Kreis Lüdinghausen im Spiegel der "Zeitungsberichte"
(1855-58) – Teil 2
Dieter Gewitzsch
Von den gut zwanzig Positionen, die das Landratsamt alle zwei Monate als „Zeitungsbericht“ abzuarbeiten hatte, wurden im ersten Teil dieses Beitrags die Rubriken „Witterung“, „schädliche Naturereignisse“, „Mortalität“, „Wohlstand im Allgemeinen“, „Landeskultur“, „Gewerbebetrieb“, „öffentliche Stimmung“ und „Wohltätigkeit und Menschenliebe“ zusammengefasst. >>
„Verbrechen“ und „Polizei“
Für Straftaten sah die Gliederung der Zeitungsberichte in den Jahren 1855 bis 1858 noch unterschiedslos die Rubrik „Verbrechen“ vor, obwohl das zum 1. Juli 1851 in Kraft getretene Gesetz über die Einführung des Straf-Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten sehr wohl das Verbrechen vom Vergehen oder einer Übertretung zu unterscheiden wusste und es Aufgabe der Polizei war, die Vorkommnisse auch im Sinne dieser Differenzierung zu untersuchen,[1] was die Behörde auch tat. Rospatt meldete im Spätsommer 1856, dass die zur Anzeige gebrachten Uebertretungen ... gehörig bestraft und die im Kreise aufgegriffenen Vagabunden den ... [zuständigen] Gerichten überliefert seien. Bettler und Vagabunden wurden in dem gesamten Zeitraum als Problem gesehen, dem die Ortspolizei mit verstärktem Einsatz, oder – wie Hilgers es formulierte – mit der regen Vigilanz der Polizeioffizianten begegnete. Im Herbst/Winter 1855/56 wurde gegen die überhand nehmende Bettelei ... in Richtung Dülmen (Nachbarkreis Coesfeld) eine Patrouille aus dem Polizeidiener und vier bis sechs Mann angeordnet und aus dem Amt Werne konnte berichtet werden, dass die immer fortgesetzte Vigilanz die Landstreicher verscheucht habe. Fünfzehn seien aufgegriffen und dem Gerichte überliefert worden. Auch in Bork habe man eine Nachtpatrouille zur Verhütung von Diebstählen mit Erfolg eingerichtet.
Die in dieser Zeit gemeldeten Straftaten waren überwiegend Eigentumsdelikte, Diebstähle von Kleidungsstücken und Lebensmitteln aller Art; seltener war von Geld die Rede. Allerdings wurde häufig gestohlen, doch die Täter blieben meist unentdeckt. In vier aufeinander folgenden Berichten zählte man insgesamt achtzig Diebstähle. Im Schnitt waren es zehn Fälle pro Monat, von denen etwa jeder vierte aufgeklärt werden konnte.
Im Winter 1856/57 beobachtete Hilgers, dass es allmählich gelänge, die belästigenden Landstreicher zu verscheuchen, obgleich dieses Gesindel sich noch ziemlich stark nach dem gesegneten Münsterlande dränge. Man habe aber viele aufgegriffen und zur Bestrafung gezogen und das Arbeitshaus ... sei ziemlich überfüllt. Eine lobende Erwähnung verdiene der Eifer, den der Polizeidiener Steffen bei Verfolgung der Landstreicher zeige.
Erfolgreich war auch der Gendarm Schmidt, der eine Schwindlerin bis Waltrop verfolgte und dort mit ihrer achtköpfigen Begleitung verhaftete. Die Ehefrau eines Marionettenspielers hatte im Juni 1857 einem Bauern aus dem Kirchspiel Olfen 42 Taler 23 Silbergroschen abgeschwindelt.
Einigen Straftaten widmeten die Berichterstatter etwas mehr Aufmerksamkeit und schilderten Einzelheiten. So wurde ein Weber, welcher 3 Scheffel Roggen in Olfen verkauft hatte, auf dem Rückwege auf der Chaussée in der Dunkelheit von einem unbekannten Menschen angefallen und zur Hergabe des aus dem Korn gelösten Geldes aufgefordert ...; jedoch ist der Unbekannte durch 2 des Weges gekommene Reiter in die Flucht getrieben und nicht entdeckt worden. Im Landratsamt glaubte man mehr zu wissen und schrieb ins Konzept: Der kecke Straßenräuber war jedenfalls ein Eingesessener von Olfen, welches zu solchen Verbrechen fähige Subjecte mehrfach aufzuweisen hat, indeß ist derselbe nicht entdeckt. Die ungewöhnliche Einlassung zur potenziellen Täterschaft wurde aber gestrichen.
Unter „Verbrechen“ wurde auch über fünf Todesfälle berichtet, vier waren Selbsttötungen, zu denen man jeweils eine Zeile schrieb: den Ort, ob Mann oder Frau und die Todesart. Zwei Frauen und ein Mann erhängten sich, in Altenbork tötete sich ein Schneider durch Sprung in die Lippe. Der plötzliche Tod eines Ackerknechts in Selm erregte den Verdacht, er sei vergiftet worden. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet wie immer, wenn ein Mensch „nicht unter den Augen seiner Hausgenossen oder anderer unbescholtener Personen“ verstarb.[2] Im Sommer 1857 wurden zwei Personen im Amt Lüdinghausen und im Amt Senden ein Greis von 74 Jahren wegen Unzucht mit Kindern von acht bis vierzehn Jahren verhaftet und des Verbrechens überführt.
„Gewerbepolizei“
In Ausübung der „Gewerbepolizei“ kontrollierte das Landratsamt u.a. Maße und Gewichte, wobei es nur selten etwas zu beanstanden gab. Öfter wurden dagegen Gewerbesteuer-Contraventionen verfolgt und zur Anzeige gebracht.
Einige Aufmerksamkeit gelte den Vorschriften der Gewerbeordnung für Ausbildung und Prüfung von Handwerkern, die 1856 in Senden hinsichtlich der Meisterprüfung besonders streng angewandt worden seien. In der Folge hätten sich dort auch Handwerker einer entsprechenden Prüfung unterzogen und die Lehrlinge seien vom Amtmann förmlich aufgenommen worden. – Es läge dazu ein Separatbericht aus Senden vor.
Hilgers berichtete ein Jahr später, dass die Prüfungen vor der Handwerkerprüfungskommission sehr zahlreich seien, man habe aber auf unbefugten Handwerksbetrieb und auf das Anmelden und Halten der Lehrlinge weiterhin ein besonderes Augenmerk und werde diesen Zweig der Polizei mit Erfolg handhaben.
„Gemeindewesen“
Thema ist eigentlich die dem Landratsamt nachgeordnete Verwaltung, hier geht es um die Amtsinhaber in den kreisangehörigen Gemeinden und um ihre Zuständigkeitsbereiche. Darüber hinaus äußert sich das Landratsamt unter „Gemeindewesen“ auch über kommunale Bauvorhaben, die oft mit großen Anstrengungen der Gemeinden verbunden waren. Es kommt zu Überschneidungen mit den Rubriken „öffentliche Bauten“ und „Kirchen- und Schulwesen“.
In der Gemeinde Lüdinghausen verstarb am 10. Juni 1855 Amtmann Röhr. Zum Nachfolger wurde Amtmann Hülskötter bestimmt, der bis dahin seinen Dienst in Olfen versah. Hülskötter wurde am 1. August des Jahres ins Amt eingeführt und bekam am 29. Januar 1856 das Amt in Lüdinghausen definitiv übertragen. In der Stadt Lüdinghausen verließ Rendant Wiese zum Jahresende 1857 die Kämmerei, seine Stelle wurde dem Landwehr-Lieutenant Meyer c. übertragen.
In Bork verstarb am 17. December 1855 ... nach circa 10wöchentlichem Leiden an der Schwindsucht der Bürgermeister und Postexpediteur v. Stojentin. Mit der Commissarischen Verwaltung der Bürgermeisterstelle zu Bork wurde Supernumerar Foecker betraut, der am 27. Januar 1856 in sein Amt eingeführt wurde.
In Werne trat Bürgermeister Wiemann zurück; die kommissarische Verwaltung übernahm Sekretär Thiers.
Im Spätherbst 1856 wurde die Verwaltung im nördlichen Kreisgebiet neu geordnet. Vom 15. November an trennte man das Amt Ottmarsbocholt vom Amt Ascheberg und schlug es dem Amt Senden zu. Der dortige Amtmann Koch bekam die Verwaltung übertragen und wurde der Gemeindeversammlung in Ottmarsbocholt vorgestellt. In Ascheberg löste Regierungs-Supernumerar Grunenberg den kommissarischen Verwalter Holländer ab, der in sein früheres Dienstverhältnis als Bürgermeister von Stadtlohn zurückkehrte.
Am 1. Januar 1857 trat in Werne eine Sparkasse ins Leben und konnte schon im September des Jahres eine Einnahme von 15.000 Talern verzeichnen, die theils bei Privaten und Gemeinden, theils bei der Westfälischen Provinzialhülfskasse untergebracht wurde. Die Kreisstände genehmigten das erweiterte Statut der Kasse und zum Jahresende schrieb Hilgers: Die Sparkasse zu Werne rentirt sich in erfreulicher Weise, so daß deren Fortbestehen nicht zu bezweifeln steht.
„Schulwesen“
Allgemein wurde festgehalten, dass die etablierten Schulen regelmäßig besucht werden und die wenigen Absenten gehörig bestraft würden. Aber neue, spezielle Bildungsangebote hatten es schwer. So berichtete man zwar, dass Mitte Oktober 1855 in Lüdinghausen unter Leitung des Lehrers Teeke die Handwerker-Sonntagsschule ihren Anfang genommen habe, aber das Landratsamt konnte sich noch nicht zu einem positiven Ausblick entschließen und strich im Konzept für den Zeitungsbericht die Zeile: [Die Schule] … verspricht einen, sowohl für die sittliche als technische Bildung der Handwerker-Lehrlinge wirksamen und nachhaltigen Erfolg. Die Skepsis der Behörde war nicht unberechtigt. Im Frühjahr 1857 sah Hilgers die Schule scheitern: Die ... hierselbst errichtete Sonntags- resp. Handwerker-Fortbildungsschule hat leider bei dem Mangel aller Theilnahme ganz aufhören müssen. Alle Mühen und Versuche, die Theilnahme für dieses so nützliche Institut zu erwecken und zu erhalten, sind vergeblich gewesen. Doch im Herbst des Jahres hoffte man erneut, dass die hiesige Handwerkerfortbildungsschule ... in der nächsten Zeit wieder zu Stande kommen werde. Lehrer Teeke stehe nicht mehr zur Verfügung; an seiner Stelle habe Lehrer Saath aus Ermen (Kirchspiel Lüdinghausen) den Unterricht übernommen. Die Bedingungen seien geklärt und man habe mit ihm abgeschlossen. Wenn sich eine hinreichende Anzahl Schüler melde, stünde der Eröffnung nichts mehr im Wege. Aber auch dieser Anlauf scheiterte.
Im Zeitungsbericht schrieb Hilgers: Saath habe die Leitung der Handwerkerfortbildungsschule ... in den Nachmittagsstunden von 12 – 2 Uhr übernommen und damit stünde aus seiner Sicht dem Beginn des Unterrichts ... nichts mehr im Wege. Indes „konveniere“ den Stadtverordneten diese Zeitbestimmung ... aus verschiedenen Gründen ... nicht, und so habe sich das Project wieder zerschlagen. Ob einer der andern ... Lehrer für den Unterricht tauglich und willig [sei], darüber könne noch nichts definitives bestimmt werden. Hilgers behielt sich eine weitere Berichterstattung zum Thema vor, aber den nächsten Zeitungsbericht schrieb schon sein Nachfolger. Landsberg meldete Anfang 1858, dass dem Lehrer Teeke hierselbst ... Seitens der Stadt wegen seiner Verdienste um die Schule und den Kirchengesang eine Gehaltszulage von jährlich 25 Talern widerruflich bewilligt worden sei.
In den 1850er Jahren sahen sich Städte und Gemeinden vor die Aufgabe gestellt, Räume für den größer und differenzierter werdenden Schulbetrieb zu schaffen. Auf dem Lande gab es lange nur einklassige Schulen, bevor die Schülerschaft nach und nach aufgeteilt wurde. Aus dem Kreis Lüdinghausen wird 1856 berichtet, dass verschiedene Gemeinden Vorschulen für die ersten beiden Jahrgänge errichten wollen. Andere gründeten Mädchenschulen und erfüllten damit die schon länger bestehende Forderung nach Trennung der Geschlechter. Die Kommunen kauften geeignete Häuser oder errichteten selbst Schulgebäude und Lehrerwohnungen.
Davensberg meldete im Sommer 1855 den Neubau einer Schule mit Lehrerwohnung, doch ein gutes Jahr später geriet das Vorhaben durch den Conflict der Gemeinde mit dem Unternehmer Lenz leider ins Stocken und zur Jahreswende 1856/57 ruhte der Bau. Die Gemeinde werfe dem Unternehmer vor, die Arbeiten teilweise anschlagswidrig ausgeführt zu haben und bestünde darauf, dass Theile des Baues abgebrochen und neu hergestellt werden, wozu der Unternehmer nicht bereit sei. Wenn eine Vermittlung nicht zu erzielen sei, vermutete man im Landratsamt, werde die Gemeinde den Rechtsweg betreten und die Vollendung des Baues eine unabsehbare Verzögerung erleiden. Tatsächlich belangte die Gemeinde Davensberg den Unternehmer Lenz auf gerichtlichem Wege.
Südkirchen kaufte ein Haus zur Einrichtung einer Mädchenschule mit Lehrerinnenwohnung, vergab die weiteren Aufträge und beschleunigte die Vorgänge so, dass der Betrieb im Winter 1855/56 aufgenommen werden könnte.
Ottmarsbocholt kaufte ein Haus für die zweite Schulklasse, dessen Herrichtung aber länger dauern sollte.
Anfang 1856 verhandelte man in Herbern die Errichtung einer Vorschule , die im Mai des Jahres eröffnet werden konnte. Zur selben Zeit kaufte Herbern einen geräumigen Platz zur Erbauung eines neuen Schullocals. Ein Jahr später fand der Verding des neuen Schulbaues statt und im Frühjahr 1957 hatte man den Neubau der Schule zu Herbern ... in Angriff genommen und ... nach Kräften gefördert.
In der Stadt Lüdinghausen waren die Behörden ... mit Plänen zur Erweiterung der Mädchenschule fortwährend beschäftigt. Die Maßnahme wurde im Winter 1856/57 von der neu constituirten Stadtverordneten-Versammlung beschlossen. Wie geplant, hatte man im Frühjahr 1857 anfangen und den Erweiterungsbau im Sommer fertiggestellt.
Im Herbst 1856 berichtete das Landratsamt, dass Bork den Umbau der Küster- und Lehrerwohnung beabsichtige. Allerdings habe der angefertigte Plan ... dem Gemeinde- Schul- und Kirchen-Vorstande nicht gefallen und es sei deshalb ein neuer im Werke begriffen. Sobald derselbe die Genehmigung erhalten habe, werde mit dem Bau vorgegangen und die Ausführung erfolge voraussichtlich im nächsten Jahre. Im Sommer 1857 wurden die Arbeiten verdungen, doch es stellte sich heraus, daß die Reparaturen nicht nach dem Kosten-Anschlage ausführbar waren. Man habe deshalb das alte Gebäude ganz umgeworfen und werde aus dem verbliebenen Material ein neues errichten. Nach der Ansicht der Bau-Commission käme dieser Bau nicht viel theurer, ... als der Reparatur-Bau veranschlagt war.
"Kirchenwesen"
Das besondere Ereignis dieser Jahre war der vom Freiherrn v. Bodelschwingh Plettenberg zu Sandfort initiierte Bau einer Kirche für die evangelische Gemeinde in Lüdinghausen, der im Herbst 1856 erstmals in den Zeitungsberichten erwähnt wird: Der Freiherr habe die Absicht zu bauen und ein geeigneter Bauplatz sei bereits acquirirt. Die Gemeinde habe in der letzten Zeit erheblich Beiträge namentlich aus der Gegend von Bremen erhalten, wo der zeitige Pfarrverweser, Candidat Kriege, auf der dortigen General-Synode die Verhältnisse der Gemeinde auseinandergelegt und das Bedürfniß des Kirchenbaues vor Auge geführt hat. Mit der Beihülfe des Freiherrn, werde der Bau einer evangelischen Kirche und eines Pfarrhauses im Frühjahr [1857] vor sich gehen. Schon jetzt schaffe man Steine und Bauholz herbei. Mitte September 1857 legte Bodelschwingh-Plettenberg den Grundstein zu dem Kirchenbau, den er – wie das Landratsamt notierte - auf seine Kosten ausführen und dann der Gemeinde schenken werde. Und während die evangelische Gemeinde in Lüdinghausen auf das eigene Gotteshaus wartete, fand am 8. November in der Stadt Werne der erste evangelische Gottesdienst in der Wohnung des Steuer-Empfängers v. Kessel statt.
Auf der katholischen Seite erhielt die Kirche in Senden 1855 aus milden Gaben eine neue Orgel und in Ottmarsbocholt gab die Gemeinde 1856 den größten Theil des Bau-Capitals zum Bau einer neuen Wohnung für den Vikar und bewilligte für diesen Zweck 1.500 Taler.
Der Bericht zur Jahreswende 1857/58 bemerkt, dass die Feier des 50jährigen Priester-Jubiläums des Pfarrers Rohling zu Lüdinghausen sehr glänzend begangen wurde. Dem Jubilar sei aus diesem Anlass der von Sr. Majestät dem Könige ... Allergnädigst verliehende rothe Adler-Orden 3ter Klasse ... ausgehändigt worden. Einen Tag später feierte ... der Pfarrer Sternberg zu Venne das gleiche Fest; auch er erhielt den preußischen Verdienstorden, in seinem Fall den „Rother Adler-Orden“ der vierten Klasse.
"Öffentliche Bauten"
Allerorten Ausbau des Verkehrswegenetzes, hieß es 1855 in Rospatts erstem Zeitungsbericht. Bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein war Straßenbau „die“ Infrastrukturmaßnahme schlechthin. Das Landratsamt berichtete regelmäßig über Pläne zur Herstellung und Verästelung eines Systems von Wegen, mit dem das „platte Land“ erschlossen und angebunden werden sollte. Oft beschränkte sich die Mitteilung auf das, was sich gerade auf den Baustellen tat. Im Spätsommer 1856 gab Rospatt einen ausführlichen Überblick über den Stand des Wegebaus im Kreis.
Nach Norden führend sei der Chausseebau zwischen Senden und Bösensell ist im thätigsten Betriebe, man habe sowohl Unterlage als auch Oberlagesteine angefahren. Bei günstiger Witterung könne die Strecke Ende Oktober dem Verkehr übergeben werden. Das gelang nicht ganz, aber im November stand nur noch das Walzen der Steinbahn an, so dass Hilgers Anfang 1857 die Fertigstellung melden konnte: Der Chausseebau von Senden nach Bösensell ist bereits im Monat December beendigt u. die Straße dem öffentlichen Verkehr übergeben worden.
Nach Westen befand sich der Communicationsweg zwischen Lüdinghausen und Ascheberg im Bau und war innerhalb des Kirchspieles Ottmarsbocholt bis auf die Durchlaßbauten größtentheils vollendet. Nun habe man in Ascheberg Grund und Boden zur Erbreiterung resp. Geradlegung des Weges ... bis auf einzelne ganz unbedeutende Strecken erwerben können. Das Landratsamt hoffte, dass sich deren Besitzer ebenfalls noch zur Abtretung werden bereitfinden lassen. In Kürze werde man die Kostenanschläge vorlegen, dann könne der Verding in möglichst kleinen Abtheilungen sofort abgehalten werden, damit den geringeren Arbeitern für den Winter Gelegenheit zum Verdienste gegeben werde.
Es gab aber auch auf Widerstände gegen den Straßenbau. Rospatt geht in seinem letzten Bericht darauf ein: Die Opposition gegen den Ausbau des in Rede stehenden Weges, welche sich anfänglich in den Gemeinden Ottmarsbocholt und Ascheberg zeigte, hat sich in letzterer Gemeinde größtentheils schon gelegt, weil man den Vortheil dieser neuen Verbindung erkannt[e]. In dem nördlichen Theile der Gemeinde Ottmarsbocholt dagegen besonders in dem Dorfe Ottmarsbocholt dauert dieselbe fort. Viele Gemeinde Eingesessenen finden sich zur Zahlung des ausgeschriebenen Beitrags freiwillig nicht bereit und lassen es auf die executivische Beitreibung ankommen.
Probleme machten auch die „Unternehmer“, die sich – so Hilgers – nicht um ihre eingegangenen Verpflichtungen kümmerten, so dass die Kreisbehörde die Ausführung der Arbeiten auf deren Kosten durch andere anordnete. Das zeigte wohl Wirkung, denn zur Jahreswende 1856/57 konnte das Landratsamt Fortschritte melden: Der Ausbau des Communal-Weges von Ascheberg nach Lüdinghausen ist auf der Strecke I – mit Ausnahme von 200 Länge-Ruthen Sand-Anfuhr – ganz fertig. Zum Ausbau der II tn Strecke werden im künftigen Monat die Verdings-Bedingungen vorgelegt und kann der Vollendung derselben im Sommer d.J. [1857] entgegengesehen werden. Ende Mai sah Hilgers in Speciè den Ausbau des … Verbindungsweges von hier nach Ascheberg sowie von Ascheberg nach Nordkirchen mit Eifer betrieben und im Dorfe Nordkirchen werde die sogenannte Bergstraße zur Länge von 96 Ruthen neu gepflastert.
Lobend äußerte sich Rospatt 1856 über die Gemeinde Herbern, wo an der Instandsetzung der Communalwege thätig gearbeitet werde und besonders über das Amt Werne, wo der Communal-Wegebau am weitesten gediehen sei. In Werne habe die Bevölkerung den Vorteil guter Wege erkannt und man scheue kein Opfer zur Herstellung derselben. Der Bericht des Amtmanns Custodis gäbe eine nähere Vorstellung über die Lage der Wegebauten im Amte Werne. Rospatt kündigte an, er werde eine Belobung derjenigen Adjacenten [Anlieger], welche sich durch unentgeltliche Abtretung von Grund und Boden oder durch Geldopfer im Amte Werne sowohl wie in anderen Gemeinden um den Wegebau besonders verdient gemacht haben, durch das Kreisblatt veröffentlichen. Auch sei der früher vollständig unpassirbare Communalweg zwischen Ascheberg und Nordkirchen (der sogen. Rennberger Weg) ... jetzt fast zur Hälfte neu ausgebaut. Dazu habe Schulze Ehring zu Ascheberg ... außer seinen Beiträgen als Gemeindemitglied 300 Taler freiwillig hergegeben.
Zu den größeren Chausseebauvorhaben gehörte die Verbindung von Münster mit Castrop, für die man eine Überbrückung der Lippe bei Rauschenburg zu Stande zu bringen wollte. Doch 1855 befürchtete das Landratsamt, dass der Brückenbau an der Abneigung der meisten Gemeinden, Beiträge zu den Kosten zu leisten, gänzlich scheitern werde. Ein Jahr sprach man nur noch die Vollendung der Chaussee bei Rauschenburg zu beiden Seiten der Lippe an, verlor aber über die Brücke kein weiteres Wort. Mitte des Jahres 1857 konnte Hilgers dann berichten, dass man im Kreis Lüdinghausen mit der letzten Strecke der Münster-Castroper Straße, von Lehmhegge bis zur Lippe ... begonnen habe.
Den Schwierigkeiten bei Rauschenburg wich man lieber aus und suchte eine Trasse, die über Lünen nach Süden führen sollte. Gegenüber der Regierung bemühte Rospatt die „allgemeine Stimme“, sie verlange die Herstellung der viel wichtigeren Verbindung mit Dortmund durch den Bau der Verbindungschaussee von Olfen nach Bork. Er selbst habe bereits reagiert, die Verhandlungen seien eingeleitet und dürften einen günstigen Ausgang erwarten lassen.
Obwohl die Pläne in Richtung Olfen später aufgegeben wurden, war das Thema gesetzt. Den Bau einer Chaussee von Lüdinghausen über Lünen nach Dortmund hatte Rospatt angestoßen und Hilgers betrieb das Vorhaben mit Nachdruck.[3] Die künftige Trasse befand sich zu der Zeit in allen denkbaren Zuständen von „möglichweise geplant“ bis „fast fertig“. Lünen hatte 1856 die Chaussierung der Strecke von der Lippe bis zum Döttelbach mit Steinen übernommen und die Gemeinde Bork investierte schon längere Zeit in den Ausbau der Straße nach Lünen. Im Herbst 1856 wurde dort wieder Unterhaltungsmaterial angefahren, zerkleinert und zum Theil auf die Decke gebracht. Hilgers kam gleich im ersten Bericht auf die Chaussee zu sprechen und wollte anmerken, dass die beabsichtigte Fortsetzung der Chaussee von Bork nach Selm die höhere Genehmigung noch nicht erhalten habe, man aber sobald dieselbe erfolgt sei, mit dem Bau beginnen werde. Dann strich der Landratsamtsverweser die Passage. Vielleicht mochte Hilgers die Obrigkeit nicht drängen oder er nahm sich in seinem Eifer etwas zurück. Tatsächlich waren einige Hindernisse zu beseitigen, bevor mit der Bewilligung neuer Staatsprämien und der Verleihung der fiskalischen Vorrechte für den Chausseebau von Selm nach Bork zu rechnen war. Die Regierung wollte stets sicher gehen, dass die Kommunen den Bau wirklich finanzieren und sich verbindlich zum Unterhalt der Straße verpflichten, bevor sie bereit war, ihren Teil beizutragen.
Ende 1857 konnte der Landrat die Landgemeinde Lüdinghausen nur durch die außerordentliche Bewilligung von 1000 Talern dazu bewegen, dem Chausseebau nach Selm zuzustimmen. Hilgers musste eine Geldquelle aufspüren und zeigte sich findig: Zur Beschaffung derselben habe ich, in Ermangelung anderer Fonds, mich an das Oberbergamt zu Dortmund gewandt, welches sich, hoffentlich für diese Angelegenheit in seinem eigenen Interesse aussprechen und in irgend einer Weise für das Aufkommen jener 1000 Taler Sorge tragen wird. Auch wenn das Landratsamt den Hinweis strich: Das Oberbergamt hatte ein Interesse an dem Bau geeigneter Straßen für den leichteren Transport von Steinkohlen und die Westfälische Bergbau-Hülfskasse verfügte über Mittel für diese Art Absatzförderung.
Zum Ende seiner Amtszeit im Winter 1857/58 berichtete Hilgers von Verhandlungen über die nötigen Grundabtretungen. Graf v. Landsberg habe ... in die nöthige Grundabtretung ohne Grundersatz gewilligt, und vom Oberbergamt sei die Aussicht auf Bewilligung von 1000 Talern als Zuschuß für die hiesige Landgemeinde eröffnet worden. Somit seien die Haupthindernisse welche dem Projecte im Wege standen gehoben, und er dürfe, gestützt auf den guten Willen der gewählten Baucommission, hoffen, daß mit dem Ausbau der so wichtigen Straße bald vorangegangen werden könne.
"Militärverhältnisse"
Ohne besondere Ereignisse verlief 1855 eine Sichtung und Aushebung von Militärpferden zu der die Kreiseingesessenen freiwillig ein Kontingent von 35 Pferden für eine Landwehr-Kavallerie-Übung stellten. Knappe zwei Jahre später wurden im Kreisgebiet bei der Vermusterung der Landwehr-Cavallerie-Uebungs-Pferde ... nur 17 als tauglich ausgehoben, während das Contingent 48 betrug. Das Manquement[4] sei aus dem Kreisen Münster und Beckum gedeckt worden, versicherte Hilgers mit Verweis auf einen gesonderten Bericht in dieser Sache.
Zur Loosung und Musterung erschienen die Heeres-Pflichtigen (Männer) im April 1857 „regelmäßig“ und im Juli „stellten“ sich die Leute rechtzeitig zur Militärdepartements-Ersatz-Aushebung.
"Verwaltungs-Organisation"
In dieser Rubrik finden sich Notizen über die Kreisbehörde selbst. Hilgers berichtet über seinen Dienstantritt und die Verabschiedung seines Vorgängers:
Der Regierungs-Referendar Rospatt ist von der Verwaltung des hiesigen Landrathsamtes entbunden und an dessen Stelle der Freiherr von Hilgers Unterzeichnete durch Ministerial-Erlaß mit derselben einstweilen betraut.
Der Kreistag beschloß bei der letzten Versammlung einstimmig, dem p Rospatt den Dank für die getreue Verwaltung des Kreises abzustatten.
Am 16. April [1857] wird die Wahl eines neuen Landraths für den Kreis Lüdinghausen vorgenommen, und sind die Einladungen der Mitglieder des Kreistages sowie die sonstigen Vorarbeiten bereits erfolgt.
"Sonstige Bemerkungen"
Im Herbst 1856 berichtete Rospatt 1856, dass in der Bauerschaft Tetekum Kirchspiel Seppenrade ... ein hohler Stein mit 27 alten Münzen auf einem Ackerkampe gefunden wurde. Der Fund sei dem Vereine für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens zu Münster eingesandt worden. Der Verein habe mit dem Besitzer wegen des Ankaufs unterhandelt. Das Landratsamt sei informiert worden, dass die Münzen nicht aus dem 14ten Jahrhundert herrühren, der Provenienz nach aber sich in münsterische, osnabrückische, lippische, märkische und lübeckische theilen.
Für Nachrichten rund um den Kreistag war in den Zeitungsberichten keine eigene Rubrik vorgesehen. So wurde unter „Sonstiges“ auch gemeldet, dass als neue Mitglieder aus dem Stande der Ritterschaft ... der Freiherr v. Nagel zu Itlingen als Besitzer des Rittergutes Itlingen und der Graf v. Droste Erbdroste als Besitzer der Rittergüter Vischering, Kakesbeck, Vehoff (?) eingeführt wurden. Ferner habe die Kreisvertretung abermals 100 Taler für die hülfsbedürftigen Veteranen ... aus dem Jagdscheingelder-Fonds bewilligt, welche zum Geburtstage Seiner Majestät. des Königs zur Vertheilung kommen werden. Eine definitive Beschlussfassung über die Einführung von Schiedsmännern habe sich der Kreistag so lange vorbehalten, bis jedem Mitglied die Gesetzesvorlage bekannt sei. Schließlich vertagte man sich auf einen Termin zu Ende dieses oder zu Anfang des künftigen Monats.
"Sonstige allgemein wichtige und merkwürdige Bemerkungen"
Zur goldenen Hochzeit erreichten im Mai 1857 königliche Geschenke ein Ehepaar im Kreisgebiet. Für das Landratsamt ein Anlass, die Rubrik „Sonstige allgemein wichtige und merkwürdige Bemerkungen“ mit einem etwas längeren Bericht zu füllen:
Am 2. Mai curr.[1857] feierten die Eheleute Tagelöhner Anton Piening in Holtrup Kirchspiel Senden ihre goldene Hochzeit. In Veranlassung dieser seltenen Jubelfeier hatten Seine Majestät der König den Jubilaren ein Gnadengeschenk von 10 Thalern bewilligt, und in gleicher Veranlassung Ihre Majestät die Königin denselben ein prachtvolles Exemplar des Buches Thomas von Kempis – Die Nachfolge Christi – mit Hoch-Ihrer eigenen Unterschrift versehen, zum Allergnädigsten Geschenk gegeben.
Diese Geschenke wurde Jubilaren nach Vollendung des zu dieser Feier besonders angeordneten Gottesdienstes vom dortigen Herrn Pfarrer in der Kirche übergeben, wobei er sich in seiner Ansprache über das seltene Ereigniß äußerte, und demnächst sich feierlich über das Glück einer friedlichen ehelichen Verbindung aussprach.
November 2020
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[1] Christel Gewitzsch, Ruthenhiebe und Lebenshülfe, Polizeiarbeit im Amt Bork 1815 – 1866, S. 117ff.
[2] Christel Gewitzsch, Ruthenhiebe und Lebenshülfe, Polizeiarbeit im Amt Bork 1815 – 1866, S. 119.
[3] Vgl. Dieter Gewitzsch, Plattes Land sucht Anschluss, Die Chaussee von Lüdinghausen über Selm und Bork nach Lünen, 1850-1870, Selm 2013.
[4] Das Versäumnis, die Mindermenge, das „Manko“, vgl. lat. mancus (verstümmelt, unvollständig).