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Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

"Zusprache" zur Abwendung eines Nothstandes 1847

Dieter Gewitzsch

Oberpräsident von Flottwell

Eduard Heinrich von Flottwell - Foto: Wikimedia Commons

Zur Jahreswende 1846/47 wandte sich der im Juli 1846 zum Oberpräsidenten der Provinz Westfalen ernannte Geheime Staatsminister Eduard von Flottwell[1] mit vollem Vertrauen an die Herren Landräthe, die Herren Vorsteher der größeren und kleineren Gemeinden und Amtsbezirke ... mit der dringenden ... Aufforderung, in ihren verschiedenen Berufskreisen mit aller ihnen zu Gebot stehenden Kraft, für die Abwendung eines wirklichen Nothstandes zu wirken.[2]

Auf acht Seiten trug der preußische Spitzenbeamte nicht nur ernste Besorgnisse um die Ernährung der ärmeren Volksklassen angesichts anhaltend steigender Roggenpreise vor. Flottwell vermittelte auch seine grundsätzlichen Vorstellungen von einer Krisenbewältigung in der Provinz und positionierte den Staat und seine Institutionen gegenüber der Gesellschaft.

Hungersnot? Nein, aber eine Teuerung mit betrübendsten Folgen für die ärmeren Volksklassen

Wahrscheinlich sei – so der Oberpräsident – noch nicht einmal aus dem Lande selbst alles Getreide auf den Markt gebracht worden und noch größere Mengen könnten aus den nordamerikanischen und russischen Häfen erwartet werden, wenn erst die Stromschifffahrt ins Innere des Landes wieder eröffnet sei. Der klassischen Preistheorie folgend, würden die Mengen dem Bedarf einigermaßen abhelfen und auf den Stand der Getreide-Preise einen erwünschten Einfluß ausüben. Flottwell warnte aber vor der Annahme, die Einfuhren könnten die Lücke schließen, er hielt aber auch die nur auf Vermutungen beruhenden Meinungen und Angaben über einen vorhandenen oder bevorstehenden Korn-Mangel für überzogen. Nach der Erfahrung überträfen diese Schätzungen die Wirklichkeit um ein Großes. Hätte es beim Getreide und den Kartoffeln einen Ausfall in dem kolportierten Umfang gegeben, dann wäre schon jetzt – Ende Dezember 1846 – eine Hungersnot eingetreten, wie wir sie selbst in den unglücklichsten Mißwachsjahren nicht erlebt haben und mit Gottes Hilfe so lange die Neigung zum Ackerbau noch fortbesteht, auch wohl nicht erleben werden. Eine solche wirkliche Hungersnoth werde es wohl nicht geben, aber die Teuerung könnte für die ärmeren Volksklassen, welche einen noch höheren Preis für ihr erstes und unentbehrlichstes Lebensbedürfniß, für ihr tägliches Brod, nicht zu erschwingen vermögen, die betrübendsten Folgen haben.

Das Ziel ist auf mannigfache Weise erreichbar (Flottwell)

Es sei die Pflicht jedes Ehrenmannes, solchen Extremen vorzubeugen, schickte Flottwell voran und wandte sich dann seinem Adressaten zu, dem Beamten, dessen Beruf ihn mit dem Volke in unmittelbare Berührung bringt, und ihm die Vorsorge für den hülfsbedürftigen Theil desselben zur strengsten Gewissens-Sache macht. Damit war das heraufziehende Problem der kommunalen Ebene, den Kreisen, Städten und Gemeinden zugewiesen, dort sollten Landräte, Amtmänner und Vorsteher tatkräftig Schaden vom großen Ganzen abwenden. – Guten Rat gab es vom Oberpräsidenten, der überzeugt war, dieses Ziel sei auf mannigfache Weise erreichbar.

Keine staatliche Einmischung

Man müsse dazu ...

1. die irrtümliche Vorstellung bekämpfen, der Not könne nur mit Hilfe der Regierung  vorgebeugt werden und es komme nur darauf an, recht viel Geld aus Staats-Kassen herzugeben, um dafür Getreide im Auslande zu kaufen und dasselbe umsonst oder vorschußweise zur Stillung des Hungers herzugeben. Es verrate größte Unkunde zu glauben, dass es überhaupt möglich sei, den Bedarf der Bevölkerung des Preußischen Staats, oder auch nur einiger Provinzen desselben an Brod-Getreide, durch eine Zufuhr aus dem Auslande auch nur auf einen Monat decken. Die staatliche Einmischung würde jede Privat-Spekulation (Handel mit Getreide – Anm. d. Verf.) lähmen und das Übel vergrößern. Eine Ausgleichung zwischen dem Bedarf einiger Gegenden und dem Ueberfluß anderer käme so nicht zustande.

Flottwell bekannte sich zum freien Warenverkehr, der in diesem Jahre durch den Erlaß des Eingangs-Zolles auf fremdes Getreide, so wesentlich befördert ist und von dem er zu allererst die Verminderung des Notstandes erwartete. Gleichzeitig schloss er die Beihülfe des Staats für ganz unvermögende Gemeinden durch vorschußweise Verabreichung von Getreide oder Mehl aus den Militair-Magazinen nicht aus – wie dies in solchen Zeiten durch die landesväterliche Vorsorge unseres Königs statt zu finden pflegt. 

Sparsam wirtschaften wie ein treusorgender Hausvater

2. die Überzeugung begründen, daß mehr als jede äußere Hülfe, die eigene hausväterliche Vorsorge des Familien-Vaters und der Gemeinde-Vorsteher dahin wirken kann, die Gefahr einer Hungersnoth zu beseitigen. Der Oberpräsident riet zur Sparsamkeit und rechnete vor, dass eine fünfköpfige Familie im Jahr etwa 30 Scheffel Brotgetreide verbraucht. Gelänge es, davon fünf Scheffel einzusparen – pro Kopf einen Scheffel – dann könne man in der Provinz Westfalen einen Ernteausfall von eineinhalb Millionen Scheffel ausgleichen, mehr als die Befrachtung von etwa 400 Seeschiffen mit ausländischem Getreide einzuführen im Stande ist. Das sei zumutbar und machbar, versicherte Flottwell, denn es gäbe neben den nur mittelmäßig gerathenen Kartoffeln, noch manche andere Früchte ..., welche sehr füglich als Surrogate für Roggen verwendet und benützt werden können. Er denke hierbei gar nicht mal an den in einigen Gegenden des Münsterlandes in diesem Jahre mit besonders günstigem Erfolg angebauten Buchweizen und die verschiedenen Kohlarten, sondern eher an die in diesem Lande fleißig angebauten ... kleinen Rüben, deren theilweise Verwendung zum Brod im Gemisch von Roggen neuerdings sehr vortheilhaft benutzt und von sachkundigen und erfahrenen Land- und Hauswirthen mit Recht angepriesen worden ist. Der Oberpräsident empfahl noch die Vermischung des Roggenmehls mit verschiedenen Hülsenfrüchten und bemerkte zuversichtlich, dass es wird dem besonnenen und umsichtigen Hausvater überhaupt nicht an Mitteln und Auswegen fehlen [werde], um den Verbrauch des Brod-Roggens zu vermindern. Angesichts der täglichen sonst sehr reichlichen Verzehrung von Brod, hätte der geringe Abzug auf die Sättigung eines Menschen noch keinen Einfluss; es ergäbe sich aber in der Summe der Bevölkerung eine bedeutende Verminderung des Bedarfs an Roggen, die sich auch auf den Preis desselben günstig auswirken werde. – Für diese Zeit nicht unüblich, verband Flottwell seine Einsicht in die Mechanik des Marktes mit dem Bild des treusorgenden Hausvaters, der sachkundig und erfahren wirtschaftet und die Seinen besonnen und umsichtig vor Not bewahrt.

Dem Menschenfreund den Weg weisen

3. dem Wohltätigkeitssinn der wohlhabenden Einwohner dieser Provinz ... eine Richtung geben. Es gäbe schließlich – so der Oberpräsident – noch denjenigen Theil der Einwohner, dem es an dem hinreichenden täglichen Broderwerb überhaupt fehlt und für deren Ernährung die Gemeindeverbände und private Wohltätigkeit aufkommen müssten. Auch diese Menschen würden sich mit einem geringeren Maß an Nahrungsmitteln begnügen müssen. Für Landräte und Gemeindevorsteher eröffne die zweckmäßige Vorsorge für diese leider sehr zahlreiche Volksklasse allerdings ein segensreiches Feld. Den menschenfreundlich Tätigen müsse allerdings der Weg gewiesen werden, auf welchem der Zweck am sichersten erreicht werden kann. Zweifellos sei das bloße Almosengeben nicht geeignet, die Not zu mindern; es würden nur immer neue Quellen derselben, durch Beförderung der Neigung zum Müssiggange und der Völlerei eröffnet.

Arbeit geben und lokale Hilfsvereine gründen

Zweckmäßiger erschiene,  ...

a. die arbeitsfähigen Notleidenden angemessen zu beschäftigen. In Notzeiten sollten Kommunalbeamte die Gutsbesitzer und Gemeinden dazu bewegen, Wege-Anlagen und Meliorationen aller Art ausführen zu lassen und geplante Vorhaben vorzuziehen, für die man sich unter anderen Umständen noch Zeit gelassen hätte. Auch Frauen und Kinder könnten in den dazu geeigneten Gegenden ... durch häusliche Arbeiten, Spinnen Stricken p.p beschäftigt werden. Flottwell erwartete, dass Gutsbesitzer und Gemeinden auf solche Vorschläge gern eingehen werden, wenn sie erkennen, dass ihre vorübergehenden Aufopferungen dem Zweck dienen können, der sehr lästigen Bettelei zu steuern ... und durch angemessene Beschäftigung brodloser Leute, Verbrechen mancher Art vorzubeugen und die Sicherheit des Eigenthums zu befördern.

b. die Gründung von Vereinen, die Nahrungsmittel und Feuerungsbedarf beschaffen  und zu niedrigen (subventionierten) Preisen an die arbeitenden Bedürftigen abgeben. Den ganz arbeitsunfähigen, altersschwachen oder kranken Personen sollten die Vereine durch Verabreichung einer nahrhaften Suppe helfen. Flottwell empfahl, den Eintopf nach der bekannten Rumfordschen Vorschrift[3] aus verschiedenen nahrhaften Vegetabilien zuzubereiten. Die Suppe enthalte weit mehr Nahrungsstoffe ... als eine Quantität Brod von gleichem Gewicht. So sei man in der Lage, den Armen eine Existenz zu gewähren, die sie sich sonst nicht sichern könnten. 

Seine „Zusprache“ richtete der Oberpräsident nicht nur an die zur Vorsorge verpflichteten Männer, sondern auch an die Herren Gutsbesitzer und die wohlhabenden Mitglieder der Stadt- und Landgemeinden. Neben der Anwendung einer weisen Sparsamkeit im Haushalte wünschte sich Flottwell die Erweckung eines durch Handlungen der Menschlichkeit sich äußernden christlichen Mitgefühls. Beides werde sich segensreich für Westfalen auswirken und in der Erinnerung der Einwohner ein erhabenes Bewusstsein zurücklassen. In mehreren Gegenden dieser Provinz werde man dem noch herrschenden Luxus bei Gastgebereien, namentlich bei den sogenannten Gebehochzeiten, Kindtaufs-Schmäusen und ähnlichen Gelegenheiten mit Ernst und Nachdruck entgegenwirken und dabei vorzugsweise den Einfluß der Geistlichkeit in Anspruch nehmen. Abschließend wandte sich Flottwell an die landwirtschaftlichen Vereine. In wenigen Jahren könne die Provinz jeder Besorgniß eines Mangels an Nahrungsmitteln enthoben sein, wenn fruchtbare Ländereien zweckmäßiger bewirtschaftet würden. Man möge vermehrt Getreide, Kartoffeln und Futterkräutern zur besseren Ernährung des Viehstandes anbauen und die sehr ausgedehnten ganz uncultivirten getheilten Marken zum Ackerbau nutzen.

Im Amt Bork erhielt der „zur Vorsorge verpflichtete Mann“, der Amtmann Stojentin, sein Exemplar des Schreibens am 11. Januar 1847 und legte es einen Tag später „Zur Beachtung ad Acta“.

Gemeinden in der Pflicht: Saatkartoffeln für dürftige Grundbesitzer 1847

Im März 1847 ging Flottwell daran, den für das laufende Jahr erwarteten Mangel an Saatkartoffeln (vgl. oben) zu steuern.[4] Für den kommenden Winter (1847/48) fürchtete er um die Ernährung der kleinen Grundbesitzer – dieser zahlreichen Klasse von Einwohnern –  und forderte die Kreisbehörde auf, dafür zu sorgen, dass bis Ende April 1847 dem Bedürfniß an Saatkartoffeln überall abgeholfen ist, und die zu diesem Fruchtbau bestimmten Gärten und Ländereien bestellt worden sind. Der Oberpräsident ging davon aus, dass die Gemeinden im eigenen Interesse Vorsorge treffen werden, weil ihnen andernfalls die hungernde Bevölkerung zur Last fallen würde. Da aber solche Reflexionen nicht immer Eingang finden, in manchen Gemeinden auch wohl eigener Mangel an Saatkartoffeln stattfinden mag, müsse der Landrat den Amtmännern persönlich an Herz legen, daß die Folgen eines in den Wintermonaten zu befürchtenden Mangels zunächst sie selbst treffen werden. Sollten Gemeinden jedoch abgeneigt sein, jetzt die erforderliche Hilfe bei der Beschaffung des Saatguts zu leisten, dann würde das der Staatsbehörde Veranlassung geben, die Verpflichtung der Gemeinden zur Armenpflege ... mit aller Strenge geltend zu machen. In den sehr seltenen Fällen – so Flottwell –, in denen es einer Gemeinde an Kartoffeln und Geld fehlt, könne die Regierung auf Antrag des Landrats  einen angemessenen Vorschuß gegen eine Verpflichtungs-Urkunde der Gemeinde zur Wiedererstattung binnen einem oder zwei Jahren gewähren.

Zu letzterem sollte es im Amt Bork nicht kommen. In den Gemeinden, berichtete der Amtmann, befände sich kein eigentlicher Vorrath an Saatkartoffeln ... vielmehr bei vielen Leuten schon Mangel an Eßkartoffeln. Dennoch habe der geringe Mann die nöthige Fürsorge für die neue Saat getroffen und sollten einige in Verlegenheit geraten, so würden die wohlhabenderen Oeconomen nach Möglichkeit mit Pflanzkartoffeln aushelfen. Stojentin kündigte an, dass er sich im Mai, wenn in hiesiger Gegend die meisten Leute ... mit dem Pflanzen ... beginnen, selbst darum kümmern werde, dass die zum Kartoffelbau gedachten Gärten auch wirklich mit dieser Frucht bestellt werden. Die Frühkartoffeln seien schon überall gepflanzt.[5] 

Die Ortsbehörde vermied, die höheren Ebenen mit der praktischen Lösung der Probleme zu behelligen und gab sich zuversichtlich. Tatsächlich traten Ende April 1847 die Armenvorstände der Gemeinden Selm und Altlünen zusammen und beschlossen, Geld aus dem Grundsteuer-Deckungsfond zur Beschaffung von Saatkartoffeln für dürftige Grundbesitzer zu entnehmen.[6] Nach den Auszahlungslisten[7] erhielten sechs Grundeigentümer je zwei Taler. Acht Grundpächter wurden mit je zwei oder nur einem Taler unterstützt. Dem Landratsamt beehrte sich Stojentin im Juni 1847 auf Anfrage anzuzeigen, daß in den Gemeinden des diesseitigen Amtes den angestellten Ermittelungen nach die Bestellung der Kartoffeln in diesem Jahre überall in gewöhnlicher Weise erfolgt ist und ein Mangel an Saatgut sich nirgend kund gegeben hat.[8]

September 2015
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[1]
Flottwell, Dr. jur. Eduard Heinrich von, *23.7.1786, †25.5.1865, seit dem 15.7.1846 Oberpräsident der Provinz Westfalen bis zur Ernennung Duesbergs am 21.7.1850. – Vgl. Dietrich Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815 – 1918, Münster 1969, S. 82ff, hier S. 86: Erwähnung verdienen auch seine Bemühungen zur Linderung der Hungersnot im Jahre 1846. Fußnote 239 dazu: Grundsätzlich erwartete Flottwell jedoch ..., daß die Kreise und Gemeinden von sich aus den Notstand zu bewältigen suchten. Eine ausreichende Abhilfe könne vom Staat nicht erwartet werden, da diese weder „in seine Principal-Verpflichtungen noch in seine Kräften liege“. 
[2]
StA Selm, AB.1 Nr. 155. 
[3]Benjamin Thompson (Graf von Rumford), ... kleine Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts, Bd. 1, Weimar 1791, S. 254 - digital: Regensburg, Staatliche Bibliothek - 999/97.2094-1 urn:nbn:bvb: 12-bsb 11073060-5: Nach einer mehr als fünfjährigen Erfahrung, welche mir die Beköstigung der Armen zu München gewährte, während welcher Zeit jeder erdenkbare Versuch gemacht wurde, nicht allein in Rücksicht der Wahl der Nahrungs-Mittel, sondern auch in Rücksicht ihrer verschiedenen Vermischungen und Verhältniße, und der mancherley Arten ihrer Zubereitungen in der Küche; ergab sich, daß die wohlfeilste, schmackhafteste und nahrhafteste Speise eine Suppe war, die aus Gerstengraupen, Erbsen, Cartoffeln, Schnitten von feinem Weizenbrod, Weineßig, Salz und Waßer (in gehörigen Verhältnißen) bestand.

[4]
bis [8] StA Selm, AB-1 Nr. 155. 

 
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