcher sich seit Jahren als umsichtiger und in jeder Hinsicht tüchtiger Beamter, als gemeinsinniger, liberaler Mann und Patriot ausgezeichnet hat. Der Kreis Altenkirchen, dessen Landrath er bereits in 1848 war, zu welcher Zeit er zwei benachbarte Kreise unter den schwierigsten Verhältnissen eine Zeit lang mit verwaltete, wurde aufs schmerzlichste durch die unerwartete Trauer-Botschaft berührt, daß er zur Disposition gestellt worden. Viele Jahre wirkte er unermüdlich auf dem Landtage in Gemeinschaft von Männern, wie von Patow und Graf Schwerin, deren höchste Lebens-Aufgabe Preußens Größe ist. Der zur Disposition gestellte p von Hilgers wurde bald hier, bald dort zur Verwaltung verschiedener Kreise verwendet. Er kam nur zu oft in ganz fremde Gegenden und unbekannte Verhältnisse, welche sein eifriges Wollen Anfangs lähmten, wo seine gewohnte Umsicht jedoch bald Bahn brach und erfolgreich wirkte. – Letzteres hat derselbe auch in dem Kreise Ahaus bethätigt, dessen Verwaltung schon deshalb einen erfahrenen tüchtigen Beamten erfordert, weil viele Chaussee-Bauten unternommen und theilweise noch nicht vollendet sind.

Um sich ganz der schwierigen Verwaltung unseres Kreises zu widmen, legte er sein Mandat als Mitglied des Abgeordneten-Hauses vor einem Jahre nieder, und lehnte Anerbietungen zur Wiederwahl ab.

Die Wünsche der Mehrzahl der Kreis-Eingesessenen sind dem Herrn Minister des Innern durch mehre Bürgermeister, Amtmänner und Vorsteher mitgetheilt und die Gründe für die Fortdauer der seitherigen Verwaltung angegeben, - insbesondere durch die Unterzeichneten, welche auch die landesväterliche Huld gleich angerufen hatten.

Bei der am 30. Mai v. Js. hier erfolgten Landrats-Wahl konnten wir unsern p. von Hilgers nicht wählen, weil er sich im Kreise nicht angekauft hatte. Wir bedauerten dies umsomehr, als Mangel an Candidaten war, daher ganz junge Leute gewählt sind, (keiner der Präsentirten zählt dreißig Jahre) welche sich zur Landrathsstelle und nur wegen derselben Grundbesitz verschafft hatten; überdies sind zwei der Präsentirten nur Juristen. Uns tröstete jedoch die Hoffnung, daß p. von Hilgers entweder bald als unser Landrath ernannt oder ihm doch bis zur Emendation der neuen Kreis-Ordnung, nach deren Entwurfe die herkömmliche Wahl wegfällt, die hiesige Verwaltung belassen würde. Möge denn diese Hoffnung durch die Gnade Ew. Majestät in Erfüllung gehen!

Andere zur Disposition gestellte Landräthe – wie von Bockum-Dolfs – sind zu höhren Stellen befördert; - möge daher umsomehr die frühere bescheidene Stellung einem Mann wiedergewährt werden, dessen Name in seiner Heimat (in der Rheinprovinz) überall einen guten Klang hat, dessen gemeinnütziges Wirken sich auch in Westfalen bewährte und dessen patriotischer Sinn sich in den bevorstehenden Tagen der Gefahr entfalten wird.

Gnade, die schönste Zierde des Thrones, ist beim Antritte Ew. Majestät Regierung, welche Gott als eine lange und glückliche segnen wolle, durch Erlaß einer Amnestie in reichem Maaße ausgegangen.

Die Ernennung des Freiherrn von Hilgers als Landrath des Kreises Ahaus würde unserem Kreise gegenüber ein Act der Gnade, dem p von Hilgers gegenüber ein Act der Gerechtigkeit sein, welchen von der landesväterlichen Huld unterthänigst wiederholt erbitten, und in Ehrfurcht ersterben

Ew. Majestät
treu gehorsamste Kreis-Abgeordnete
Frhr v. Martels
Fuisting
Holländer
Kappelhoff
terMeulen[30]

Was immer die Bittsteller bewegte, was sie noch hofften und wer beim Abfassen des Textes die Hand geführt haben mag: Dieses Schreiben bewegte nichts mehr.

Hilgers redet "Klartext" und gibt auf

Hilgers selbst gab die dem Amt geschuldete Zurückhaltung gegenüber der Bezirksregierung mehr und mehr auf. Ende Januar 1861 bot ihm der fällige Zeitungsbericht Gelegenheit, seine Ansichten loszuwerden. Er sah sich aufgefordert, den Punkt „Öffentliche Stimmung und Einfluß der Gesetzgebung auf dieselbe“ spezieller zu behandeln. Das Landratsamt hatte es in den letzten vier Berichten bei der Formel „durchaus befriedigend“ bewenden lassen. Nun fügte der Verwalter eigenhändig in die vorbereitete Vorlage ein, was ihn bewegte. Hilgers wurde grundsätzlich und betonte, es sei keineswegs eine angenehme Auflage, sich zur öffentlichen Meinung äußern zu sollen, denn Angaben in Betreff übler Stimmung werden selten gern gehört und wohl auch als persönliche Ansicht des Berichterstatters angesehen. Amtliche Organe gäben deshalb in wenig Fällen richtigen Anhalt für die wirklich geltende Stimmung. Die werde eher von den Zeitungen gemacht. Kennt man mithin diese, so kennt man die Stimmung, folgerte Hilgers, der mit seiner Ansicht nicht zurückhalten wollte:

Hier steht die große Masse der Bevölkerung auf zu tiefem Standpunkt, als daß sich in ihr eine selbstständige Stimmung heraus bilden könnte. Möglichst wenig Steuern zahlen und nicht im Herrn dienen, darauf beschränkt sich ihr Interesse im staatlichen Leben, darneben ist sie sehr kirchlich, aber deshalb keineswegs sehr moralisch.

Die Gebildeteren, deren Zahl verhältnißmäßig sehr gering ist, lesen das Mainzer Journal, die Köllnischen Blätter und andere Zeitungen dieser Richtung. Ich habe demnach Raum auszuführen, welcher Stimmung jene sind, da die Ober[be]hörden diese Blätter kennen. Vorerst Östreich, dann erst Preußen. Frage man überhaupt bei der Post, welche Zeitungen in diesem oder jenem Landestheil in der Mehrzahl gehalten werden, so hat man bessern Anhalt zur Beurtheilung der Stimmung in den betreffenden Landestheilen, als dies die Behörden angeben. Die Gebildeten verschaffen sich die Zeitungen, welche ihnen zusagen, den Ungebildeten, wenn sie überhaupt Zeitungen lesen, werden diese oktroyirt, sonst erhalten sie entsprechende mündliche Belehrung in der Richtung der gehaltenen Blätter. Kennt man mithin diese, so kennt man die Stimmung, und hat keine Lobhudeleien abhängiger Beamten oder Ergiessungen im Partheiinteresse befangener Landräthe nöthig.

Vier Wochen später teilte Hilgers der Bezirksregierung mit, dass er die Verwaltung des Kreises Ahaus zum 4. März niederlegen werde.[31] Münster informierte unverzüglich Innenminister Schwerin. Die Abteilung des Innern fand verständnisvolle Worte für den Rückzug, der von Mutmaßungen über die Tendenz der allerhöchsten Entscheidung bestimmt worden sei:

Da der p von Hilgers im Kreise allgemein für einen eifrigen Mitbewerber um die erledigte Landrathsstelle gilt … so mag das Fehlschlagen seiner desfallsigen Bemühungen, wenn seine Voraussetzung, daß eine denselben entgegenstehende Allerhöchste Entscheidung ergangen sei, richtig ist, allerdings ihm seine gegenwärtige Stellung in Ahaus sehr verleiden, und erscheint es auch erklärlich, daß er der Uebergabe der Amtsgeschäfte an den künftigen Landrath aus dem Wege zu gehen sucht. Auf dieses Verhältniß dürfte bei Beurtheilung seiner hier angezeigten und an und für sich auffallenden Schrittes, billige Rücksicht zu nehmen sein.[32]

Mit der Fortführung der Geschäfte beauftrage die Bezirksregierung einstweilen den tüchtigen Kreissekretär Bösensell und bat das Ministerium, bis zur Einführung eines neuen Landrats den Kreisdeputierten Freiherrn von Oer zu Egelborg mit der Verwaltung des Kreises zu beauftragen.

In dieser Situation wandten sich die Freunde des Kandidaten Kerckerinck aus Sorge um den Kreis Ahaus an die Öffentlichkeit. Im „Westfälischen Merkur“ vom 8. März 1861 beklagten sie, dass der Kreis seit nunmehr achtzehn Monaten interimistisch verwaltet werde, obwohl es drei qualifizierte Kandidaten gäbe, von denen Kerckerinck an erster Stelle präsentiert worden sei. Im Kreis lägen Handel und Gewerbe danieder und das im Bau befindliche Chausseenetz hätte die Schulden auf 350.000 Taler anwachsen lassen. Es fehle ein Plan, aber der sei von einer interimistischen Verwaltung nicht zu erwarten. Die Mehrzahl der Kreiseingesessenen wünsche, daß unter Beachtung der gesetzlich vorgenommenen Wahl ein Mann zum Landrath unseres Kreises ernannt werde, der auch mit unseren Einrichtungen, den Sitten und Gebräuchen unserer Bevölkerung bekannt ist, und in politischer Beziehung intakt, und über dem gewöhnlichen Parteigetriebe erhaben dasteht.[33]

Hilgers‘ Leute antworteten mit Datum vom 18. März 1861 in der „Westfälischen Zeitung“ und erklärten das lange Warten auf die definitive Besetzung des Landratsamtes damit, daß es bei einem der drei Präsentirten zweifelhaft sei, ob er den für ein Landrathsamt erforderlichen Grundbesitz habe. Und eine wirtschaftliche Stockung könne nicht von einem Landrat beseitigt werden, und wäre es auch ein definitiver. Das Geschrei nach definitiver Besetzung der Stelle fände nur statt, weil der an erster Stelle präsentirte Candidat ... einer gewissen Partei lieber sei als der nicht präsentierte Hilgers. Dann wurden die Briefschreiber deutlicher: Aber – Herr Hilgers ist liberal ..., da liegt der Haase im Pfeffer. Die Freunde der Kreuzzeitung können einen liberalen Landrath nicht leiden, und deshalb muß er indirekt und versteckt angegriffen werden, damit der definitive Landrath bald ernannt wird. – Wir haben gegen die alsbaldige definitive Besetzung des Landrathsamts Nichts zu erinnern und wollten blos die Angriffe gegen den im Volke hier allgemein geachteten Herrn Hilgers hiermit zurückgewiesen haben.[34]

Hilgers war gleich Anfang März nach Köpenick zurückgekehrt. Von dort aus informierte er Minister Schwerin über die Beweggründe seines Abgangs in Ahaus. Ohne Aussicht auf Erlangung der Stelle habe er kein Interesse gehabt, die Verwaltung fortzuführen. Auch habe das Interesse des Dienstes verlangt, das Amt niederzulegen, weil überall verbreitet wurde, dass die Adelspartei noch im Stande sei, sich durchzusetzen. Dadurch habe er seine Autorität, die schon früher von den Provinzial-Behörden vielfach untergraben worden sei, verloren. Er glaube den Konflikt nicht weiter fortführen zu dürfen und hoffe, dass sich in dem großen heimischen Staat, wohl eine anderweitige Gelegenheit zu seiner Wiederanstellung finden werde. Und weil er von allerhöchsten Orten gehört haben wollte, dass es der Wunsch Ihrer Majestäten sei, ihn wieder zu beschäftigen, stellte Hilgers gleich den entsprechenden Antrag.[35] War es ein erster Anflug von Ironie? Das Schreiben löste keinen Vorgang aus und verschwand in der Personalakte.

Im April 1861 fertigte der Innenminister den Entwurf für die Vorlage an den König. Schwerin referierte das Votum des Oberpräsidenten, der Kerckerinck wegen der von ihm gerühmten Eigenschaften und weil er jedenfalls die Erfahrung in Verwaltungsgeschäften vor den Mitbewerbern voraus hat, entschieden den Vorzug gab. Die Möglichkeit, die vom Kreistag präsentierten Kandidaten zu übergehen und den kommissarisch im Amt wirkenden Hilgers definitiv zu bestallen, verwirft der Innenminister:

Schließlich darf ich nicht unbemerkt lassen, daß zwar mehrfache, von Ortsbehörden und Privaten aus dem Kreise Ahaus angebrachte Petitionen, zu denen auch die an mich remittirte, ehrfurchtsvoll wieder angeschlossene Immediat-Vorstellungen des Bürgermeisters Fuisting und Genossen so wie einige Kreistagsmitglieder gehören, die Ernennung des derzeitigen Landraths von Hilgers zum Landrathe erbitten. Da indessen gegen die von der Kreisversammlung nach ihrem verfassungmäßigen Rechte präsentirten Kandidaten begründete Ausstellungen [Äußerungen, dass etwas schlecht oder verbesserungswürdig ist][36] nicht gemacht werden können, so ist den gedachten Petitionen nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten keine weitere Folge zu geben.[37]

Maximilian Kerckerinck zur Borg wurde mit Datum vom 27. April 1861 definitiv zum Landrat des Kreises Ahaus ernannt.
____________________
[1] LAV NRW W, Regierung Münster, Nr. 4863.
[2] a.a.O. – Schreiben B. Raves vom 11.06.1860, als Erklärung zu den Wahlakten genommen.
[3] Rave und Westhoven machten anderweitig Karriere; Kerckerinck wurde mit Datum vom 27. April 1861 definitiv zum Landrat ernannt und in Zusammenhängen mit dem Kulturkampf am 30.03.1874 mit Orden ausgezeichnet aus dem Dienst entlassen (Wegmann, S, 294).
[4] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben vom 27.04.1861.
[5] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben vom 31.05.1860. Wenn nicht anders zitiert, folgt der Text diesem Schreiben.
[6] - [9] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[10] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben im Juli 1860, pr. 24.07.1860. – Die Unterschriften wurden auf den Zirkularen im Original und als nach Bezirken (Gemeinden) geordnete Namensliste in Reinschrift eingereicht. Die Unterstützer des Kandidaten Rave unterschrieben in der Stadt und der Landgemeinde Ahaus, in Vreden, Ammeloe. Legden, Wullen, Wessum, Ottenstein, Alstätte, Südlohn, Schöppingen und Eggenrode, in der Stadt und Landgemeinde Stadtlohn sowie in Gronau, Epe und Heek.
[11] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[12] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben vom 17.08.1860.
[13] - [15] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[16] - [20] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[21] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben vom 16.01.1861.
[22] LAV NRW W – Oberpräsidium Nr. 1106 - „Statistische Nachrichten“ in Bezug auf die Kreisordnung vom 01.11.1860;
[23] LAV NRW W – Oberpräsidium Nr. 1106 - Mauderode für die Regierung Münster an den Oberpräsidenten (Korreferenten: RR von Hartmann, RR Rinteln, R. Ass. Pahl) – Gutachten vom 13.11.1860.
[24] Strutz, Georg, Die Kommunalverbände in Preußen: eine Darstellung der im Preußischen Staate geltenden Städte-, Landgemeinde-, Kreis- und Provinzial-Verfassungen, Berlin 1888, S. 215, vgl. ebenda – Persistente URL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000B24D00000000.
[25] - [28] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[29] König Friedrich Wilhelm IV verstarb am 2. Januar 1861.
[30] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Schreiben vom 16.01.1861.
[31] + [32]  GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6.
[33] Westfälischer Merkur, Nr. 56, 08.03.1861 (Zeitungsarchiv Münster).
[34] Westfälische Zeitung, 14. Jahrgang, Nr. 67, 20.03.1861 (Institut für Zeitungsforschung Dortmund).
[35] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Nr. 1233 PA.
[36] Hinweis zur Bedeutung des Begriffs bei: wiktionary.org/wiki/Ausstellung, 17.10.2015.
[37] GStA PK, I. HA, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 323 B 24, Nr. 6 – Entwurf zum Bericht an den König  vom 09.04.1861.

 
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