aktenlage
Zeitschrift für Regionalgeschichte Selm und Umgebung - ISSN 2366-0686

Dr. Köhler bekommt kein Geld

Christel Gewitzsch

Zwei Rechnungen auf einmal

Zwei Rechnungen über ärztliche Behandlungen reichte der Arzt Dr. Friedrich Köhler, Sohn der früheren Amtmanns, im März 1869 beim Amtmann Föcker ein. Eine Rechnung sollte von dem Borker, die andere von dem Selmer Armenvorstand bezahlt werden. Vorher hatte Dr. Köhler die Pfarrer der Gemeinden als Vorsitzende der Armenvorstände um Begleichung der Rechnungen ersucht, aber in beiden Fällen eine Absage erhalten. Föcker schickte die Rechnungen mit der Aufforderung, sie zu begleichen, erneut an die beiden Vorstände, aber auch er erhielt die Papiere unerledigt zurück.

Der Borker Pfarrer Pröbsting verweigerte die Bezahlung mit der Begründung, der dortige Armenvorstand habe Herrn Hilgenberg als Armenarzt angestellt und könne und dürfe deshalb Rechnungen anderer Ärzte nicht bezahlen. Die Selmer schrieben: Daß der hiesige Armen Vorstand nicht in der Lage ist, die in anliegender Rechnung  geforderten Gelder zu bewilligen, da die ärztliche Behandlung des p. Meier ohne Auftrag Seitens des Armen Vorstands geschehen ist.(1)

Föcker versuchte es daraufhin bei dem Selmer Gemeindevorsteher Hagen, genannt Göcken. Er erteilte ihm den Auftrag, die Gemeinde-Vertretung zu hören, ob sie geneigt ist, die von Dr. Köhler berechneten Deserviten [Gebühren] für Behandlung des Heinrich Meier auf die Gemeindekasse zu übernehmen. Die Gemeindevertreter kannten natürlich schon die Reaktion ihres Armenvorstands, ein Eingesessener war in beiden Gremien Mitglied, und lehnten es ebenso ab, die Rechnung zu bezahlen, da Herr Köhler zur Behandlung des p. Meier von [ihnen] nicht beauftragt gewesen war.


Eine Fußamputation

Dreizehn Jahre vorher war dem Arzt Dr. Köhler schon mal Ähnliches passiert. Er hatte Johann Bernard Overmann aus Hassel einen Fuß amputiert (in den ersten Schreiben ist vom Unterschenkel die Rede) und vom Armenvorstand 29 Taler und 14 Silbergroschen dafür eingefordert. Auch damals war er mit der Begründung, keinen Auftrag zu der Behandlung gehabt zu haben, beschieden und nicht bezahlt worden.

Fünf Jahre später meldete sich der Rentmeister des Sandforter Schlosses Geissel beim Amtmann und bat um die Erstattung dieses Betrages, den er dem Arzt vorgestreckt hatte. Der Rentmeister bestand darauf, dass Pfarrer Pröbsting den Auftrag zur Amputation erteilt hatte und benannte als Zeugen die Ehefrau und den Sohn des Kolon Richter in Hassel.  Bei Amtmann Foecker schienen Zweifel an der Behauptung des Pfarrers aufzukommen. Bevor er die Zeugen zur Vernehmung einbestellte, bat er Pröbsting, noch mal zu überlegen, ob er den Dr. Köhler nicht doch beauftragt habe, denn in diesem Fall dürfe der Armenvorstand bei der notorischen Armuth des Overmann die Zahlung der berechneten Kosten nicht verweigern.(2)

Pröbsting antwortete ausführlich und verwies darauf, dass diese Streitsache vor langer Zeit schon beim Kreisgericht in Lüdinghausen behandelt und zu einem Abschluss gekommen war. Dass der Rentmeister nun auf polizeilichem Wege versuchte, an das Geld zu kommen, verwunderte ihn. Der Pfarrer blieb bei der Aussage, die er schon vor Gericht gemacht hatte und schrieb: Indessen erkläre ich auch jetzt noch, wie ich schon vor Jahren in dieser Sache beim Kreisgericht zu Protokoll gegeben habe, nämlich, daß ich den Dr. Köhler keinen speciellen Auftrag gegeben habe, den kranken Fuß des Tagelöhners Johann Bernard Overmann in Hassel zu amputiren. Daraus sehen Sie, daß die Aussage des p Geissel auf Irrthum beruhet. Mit dem Dr. Köhler habe ich von der Amputation weder mündlich noch schriftlich unterhandelt. Ja ich erhielt nicht eher Kenntniß davon, daß der p Köhler den Fuß des Joh. Bernard Overmann abnehmen wollte als ich von Richters aus in Hassel ersucht wurde, dem Joh. Bernard Overmann die H. Sacramente zu bringen, weil der p Köhler gesagt hatte, er würde den Fuß nicht eher abnehmen, als der Kranke versehen sei. Overmann selber habe den Arzt beauftragt und er, Pröbsting, damals nichts dagegen einzuwenden gehabt, weil Overmann zu der Zeit dem Armenvorstand noch nicht gemeldet worden war. War indessen der p Overmann wirklich arm, so hatte derselbe sich an den hiesigen Armen-Arzt den verstorbenen Füchten, der ihn damals in Behandlung hatte, zu wenden.

Die beiliegende Rechnung des Arztes fand Pröbsting nicht spezifiziert genug. Bei der Verhandlung vor dem Kreisgericht hatte eine andere Rechnung vorgelegen, aus der die Anschaffung eines Gummifußes für Overmann ersichtlich war. Pröbsting erklärte: Es ist unbegreiflich, wie der Dr. Köhler, welcher hier nicht der Armen-Arzt war, auch keinen speciellen Auftrag vom Armen-Vorstand hatte, einen kostbaren Gummi-Fuß für den J. B. Overmann in Hassel hat kommen lassen können, noch unbegreiflicher ist es, wie dieser Mann die Frechheit haben kann, nachträglich den Armen-Vorstand auf gerichtlichem Wege nöthigen zu wollen, für diesen Gummifuß (ein ganz unnützes Ding für p Overmann) Zahlung zu leisten.

Nach diesem Brief des Pfarrers verzichtete der Amtmann auf die Befragung der Zeugen, vielleicht auch deshalb, weil Pröbsting am Schluss seines Schreibens ankündigte, die Zeugen, falls diese die vorliegende Sache anders wissen wollen, ... nöthigen werde, ihre Aussage vor dem Gerichte eidlich [zu] erhärten.

In dem abschließenden und ablehnenden Bescheid für den Sandforter Rentmeister übernahm Amtmann Foecker die Darstellung des Pfarrers komplett. Nur vom Gummifuß schrieb er nichts. Dem Rentmeister stellte er anheim, gegen den Pfarrer Pröbsting gerichtlich einzuschreiten, um von ihm persönlich das Geld einzutreiben; denn auch wenn sich des Rentmeisters Aussage als wahr erwiese, müsse nicht der Armenvorstand zahlen, sondern höchsten Pröbsting selbst.

Doktor Müller wird auch nicht bezahlt

Ein anderer Arzt, der auf seiner Rechnung sitzenblieb, war Doktor Müller aus Waltrop. Er reichte 1851 ein Gesuch an den Borker Armenfond, denn er hatte den Anstreicher Zissing aus Bork und seine Frau Antonette 1847 und 1848 behandelt. Damals hatten die beiden versucht, in Waltrop eine Wohnung zu finden. Als dies nicht gelang und sie wieder nach Bork zogen, baten sie den Arzt, sie behufs ärztlicher Verordnungen in Bork zu besuchen.

Zu Beginn der Behandlung wusste der Arzt nicht, dass die Patienten nicht selber zahlen konnten. Als sie ihm später erklärten, der Borker Armenfond sei für sie zuständig, zweifelte Doktor Müller nicht daran und leistete sogar Bürgschaft für verordnete Medicamente beim [Waltroper] Apotheker Herrn Sander. Als er dann aber hören musste, dass der Armenvorstand nicht geneigt war, einen auswärtigen Arzt zu bezahlen, stellte Müller die Behandlung ein. Trotzdem versuchte er, theils in Berücksichtigung der verzweifelten eigenthümlichen Umstände, theils der geringen Summen wegen, an sein Geld zu kommen. Auch deshalb, weil er über die Frau gehört hatte, daß die Gemeinde für ihre Existenz, weil sie Krüppel ist, Sorge trüge.

Mit dieser Einschätzung lag Doktor Müller durchaus richtig. Die Gemeinde Bork zahlte für Antonette Zissing Unterkunft und Verpflegung und wies sie 1849 in eine Wohnung ein, in der sie genug Ruhe hatte, um durch Handarbeiten zu ihrem Unterhalt beitragen zu können. Aber Arztkosten wurden nur für den in Bork engagierten Armenarzt akzeptiert.

Was hatte es mit den Armenärzten auf sich?(5)

Viele Ärzte bemühten sich bei ihrer Ansiedlung in einer Gemeinde, als Armenarzt fungieren zu können. Damit war ein fester Zuschuss verbunden, den sie als Grundlage für ihr Einkommen gerne entgegennahmen. 1832 behandelte Bürgermeister Köhler diese Frage in Bork noch sehr diskret, als er dem ansiedlungswilligen Doktor Ridder aus Nienborg, Kreis Ahaus, schrieb, wegen der Armen so will ich Ihnen das Verhältniß mündlich mittheilen.(3) 1888, als der damalige Amtmann Döpper über das Berliner Auskunftsbureau der ärztlichen Bezirks-Vereine Mediziner zu Ansiedlung in Bork motivieren wollte, warb er u.a. mit der Zusicherung: Die Gemeinde Bork wird für die Armenpraxis in der Gemeinde ein Fixum von 300 M jährlich und die Ortskrankenkasse ebenfalls ein Fixum zahlen.

Doch in diesem Fixum lag auch die Crux dieser Einrichtung, was 1847 dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten auffiel. Bei ihm waren bittre Klagen über die Lieblosigkeit mancher Armen-Aerzte(4) eingetroffen. Die anlockende Sicherheit einer fixen Besoldung, die Hoffnung, durch die Mittelstufe eines Armen-Bezirks auch dem wohlhabenden Publikum bekannt zu werden, endlich der Wunsch, bei armen Kranken Manches zu erproben, was man bei zahlungsfähigen nicht wagen darf, überhaupt: Geldgewinn und wissenschaftliches Experimentiren werden als diejenigen Motive bezeichnet, welche bei vielen Bewerbungen um die Armen-Arzt-Stellen sich vorzugsweise geltend machen sollen.

Bei den Medizinern, die sich um eine Landarztstelle bemühten, ging es wohl weniger um das Experimentieren als um die in Aussicht gestellte Absicherung. An die Verwaltung ging der Appell, bei der Auswahl und Kontrolle dieser Ärzte sorgfältig vorzugehen, besonders auch deshalb, weil anzunehmen war, dass viele Arme es selbst nicht wagten, über ihre Behandlung zu klagen, weil sie befürchteten, daß eine unmittelbare Beschwerde ihr Loos nicht selten verschlechtern könnte.

Zur Behebung der Übelstände, wozu auch Verleumdungen gegenüber den Armenärzten zählten, verordnete das Ministerium sieben Maßregeln. Neben der sorgfältigen Auswahl, bei der ganz besonders auf die herzvolle Theilnahme des Candidaten an dem Loos der Armen Rücksicht zu nehmen war, sollte die Ernennung nur provisorisch erfolgen und den Ärzten gleich zu Beginn eröffnet werden, dass ihre Arbeit, ihr Fleiß und ihr Benehmen überwacht werden. Beschwerden über sie seien auf das strengste zu untersuchen, damit die Schuld oder Unschuld ins Klare gestellt werde. Der Minister forderte jährlichen Bericht über eventuelle Untersuchungen gegen Armenärzte und gleichzeitig Informationen über besondere verdienstvolle Handlungen von Medizinal-Personen im Gebiete der Armen-Krankenpflege. Diese angekündigten Überprüfungen werden einem nachlässig arbeitenden Armenarzt auf dem Lande keinen Schrecken eingejagt und eine geringschätzige Behandlung der Patienten nicht verhindert haben, denn der Run auf Arztstellen war nicht allzu groß und oft waren die Gemeinden froh, überhaupt einen Arzt in ihren Reihen zu haben.

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient konnte durch die Verpflichtung des Armenarztes, der lokalen Polizeibehörde zuzuarbeiten, zusätzlich beschädigt werden. Neben seiner Mitbestimmung bei der Höhe der Unterstützung und der zumutbaren Arbeit für den Kranken, sollte er Simulanten entlarven und melden, aber auch auf Verwahrlosung von Kindern und unhygienische Wohnverhältnisse aufmerksam machen.

Februar 2022
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1. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 337.
2. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 316.
3. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 491.
4. und folgende Zitate: StA Selm, AB-1 – 319.

5. zu diesem Thema siehe auch: Die Lieblosigkeit mancher Armenärzte. >

 
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