Förderung des landwirtschaftlichen Gewerbes
Dieter Gewitzsch
Bericht des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig von Vincke (1836)
Oberpräsident Ludwig von Vincke wählte den direkten Weg zu den Betroffenen. Mitte Juni 1836 hatte er seinen Bericht[1] über den gefährdeten Stand des landwirtschaftlichen Gewerbes und ... dessen Sicherung und Förderung dem Minister[2] in Berlin vorgelegt; zwei Monate später verteilte er bereits drucktechnisch vervielfältigte[3] Abschriften an die Landräte. Vincke wünschte, dass seine Ansichten und Vorschläge über einen wichtigen Gegenstand des öffentlichen Interesses mit Blick auf die Verhältnisse in den Kreisen ernsthaft erwogen werden. In Lüdinghausen sollte sich Landrat Schlebrügge die Förderung des Plans ... angelegen seyn lassen, abweichende Ansichten mitteilen und den Erfolg bis zum Jahresende anzeigen.[4] Bis ins neue Jahr (1837) hinein zirkulierte das Papier des Oberpräsidenten im Kreisgebiet.
Verfall der Getreidepreise
In den letzten zwanzig Jahren – damit beginnen Vinckes Betrachtungen[5] – waren in Westfalen die Getreidepreise mit erschreckender Stetigkeit gefallen und das sogar weitgehend unabhängig vom Ausfall der Ernten. Einst konnten drei Taler pro Scheffel Roggen erzielt werden, ein Preis der schon als drückend empfunden wurde, dann wurden zwei Taler bezahlt, die für das bloße Bestehen der Produzenten notwendig waren. Jetzt hatte sich der Preis abermals fast halbiert und es reichte nicht mehr. Vincke sah den früheren Wohlstand schwinden, besonders dort, wo Ackerbau die einzige Erwerbsquelle ist. Die alten Eichenbestände, deren Holz aus mancher Verlegenheit geholfen hätte, seien meist ausgeräumt. Nun wachse die Verschuldung der Bauerngüter und die Zeitungen der Provinz seien voll mit Ankündigungen von Versteigerungen. Waren früher Rückstände bei den gutsherrlichen Gefällen eher unbekannt, so zählen sie 1836 zu den Merkzeichen des Niedergangs.
Geringere Nachfrage
Der klassischen Marktlehre folgend, führte der Oberpräsident den Preisverfall beim Getreide auf ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage zurück. Nicht, dass mehr produziert wurde, der Bedarf an Getreide [hatte] sich vermindert. Weder die wachsende Bevölkerung noch der Export in Richtung Großbritannien und nach den Niederlanden konnten die fehlende Nachfrage aus der Provinz ausgleichen. Englische und holländische Prohibitiv-Systeme schützten u.a. die eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse vor Importen. Den größten Einfluss auf die Nachfrage schrieb Vincke jedoch der außerordentlichen Ausdehnung des Verbrauches der Kartoffeln zu, die das Getreide in der Brandweinbrennerei, in der Nahrung von Mensch und Vieh, besonders der Pferdefütterung und Viehmästung ersetzt hatten. Nichts wird hindern können, prophezeite er, daß sie zu einem Hauptgegenstande unseres Ackerbaues ... sich erheben werde. Es dürfe aber nicht verkannt werden, dass die Versetzung der Kartoffel aus dem Garten auf den Acker ein Gewinn für die Landeskultur sei und der Landwirt damit einen drei- bis vierfachen Wert auf derselben Fläche erzielen könne. Kartoffeln fordern raschen und nahen Verbrauch, schrieb Vincke, ihre Kultur wird daher immer eine natürliche Begrenzung im eigenen Landesverbrauche finden. Zum Weltprodukte werde sich die Kartoffel nicht erheben, aber sie könne dennoch den Körnerpreis vorzugsweise drücken.
Korrektur der Angebotsmenge
Um ein gerechtes Verhältniß der Kornpreise zu den Kulturkosten wieder herbeizuführen, müsse man die Angebotsmenge verringern, folgerte der Oberpräsident und sah dabei nicht nur auf Quantitäten, sondern forderte die Kultur anderer Erzeugnisse, welche bei ausgedehntem Absatz einen lohnenden Ertrag versichern. Vincke dachte an eine breite Produktpalette mit Oelsaamen, Flachs, Hanf, Runkelrüben, Tabak, Hopfen, Krapp etc. und wusste auch, dass die Voraussetzungen für eine neue Art Landwirtschaft in Westfalen noch nicht gegeben waren. Weder die Methoden noch die Werkzeuge befänden sich auf einem entsprechenden Stand; vor allem aber [müsse] die landwirthschaftliche Intelligenz und Betriebsamkeit der Ackerbauer vermehrt werden. Theorie und Praxis seien nicht gleichmäßig fortgeschritten. Gerade in Westfalen, wo große Güter nur als seltene Ausnahmen vorkommen, habe die große Masse der kleinen Wirthschaften am wenigsten am Fortschritt teilgenommen. Man beharre auf den alten Standpunkten, schleppe sich in alten Geleisen fort und das besonders dort, wo die sporadische Zerstreuung der Bauernhöfe ... deren Bewohner isolirt [und] und ihre geistige Kultur beschränkt. Es werde schwer sein, den Sinn für Verbesserungen zu wecken und einer Veränderung Eingang zu verschaffen. Indessen sei der Zeitpunkt des überall drückenden Nothstandes günstig, weil jeder fühlt, daß er mehr gewinnen muß. Bei allem Beharrungsvermögen der landwirthschaftlichen Kultur sei der Bauer für die notwendige Umwandlung zu gewinnen, wenn der Erfolg ihm in einzelnen Beispielen gleichartiger Wirthschaften seiner Standesgenossen als möglich und einträglich dargestellt wird.
Landwirtschaft, das Stamm- und Haupt-Gewerbe im preußischen Staat
Vincke zeigte sich überzeugt, dass der Staat sich nicht darauf beschränken könne, der gewünschten Entwicklung einen Rahmen zu garantieren und Hindernisse zu beseitigen und im Übrigen darauf vertrauen dürfe, dass die landwirtschaftlichen Betriebe alles von selbst machen werden, wenn man sie nur ließe. Eine solche Zurücksetzung und Vernachlässigung verdiene der Landbau nicht. Dieses Gewerbe sei das ausgedehnteste und wichtigste von allen, das eigentliche Stamm- und Haupt-Gewerbe im preußischen Staat ... die Fabrik ... worauf die physische nicht minder wie die finanzielle Kraft und der Bestand der Monarchie beruhet. Der einen Agrarstaat bestimmende Sektor bedürfe der Aufhülfe und eingreifenden Förderung nicht minder als andere Gewerbszweige.
Für staatliche Eingriffe
Ein verstärktes staatliches Engagement rechtfertige Vincke nicht nur über die Bedeutung der Landwirtschaft für das große Ganze, sondern auch mit den Besonderheiten der Aufgabe. Man habe es eben nicht mit wenigen gebildeten, vermögenden Fabrikanten zu thun, sondern mit einer großen Masse. Den misstrauischen, oft vermögenslosen Menschen müsse die bessere Überzeugung eher aufgedrungen werden. Durch Beispiel, Unterstützung, Belohnung und Auszeichnung könne Verbesserungen der Eingang bereitet werden. Kein Vergleich zu fabrizierenden Unternehmern, die einzeln miteinander im Wettbewerb stehen und unter dem Druck der Konkurrenz leichter Fortschritte durch Aneignung neuer Erfindungen und verbesserter Maschinen realisierten, während in [der Landwirtschaft] oft der ganze Betrieb umgestellt werden müsse. – Rasche Erfolge könne man daher nicht erwarten. Es sei aber an der Zeit zu handeln, wolle man nicht hinter anderen deutschen Ländern zurückbleiben, die recht bedeutende Summen auf ihren Etat gebracht haben.[6]
Weil nur allein die zweckmäßigste Weise für die landwirthschaftliche Industrie zur wirken, in Frage kommen kann, schlug Vincke dem Ministerium vor, einige Maßregeln zur Erhaltung und Aufhülfe des landwirthschaftlichen Gewerbes einer ernsten Erwägung zu unterziehen:
Ackerbauschulen
Im Bereich der höheren Lehranstalten sah der Oberpräsident keine Notwendigkeit für verstärkte Anstrengungen, fand aber, dass die fortschreitende Verbesserung der Elementarschulen ... auch dem Landbau zugute kommt. Dort einen landwirtschaftlichen Unterricht einzuführen, hielt er indes für schwierig und wenig versprechend. Vincke setzte auf Ackerbauschulen für Bauernsöhne, die von den größeren Wirtschaften betrieben werden sollten und schlug vor, wo solche fehlen, ... die Leistungen einzelner Landwirte dafür zu unterstützen und zu belohnen.
Musterwirtschaften
bewertete er dagegen zurückhaltender und zog vor, ausgezeichnete Wirthe mit Prämien oder zinslosen Vorschüssen zu ermuntern, wenn sie Verbesserungen nachweisen könnten oder von der Regierung gewünschte Versuche unternähmen.
Landwirtschaftliche Vereine
Das meiste erwartete Vincke von den landwirtschaftlichen Vereinen und er meinte damit nicht die unscharf abgegrenzten Gesellschaften von theoretischen und schreibenden Mitgliedern oder Dilletanten, sondern den Zusammenschluss der Männer vom Fache, der verständigen bäuerlichen Wirthe, aller Einsichtsvollen und Gemeinsinnigen in einem jeden landräthlichen Kreise.
Solche Kreisvereine – schrieb Vincke – in jedem Regierungsbezirke gebildet, von der Regierung kräftig unterstützt, von dem ernsten Willen belebt, mit That und Rath für landwirtschaftliche Zwecke zu wirken, nicht Ideen, sondern ihre Erfahrungen und Versuche auszutauschen und das bewährte Gute und Nützliche nicht durch Schrift, sondern durch Beispiel und Anregung in der nächsten Umgebung zu verbreiten und fruchtbringend zu machen, würden gewiß überaus nützlich wirken.
Von den kleineren Ortsvereinen erwartete der Oberpräsident, dass sie die Wirksamkeit der kreisweiten Organisation wesentlich fördern werden. Deren Tätigkeit konnte er sich sehr konkret vorstellen:
In einzelnen oder mehren nahen Kirchspielen des Kreises – bilden sich Ortsvereine – überall, wo sich dazu einige taugliche Individuen, ein die Leitung übernehmender Pfarrer oder das Kreisvereins-Mitglied finden, welche sich den Sonntag Nachmittag zusammen thun, zunächst die jedem wichtigsten Gegenstände und eigenen Erfahrungen besprechen und die landwirthschaftliche Zeitung miteinander lesen. Die örtliche Gliederung würde in den Kreisvereins-Versammlungen durch ein ihre Wünsche und Anträge vortragendes Mitglied vertreten werden.
Vincke wollte die Struktur des landwirtschaftlichen Vereinswesens von unten nach oben aufbauen. Schon 1833 hatte er den Erfolg eines vom Provinziallandtag an den König gerichteten Antrags auf Einrichtung eines Zentralvereins für die Provinz verhindert, um erst die Vereinsbildung auf Kreisebene weiter vorantreiben zu können.[7] Auf höchster Ebene sollte eine Zentralbehörde ... unter Leitung des Ministers des Innern für Gewerbe-Angelegenheiten ... für den Schutz und die Beförderung des Landbaues sorgen und den Erfahrungsaustausch organisieren, Wissen verbreiten und zu Verbesserungen ermutigen. Einmal im Jahr würde man die Landbau-Kommissarien aus den Provinzen und ausgezeichnete Mitglieder der Kreisvereine zu Beratungen nach Berlin einladen.
Landwirtschaftliches Wochenblatt
Um die Öffentlichkeit planvoll in die Umsetzung seiner Vorhaben einzubeziehen, dachte Vincke bereits an ein praktisch ausgerichtetes Wochenblatt für die Provinz, mit dem das Interesse erhalten werden sollte, das Erfolge bekannt macht und Erfahrungen verbreitet. Die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen sollte nicht dem Zufall überlassen bleiben.
September 2015
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[1] Hans-Joachim Behr, Jürgen Kloosterhuis, Ludwig Freiherr Vincke, Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Q 31, Münster 1994, S. 698ff. – Wenn nicht anders zitiert, folgt der Text dieser Quelle. [2] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 30.
[3] Behr, Kloosterhuis, a.a.O., S. 698.
[4] LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 30.
[5] Behr, Kloosterhuis, a.a.O., Q 31, S. 698ff. – Wenn nicht anders zitiert folgt der Text dieser Quelle. Unterstreichungen werden übernommen. – Vgl. zur Denkschrift Vinckes auch: Hans-Joachim Behr, Das landwirtschaftliche Vereinswesen Westfalens im 19. Jahrhundert, Westfälische Forschungen, Münster 1989, S. 185ff.
[6] Vincke nennt Württemberg, Hannover, Baden, Kurhessen, Darmstadt und Nassau, Behr, Kloosterhuis, a.a.O., S. 702.
[7] Behr, Vereinswesen, S. 184.