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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Der richtige Leinsamen muss es sein (1817)

Christel Gewitzsch

Flachs

Neunmal, so sagt der Volksmund, muss der Flachs durch des Menschen Hand gehen, bis die Leinwand fertig gestellt ist. Und wenn man die Aussaat und die Ernte, die Behandlung der Samenkapseln und regional unterschiedliche Arbeitsgänge bei der Gewinnung der Faser mitzählt, kommen noch mehr Schritte zusammen, bis man die Fasern aus dem Flachsstängel herausgelöst und zum Weben des Leinenstoffes vorbereitet hat.

Die Flachsgewinnung war in manchen Regionen eine ausschließliche und energisch verteidigte Frauenarbeit[1]. Nach einem Bericht des Kolon Voltmann aus Gellershagen (heute Stadtteil von Bielefeld) vor dem landwirtschaftlichen Verein in Bielefeld am 22. Januar 1844 Ueber den Betrieb des Flachsbaues[2] wurden für die Arbeiten vom Jäten bis zum Brachen (dabei bricht man die Stängel, um die holzigen Bestandteile von der Faser lösen zu können) insgesamt 18 Männer und 61 Frauenspersonen eingesetzt. Aus dieser weiblichen Überzahl  leiteten sich häufig bestimmte Bräuche und Verhaltensmuster ab. So erwarteten zum Beispiel die Frauen bei der Ernte, von jedem Vorübergehenden gegrüßt zu werden; sie nahmen den Männern Hüte und Mützen ab, die durch einen Schoppen ausgelöst werden konnten, oder die Frauen riefen den Passanten Schimpfwörter nach, für die sie nicht geradestehen mussten. Viele Mägde erhielten als Bestandteil ihres Lohnes ein Stückchen Land, um Flachs auszusäen und sich mit der Ernte ihre Aussteuer anzufertigen. Die in einigen Dörfern eingerichteten Spinnstuben fungierten als eine Art Eheanbahnungsinstitut, was das Königliche Ministerium der Geistlichen Angelegenheiten 1839 dazu brachte, die Provinzialregierungen vor den schädlichen Einflüssen zu warnen. Das Ministerium schrieb, daß es nothwendig sei, dem durch die Zusammenkünfte beiderlei Geschlechts in den sogenannten Spinnstuben entstehenden sittenverderblichen Unfuge durch zweckmäßige Einwirkung auf die Schuljugend, auf die der Schule entwachsenen Jünglinge und Mädchen, und besonders auf Hausväter und Hausmütter nach Kräften zu steuern. Die Landräte sollten die Ortsvorstände zu einer unausgesetzten sorgfältigen polizeilichen Aufsicht in dieser Beziehung an...weisen, und da, wo sich Unsittlichkeiten bemerkbar machen, über spezielle Fälle an[3] das Ministerium berichten.

Über den Leinsamenhandel

Samenkapseln

Die Ortsbehörden und der Amtmann im Amt Bork beschäftigten sich aber hauptsächlich mit den Vorschriften des Leinsamen-Handels.[4] Der Fürstbischof von Münster hatte zu diesem Thema schon 1781 eine Verordnung erlassen, weil der Flachsanbau im Hochstift einer der vornehmsten Nahrungszweige[5] sei und er deshalb alle Vorsorge und alle Achtsamkeit verdiene. Neben der richtigen Auswahl und Bearbeitung der Böden spiele die Qualität des Leinsamens für einen erfolgreichen Anbau die größte Rolle und über die Güte des Samens seien viele Klagen geführt worden. Diese Verordnung brachte die Königliche Regierung in Münster 1817 durch die Veröffentlichung im Amtsblatt erneut in Erinnerung und setzte sie zugleich auch für die Regierungsbezirke in Kraft, die früher nicht dem Hochstift angehört hatten. Insbesondere ging es darum, keine unzulässigen Sorten und Mischungen in den Handel kommen zu lassen. Die Behörden hatten die Ankäufe und Bestände der örtlichen Händler zu prüfen und diesen im Fall, dass keine Mängel vorlagen, einen für ein Jahr gültigen Erlaubnisschein zum Handeln auszustellen. Als besonders guter Leinsamen wurde der aus Riga und Libau in Lettland angesehen. Im Hochstift war noch die Einfuhr von Samen aus Pernau (Lettland) und Sever (Slowakei) erlaubt gewesen. Alle anderen Importe und auch der Verkauf von überjährigem Samen der erlaubten Sorten waren verboten.

Nach der Erinnerung durch die Regierung verschickte Landrat Schlebrügge umgehend ein Schreiben an die ihm unterstellten Bürgermeister und forderte binnen acht Tagen  einen Bericht darüber:

1; Welche verschiedenen Arten von Leinsaamen Sie bey den Kaufleuten und Krämern, welche damit handeln, zufolge der Ihnen aufgetragenen Untersuchung vorgefunden.
2; Welchen Subjecten Sie die vorgeschriebene Erlaubnißscheine, mit Leinsaamen zu handeln, ertheilt haben, und

3, welche unzuläßigen Sorten und Mischungen von Leinsaamen Sie versiegelt haben.[6]

Bei Bürgermeister Fuisting liefen im Laufe der Monate April und Mai vier Anträge von je zwei Borker und Selmer Eingesessenen ein, die darum baten, den Erlaubnisschein für den Leinsamenhandel ausgestellt zu bekommen. Fuisting beauftragte die Gemeinderäte Anton Schumacher (Bork) und Melchers (Selm) mit der Überprüfung der Vorräte. Drei Antragsteller konnten überprüft und ihre Vorräte für gut befunden werden. Der vierte war nicht zu Hause.  Ihm wurde durch seine Haushälterin aufgetragen, eine eidesstattliche Erklärung beim Amt einzureichen. Dieser Aufforderung kam er nach und in seinem Schreiben versicherte er, keinen Samen aus dem vorigen Jahr zu besitzen und alle Vorschriften der Amtsblattverfügung genau zu erfüllen. Mitte Mai konnte Fuisting seine Erkenntnisse nach einer Ermahnung des Landrats endlich absenden. Im Juni erreichte ihn dann ein weiterer Antrag von Vincenz Cirkel, der in Holland Leinsamen gekauft hatte, an Eides statt erklärte, das derselbe Neu und echt sei und die erforderliche Bescheinigung erbat. Der Bürgermeister lehnte ab, weil die Anträge im April hätten gestellt werden müssen, doch Cirkel gab so schnell nicht auf. Er habe das Amtsblatt erst im Mai erhalten, auch wusste er von erteilten Bewilligungen, die nicht im April beantragt worden waren. Damit hatte er Recht, denn der Antrag des F. J. Wesener war erst im Mai eingegangen, weil er nach eigener Aussage vorher nicht zu Hause gewesen war. Cirkel verwies auf den Schaden, der auf ihn zukäme, wenn er nun den Spediteur an eine andere Lieferadresse verweisen müsse; außerdem, so wandte er ein, habe er einige Sendungen von einem überprüften Händler aus Dorsten erhalten; auch habe er schon bekannt gemacht,  dass er Samen erhalte, deshalb bat er noch einmal um die Verkaufserlaubnis. Eine Antwort des Bürgermeisters liegt nicht vor.

Dieses Prozedere wiederholte sich in den folgenden Jahren, bis die Regierung in Münster 1826 die Überprüfungs- und Meldepflicht aufhob. Beim Bürgermeister im Amt Bork hatten in der Regel fünf bis sechs Eingesessene die Erlaubnis für den Leinsamenhandel beantragt. Ob sie immer alle den Erlaubnisschein bekamen, wird nicht ganz klar. Vielfach lagen die Samenvorräte bei den Überprüfungen noch nicht vor, aber eidesstattliche Erklärungen der Händler genügten weiterhin.

Krämer Lenfert wird angezeigt

Engelbert Lenfert aus Bork ging 1821 einen ganz eigenen Weg, der ihm eine Anzeige des ebenfalls in Bork tätigen Krämers Henrich Wilhelm Artmann einbrachte. Artmann erschien auf dem Amtsbüro und gab zu Protokoll, daß der Krämer Engelbert Lenfert daselbst wohnhaft  mit Leinsaamen handele, ohne daß demselben dazu die Erlaubniß ertheilt sei, da derselbe hierdurch nicht nun den gesetzlichen Vorschriften zuwider gehandelt habe, sondern ihm zugleich auch ein großer Schaden dadurch verursacht sei, so müsse er darauf antragen, daß der p Lenfert den Gesetzen nach bestraft würde.

In seiner Vernehmung durch Bürgermeister Köhler stellte Lenfert sein Verhalten folgendermaßen dar: Er habe an den Kaufmann Schölling in Münster geschrieben  er möge ihm Comparent eine Tonne  Rigaer leinsaamen, zu seinem eigenen Bedarf zusenden; derselbe aber habe ihm statt einer 6 tonnen zugeschickt; hierauf habe er denselben erwiedert, daß er nicht mit Leinsaamen handele und über die 5 tonnen ferner disponiren möge, worauf ihm derselbe erwiedert habe, er möge solche nur für seine Rechnung, da er zu Handel mit Leinsaamen concessionirt sei, verkaufen, welches er auch ohne Bedenken gethan habe. Ferner erklärte Comparent daß er jetz keinen Saamen mehr habe und für die Güte des Verkauften sich verbürgen wolle; wenn er übrigens gegen den Gesetzen gehandelt, so sei dieses aus Unwissenheit geschehen und müße er deshalb für diesmal um Befreiung der Strafe bitten.

Der Landrat, der die Sache zu entscheiden hatte, war nicht geneigt, dieser Bitte nachzukommen und verhängte eine Geldstrafe über fünf Taler, gegen die Lenfert innerhalb der nächsten zehn Tage Widerspruch einlegen konnte. Als die Frist verstrichen war, erhielt der Gemeinde-Empfänger Luzzano in Werne vom Bürgermeister den Auftrag, den Betrag von Lenfert einzuziehen.

Wie steht’s mit dem eigenen Saatgut?  

Fasern

Leinen hatte im 19. Jahrhundert in Westfalen als Wirtschaftsgut an Bedeutung verloren. England lieferte wegen des Einsatzes von Spinnmaschinen bessere und billigere Garne zum Weben, aus Nordamerika kamen in zunehmendem Maße  preiswerte Baumwollstoffe, die den Leinenstoff verdrängten und eine fortschreitende Industrialisierung der Stoffproduktion drängte das Handwerk an den Rand. Auf dem Land wurde zwar weiterhin Flachs angebaut und Leinen hergestellt, aber immer weniger als Haupterwerbszweig, sondern für den Eigenbedarf. Der Münsterländer spann und webte nur in seinen Mußestunden und schließlich nahm ihn die Landwirtschaft ganz in Anspruch, hatte er keine freie Zeit, so spann und webte er eben nicht.[7]

Unter diesen Umständen stellte sich die Regierung 1824 die Frage, ob es wirklich nötig sei, immer auf die teuren Saatgutimporte zurückgreifen zu müssen. Sie forderte deshalb Berichte über eigene Saatgutgewinnung in den Bezirken an. Die Bürgermeister sollten sich bei den zuverläßigsten Landwirthen[8] erkundigen, wer welche Versuche unternommen habe, Leinsamen heranzuziehen, wo das stattgefunden habe, welche Mengen gewonnen wurden, zu welchem Preis der Samen verkauft werden konnte und wie lange er bis zur Aussaat gelagert werden sollte. Ein Problem bei der Samengewinnung ist, dass Fasern und Samen nicht zur selben Zeit ihren optimalen Reifepunkt erreichen. Möchte man eine gute Faserqualität, sind noch nicht alle Samen ausgereift; legt man Wert auf gutes Samenmaterial, verschlechtern sich die Fasern.

Bürgermeister Köhler schrieb  nach Anweisung des Landrats die Herren Haverkamp, Zur Mühlen, Steinmann, Hördemann, Heumann, Dörlemann, Richter, Schulze Alstedde, Schulze Pelleringhoff, Schulze Wethmar und Evert an und forderte sie zur Berichterstattung auf, falls sie eigene Versuche unternommen hatten. Sechs von ihnen antworteten.

Haverkamp vom Hof Althoff gab an, schon seit mehreren Jahren den Samen selber heranzuziehen, ihn drei bis vier Jahre zu lagern, ausreichende Mengen und mit dem ausländischen Samen vergleichbare Qualitäten zu erhalten. Über mögliche Preise konnte er nichts sagen, da er aus den Überschüssen Öl gewann. Wenn nun die Regierung plane, verstärkt eigene Samenproduktion zu propagieren, solle sie gleichzeitig das Teichen des Flaches, welches ohnedem die Luft so sehr verpestet, und dadurch so viele Fische Ihr Leben verlieren ganz verbieten. Mit dem Teichen ist das Einlegen der Pflanzen in Wasser gemeint, durch das sich die Fasern leichter vom Stängelkörper lösen lassen.

Der Selmer Gemeindevorsteher Evert erkundigte sich bei anderen Gemeindemitgliedern und schrieb, von einer Aufbewahrung des Samens von zwei bis drei Jahren nichts gehört zu haben. Er selber aber ließ den Samen zwei bis drei Jahre liegen, verwendete ihn dann in seinem Garten und erzielte guten Flachs. Ob dieses nur wegen des Alter des Leinsaamens, oder die Güte des Bodens, die man im Garten wohl Pflegt zu haben, beyzulegen ist, konnte er nicht sagen. Der für vier Taler zu kaufende Berliner Scheffel Samen, so Evert, sei kein überlegenes Saat und ... nach [s]einer meinung nicht alt genug, wird von Leuten gekauft die kein Frömdes saat lein bezahlen können, wird auch gemeinlich nicht Lanng.

Zur Mühlen meldete, nur unbedeutende Versuche zur Gewinnung der Saat gemacht zu haben, weil er mehr Wert auf eine gute Flachsfaser lege und dieses nicht gelingen könne, wenn man den Samen ausreifen ließ. Dass der Flachs nur alle drei bis vier Jahre gut geriet, schrieb er dem hiesigen, zum Flachsanbau nicht sehr geeigneten Boden zu. Aber auch in guten Jahren konnte er von einem Scheffel Einsaat im Durchschnitt kaum 1 ½ Scheffel ernten. Trotzdem war er bey den Geldlosen Zeiten wohl der Meinung, daß es nützlich seyn mögte, wenn wir selbst zu unserm eigene Gebrauch mit vielem Fleiße unser Leinsaamen zögen. Zu diesem Zwecke gab er noch folgende Anregung: Vielleicht wäre die Hochlöbliche Regierung wohl so gütig, und ließe uns in einem ordentlichen Blatte die zweckmäßigsten Mittel beydes vereiniget gut zu ziehen wissen.

Von Hördemann kam nur ein kurzer Bericht. Den Rigaer Samen verwandte er bis zur vierten, fünften, höchsten sechsten Aussaat. Selbst gezogenen Samen von der zweiten und dritten Aussaat konnte er pro Berliner Scheffel für zwei, höchsten zweieinhalb Taler verkaufen.

Schulze Wethmar und Schulze Pelleringhoff hatten keine Erfahrungen mit selbstgewonnenem Samen. Ihre Böden seien zum Flachsanbau weitgehend ungeeignet, deshalb kauften sie den Samen ein, ließen ihn ein bis zwei Jahre liegen und säten ihn bis zu sechs Jahre lang aus. Damit erzielten sie gerade so viel Flachs, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Vielleicht war es ein Ergebnis dieser Berichte, dass die Regierung am 2. März 1826 die Übernahme der fürstbischöflichen Verordnung von 1781 aufhob.

Sammelbestellung

Danach findet nur noch ein Vorgang von 1844 den Weg in die Akte. Die Direktoren der landwirtschaftlichen Vereine organisierten, wohl zum wiederholten Male, eine Sammelbestellung von Leinsamen aus Riga. Sie konnten ihn so billiger beziehen und sich der Reinheit sicher sein. Ein Nachteil war, dass er nur tonnenweise bestellt werden konnte, so dass sich kleinere Landwirte zusammenschließen mussten.

Beim Amtmann Stojentin in Bork meldeten sich die Landwirte Schulze Osthaus, Schulze Weischer und der Holzhändler Schlierkamp. Alle drei bestellten je eine Tonne. Andere Bauern, so Stojentin, konnten kleinste Mengen beim Kaufmann Lenfert beziehen und damit ihren Bedarf decken.

Mai 2017
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[1] Ingeborg Weber-Kellermann, Saure Wochen – frohe Feste, Volksbräuche im Wandel, München und Luzern 1985, S. 54.
[2] Landwirthschaftliche Zeitung. Nr. 10, Münster 1844, S. 77ff.
[3] StA Selm, AB-1 – 521.
[4] StA Selm, AB-1 – 173.
[5] Amtsblatt der Königl. Regierung zu Münster, Nr. 16, Münster 1817, S. 141ff.
[6] und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 173.
[7] Carl Biller, Der Rückgang der Hand-Leinwandindustrie des Münsterlandes, Leipzig 1906, S. 53f.
[8] und folgende: StA Selm, AB-1 – 173.

 
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