aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Die Regierung nimmt die Lippe unter Kontrolle

Christel Gewitzsch

Die Lippestrombefahrung

Ludwig Vincke

Ludwig Vincke, Oberpräsident der Provinz Westfalen, schrieb am 25. September 1823 in sein Tagebuch: Abschied von der Lippe, die ich diesmal mit rechtem Vergnügen befahren, meine Anstrengungen schon jetzt so schön lohnend, wie hat es sich da seit 1816, wo sie aus dem Nichts gerufen, verändert – welches Leben jetzt und schon herauf dringender UferbauEifer[1]. Der Oberpräsident war gerade von seiner alljährlichen Befahrung der Lippe zurückgekommen. Höchstpersönlich nahm Vincke, zuständig für den Ausbau der Wasserstraßen, an diesen Fahrten teil, um sich vom Zustand des Flusses und Fortschreiten des Ausbaus ein Bild zu machen.

Den Fahrten mit dem Oberpräsidenten im Herbst gingen im Frühjahr Vorbesichtigungen durch Strombaubeamte voraus. Daraufhin bekamen die Uferbesitzer Anweisungen, welche Arbeiten sie zu erledigen hatten. In der Strom- und Ufer-Ordnung für den Lippe-Fluß [2] vom 2. Mai 1817 hatte das Finanz- und Handelsministerium in zweiundzwanzig Kapiteln festgelegt, worauf bei diesen Fahrten zu achten sei.

Im Kapitel 17 der Ordnung heißt es: Die Strombefahrung hat den Zweck, die genaue Befolgung dieser Vorschrift zu beobachten, die Rügen für vorgenommene Verletzungen derselben zu veranlassen, die Tüchtigkeit ausgeführter Arbeiten, die Nothwendigkeit neuer Anlagen, alles, was die Verbesserung der Schiffahrt erfordert, und wünschen läßt, zu erörtern und zu veranstalten, den Widerstreit der Schiffahrt und der Grundeigenthümer auszugleichen, und nach Anhörung der Partheien zur Stelle die Entscheidung polizeilich zu geben; es wird des Endes solche acht Tage zuvor zur öffentlichen Kenntniß gebracht, damit, wer etwas anzubringen hat, solches zur Stelle thun könne.

Ueber alles, was sich dabei zu bemerken gefunden, wird eine ausführliche Verhandlung aufgenommen, und den betreffenden Regierungen, und von diesen den Unterbehörden, so weit es jede angeht, mitgetheilt.

Gleich nach der Veröffentlichung der Strom- und Uferordnung sollten die Frühjahrs-Kontrollfahrten beginnen. Auf den Herbstfahrten begleiteten den Oberpräsidenten ein Abgesandter des Weseler Handelsstandes, die zuständigen Baubeamten, Bürgermeister und Amtmänner, Landräte und Regierungspräsidenten. Später kamen ein Deputierter des Provinziallandtages  und die Lippe-Schifffahrtskommission hinzu.[3]

Erste Auswirkungen

Die Selmer Akte über die Lippe-Strombefahrung[4] beginnt mit einem Brief des Bürgermeisters von Datteln an den Borker Bürgermeister Köhler vom 31. Dezember 1822. Der Wasserbaumeister Wesener monierte zwei in der Lippe liegende, dem Borker Holzhändler Vincenz Cirkel gehörende Hölzer. Köhler sollte Cirkel veranlassen, diese sofort zu entfernen.

Von einer Strombefahrung ist in der Akte zum ersten Mal im September 1823 die Rede, das ist die Befahrung, auf die sich auch Vinckes Tagebucheintragung bezieht. Der Lippe-Schifffahrts-Inspektor Seib aus Wesel kündigte die Fahrt noch für denselben Monat an und wies den Bürgermeister darauf hin, doch vorher für eine vorschriftsmäßige Reinigung des Flusses und des Ufers zu sorgen. Köhler gab im Wege einer Bekanntmachung diese Information und Aufforderung an die Uferbesitzer weiter. Die offizielle Anweisung vom Landrat Schlebrügge erreichte ihn erst am 21. September, zwei Tage vor dem Fahrtermin. Darin wird ihm bedeutet, dass er persönlich an der Strombefahrung teilnehmen muss und er in aller Schnelle die Uferbesitzer – Ufer-Interessenten genannt –, welche dabei Reclamationen vorzutragen haben, davon zu unterrichten habe.

Uferbesitzer

Zu dieser und weiteren Kontrollfahrten – nicht zu allen – finden sich in der Akte die in der Ordnung angekündigten Auszüge aus den Befahrungsprotokollen. Der Landrat schrieb am 17. März 1824: Anliegend empfangen Sie einen Auszug aus dem Lippestrombefahrungs-Protokolle vom 22. Septembr.[5] v.J. mit der Aufgabe: sich der Verbesserung der darin enthaltenen Mängel thätigst angelegen seyn zu lassen, damit bey künftigen Strohmbefahrungen wiederholte Rüge und unangenehme Verfügung vermieden werden.

In der Regel schrieb der Bürgermeister nach Erhalt dieser Auszüge die darin genannten Uferbesitzer an, benannte die Mängel und forderte deren Beseitigung. Dass er sich selber davon überzeugte, ob die Arbeiten auch erledigt wurden, passierte eher selten.

Schiff verpasst

Unangenehm fiel Köhler 1824 auf. Landrat Schlebrügge hatte ihm den Termin, den 18. Oktober, mitgeteilt und ihn aufgefordert, der Fahrt in [seinem] Bereiche beizuwohnen, um [seine] Leistungen zu rechtfertigen. Schlebrügge fuhr fort, und darf ich erwarten, daß die Ihnen, mittelst Verfügung vom 17. Merz c. bemerklich gemachten Mängel, gehörig werden verbessert, und den Vorschriften, der Strom und Ufer Ordnung überall nachgekommen sein.

Am 19. Oktober musste Köhler dem Landrat beichten: Nach der [...] verehrlichen Verfügung begab ich mich am 18. d. auf die Grenze meines Bezirks zunächst der Lippe um der Strombefahrung beizuwohnen. Hier erfuhr ich, wie auch zu Lünen, daß die Commission schon am 17 passirt und am 18. bei Tagesanbruch vom Lünerbrunnen aus wieder abgefahren sei. Da ich dieselbe sonach in meinem Bezirk nicht wieder einholen konnte begab ich mich wieder zu Hause welches ich hierdurch gehorsamst anzuzeigen mich beehre.

Mit der Randbemerkung hätte sich zur rechten Zeit einstellen sollen, sandte der Landrat das Entschuldigungsschreiben zurück. Nachdem Köhler im März 1825 den Protokollauszug über die von ihm versäumte Strombefahrung erhalten hatte und im Juli noch einmal vom Landrat zur Berichterstattung aufgefordert wurde, fuhr er selber die Lippe entlang, schickte einen Zwischenbericht nach Lüdinghausen und kündigte an, eine weiterer Revision vorzunehmen. Seinen Fauxpas vom vorigen Herbst wollte er offensichtlich ein wenig überspielen.

Einen erneuten Rüffel für sein Nichterscheinen bekam Köhler 1835. Die hochlöbliche Regierung, so teilte Schlebrügge Köhler mit, hat übrigens ihr Mißfallen zu erkennen gegeben, daß Sie der vorjährigen Fahrt nicht beigewohnt haben.

Im Laufe der folgenden Jahre schien sich ein gewisser Schlendrian bei manchen Ortsbehörden eingestellt zu haben. Der Oberpräsident sah sich 1854 veranlasst, durch seinen Abteilungsleiter des Innern Mauderode den Landräten und Bürgermeistern noch einmal ganz grundsätzlich die Bestimmungen zur Strombefahrung ins Gedächtnis zu rufen. Einige Herren hatten bei der Kontrollfahrt von 1854 teilweise unentschuldigt gefehlt. Die hin und wieder vorgebrachte Entschuldigung, zu spät von dem Termin erfahren zu haben, wollte man nicht gelten lassen. Landräte, Bürgermeister und Amtmänner hätten sich in den Amtsblättern über die Daten zu informieren und nicht darauf zu warten, eine spezielle Aufforderung zugeschickt zu bekommen. Für den Fall, dass zwischen dem Erscheinen des Amtsblattes und dem Befahrungstermin nicht volle vierzehn Tage lägen, wollte man in Zukunft eine Abschrift der Bekanntmachung unmittelbar mit der Post an die Landräte schicken. Falls diese weitere Abschriften für ihre Amtmänner wünschten, sollten sie sich innerhalb der nächsten vierzehn Tage in Münster melden. Landrat Graf von Schmising schickte diese Rüge der Königlichen Regierung per Zirkular an vier seiner Amtmänner, beziehungsweise Bürgermeister. Amtmann Stojentin in Bork stand mit auf der Zirkularliste.

In den nächsten Jahrzehnten wurde die alljährliche Ankündigung zur gemeinsamen Befahrung der Lippe zur Routine. Neben der Bekanntgabe des Datums wiederholten die Landräte Mantra ähnlich immer wieder ihre Erwartung, daß die bei der vorigjährigen Strombefahrung gerügten Mängel völlig abgeholfen sind, und überhaupt die Lippe-Ufer sich nach Vorschrift der Strom- und Ufer-Ordnung in polizeylichen Zustande befinden. Falls dieses wider Erwarten noch nicht der Fall sein sollte, forderten sie noch einmal zur sofortigen Abstellung der Mängel auf, damit die Bürgermeister sich keine Rügen und Ordnungsstrafen einhandelten und – ohne dass es jemals ausgesprochen wurde –  die Landräte nicht in den Verdacht gerieten, ihre Bezirke nicht unter Kontrolle zu haben.

Mängel

Der Protokollauszug von der 1823er Fahrt legte dem Bürgermeister nur zwei Punkte vor. Das Ufergrundstück des Kolon Küter in Nordlünen musste gedeckt (gegen Abbruch gesichert) werden und auf einem Grundstück unterhalb Buddenburg, das dem Pastorat Altlünen gehörte, war das rechte, stark abgebrochene Ufer zu reparieren. Während Küter mitgeteilt wurde, es ist deshalb die Deckung desselben höhern Amts verfügt, und werden Sie deshalb hierdurch aufgefordert das Nöthige sofort zu veranlassen, erhielt im Falle des Pastorat-Grundstücks Wasserbaumeister Wesener den Auftrag, einen Kostenvoranschlag zu erstellen. Teils wegen schlechten Wetters, teils wegen Arbeitsüberlastung und aus anderen, unbekannten Gründen mehr legte Wesener diesen Kostenanschlag erst 1828 vor. Der Abbruch war jetzt knapp 200 Meter lang, betraf mehrere Uferbesitzer und die Reparatur sollte zusammen an die 466 Taler kosten. Dalmöller, Pfarrer in Altlünen, hatte in der Zwischenzeit schon einen Vorschuss aus dem Hilfsfond der Regierung beantragt, da er aus eigenen Mitteln das Geld nicht aufbringen konnte.

In den folgenden Protokollen kam die Kommission nicht mehr mit zwei Punkten aus. Im Durchschnitt erreichten den Bürgermeister zehn Hinweise, wobei aber nicht nur Mängel benannt wurden. Auch positive Entwicklungen fanden Erwähnung.

Am häufigsten bemerkten die Teilnehmer der Strombefahrungen Abbrüche des Lippeufers,  die, damit sie sich nicht vergrößerten, schleunigst gedeckt werden mussten. In jedem Protokoll nahm man dazu Stellung, entdeckte neue, lobte oder bemängelte erfolgte Reparaturen und beklagte die oft geringen Fortschritte bei der Deckung.

Zu hohe Weiden und störendes Gebüsch standen an zweiter Stelle der Übelstände. Nach der Strombefahrung 1836 war man es leid, sich immer wiederholen zu müssen. Die Verwaltungsbeamten erhielten eine allgemeine Anweisung mit festgesetzten Fristen für die immer wiederkehrenden Arbeiten. Bürgermeister Köhler ließ diese zur Nachricht und Nachachtung der betroffenen Eingesessenen im Juli 1837 zweimal durch die Polizeidiener veröffentlichen. In den folgenden Protokollauszügen beschränkte man sich danach in Bezug auf diese Arbeiten aufs Erinnern.

Im Laufe der Jahre äußerten sich die für den Zustand des Flusses Verantwortlichen über störende Hölzer, Baumstümpfe im Flussbett, beschädigte oder zu niedrige Kribben, fehlende Brücken für den Leinpfad, Probleme bei Durchbrüchen oder Durchstichen und mangelhafte Zäune.

All diese Mängel kamen nicht nur nach den Strombefahrungen zur Sprache. Den Schifffahrts-Inspektor, den Wasserbaumeister oder den Kribbmeister erreichten hin und wieder Beschwerden aus der Bevölkerung. Besonders die Flussschiffer, Schleusenwärter oder Leinpfadreiter bemerkten frühzeitig, wenn etwas nicht in Ordnung war und meldeten die Schäden, um deren Beseitigung sich dann die Bürgermeistern und Amtmännern zu kümmern hatten.

Der Oberpräsident ist zufrieden

Auch wenn in den Protokollen häufig auf ausstehende Arbeiten verwiesen werden musste, äußerte sich Vincke in seinen Tagebüchern in den zwanziger Jahren meistens positiv über das Erreichte. Mal schrieb er: erfreulich die guten Fortschritte in Horst; oder dann noch Horst und Dahl mich der schönen Vollendung gefreuet; oder wieder zurück nach Beckinghausen, um den schönen Wehrbau zu sehen; oder Horst und Dahl vortrefflich; oder die Fahrt doch belohnend in den herrlichen Fortschritten des schönen Werks; oder fast enthusiastisch meine liebe Lippe wiedergesehen.

Unbehagen bereitete ihm in erster Linie das Wetter: [Montag] 22. [September] Früh im Regen nach Untrup, wo die ganze Lippegesellschaft schon versammelt und ½ durchnäßt in’s ofne Schiff – doch klärte es sich und ich ward wieder trocken bis Heesen. Über den Ausklang des langen, ungemütlichen Tages konnte er aber notieren: erst ½ 9 am Lüner Brunnen, wo indessen trefliche Erquikung uns wurde –. [6]

März 2017
______________________________
[1] Hans-Joachim Behr (Bearb.), Die Tagebücher des Ludwig Freiherrn Vincke, Band 8, 1819-1824, Münster 2015, S. 451f.
[2] Amtsblatt der Königl. Regierung zu Münster, Nr. 24, 1817, S. 217ff.
[3] G. Strotkötter, Die Lippeschiffahrt im neunzehnten Jahrhundert, Münster 1896, S. 17, urn:nbn:de:hbz:6:1-101357.                                          
[4]
Stadtarchiv Selm, AB-1 – 480 und folgende Zitate, falls nicht anders angegeben
[5] Die Daten variieren, weil die Strombefahrungen nicht erst in Lünen begannen.
[6] H.-J. Behr, Tagebücher, S. 277 – 451.

 
Email